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BFH-Urteil vom 5.12.1979 (II R 56/76) BStBl. 1980 II S. 208

Eine vor einem anderen Gericht stattfindende mündliche Verhandlung über einen Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Verfügung ist für das FG ein erheblicher Grund für eine Terminsverlegung. Führt das FG dennoch in Abwesenheit des Steuerpflichtigen bzw. seines Bevollmächtigten die mündliche Verhandlung durch, so gebietet die darin liegende Verletzung des rechtlichen Gehörs die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung; eine Sachentscheidung ist dem Revisionsgericht verwehrt.

GG Art. 103 Abs. 1; FGO § 96, § 119 Nr. 3, § 126 Abs. 3 Nr. 2, Abs. 4; ZPO § 227.

Sachverhalt

I.

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) kaufte mit notariell beurkundetem Vertrag vom 9. August 1963 das Grundstück F 13 in I. Nachdem sie eine Verpflichtungserklärung gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1, § 6 Abs. 1 des Schleswig-Holsteinischen Gesetzes über die Befreiung von der Grunderwerbsteuer bei Maßnahmen des sozialen Wohnungsbaues und bei Maßnahmen aus dem Bereich des Bundesbaugesetzes i. d. F. vom 28. Juni 1962 - GrESWG - (Gesetz- und Verordnungsblatt 1962 S. 265 - GVBl 1962, 265 -, BStBl I 1962, 163) abgegeben hatte, hob der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) einen zuvor erlassenen Grunderwerbsteuerbescheid auf, stellte den Erwerb gemäß § 1 GrESWG von der Steuer frei und erteilte am 13. November 1963 die Unbedenklichkeitsbescheinigung.

Die Verkäuferin weigerte sich, die Auflassung zu erklären. Es kam zu zahlreichen Rechtsstreitigkeiten. Die Klägerin erreichte die Verurteilung der Verkäuferin zur Auflassung und zur Bewilligung der Eigentumsumschreibung im Grundbuch. Das diesen Rechtsstreit abschließende Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) wurde am 22. September 1972 verkündet. Von der Verkäuferin erhobene Verfassungsbeschwerden hatten keinen Erfolg. Die Klägerin wurde am 15. November 1972 als Eigentümerin in das Grundbuch eingetragen.

Das FA setzte mit Nachversteuerungsbescheid vom 6. Januar 1975 Grunderwerbsteuer (einschließlich eines Zuschlags von 50 v. H.) fest.

Die Klägerin machte dagegen geltend, sie habe die Bebauungsfrist des § 6 Abs. 2 GrESWG ohne eigenes Verschulden infolge der ihr von der Verkäuferin bereiteten Schwierigkeiten nicht einhalten können. Da u. a. wegen eines von ihr, der Klägerin, im Jahre 1963 erklärten Rücktritts ungewiß gewesen sei, ob ihr der Übereignungsanspruch aus dem Vertrag noch zugestanden habe, könne die Steuer nicht aufgrund des Vertrages vom 9. August 1963 nacherhoben werden; vielmehr habe die Frist des § 6 Abs. 2 GrESWG mit der Auflassung erneut zu laufen begonnen. Jedenfalls liege in der Nachversteuerung eine unbillige Härte.

Das FA wies den Einspruch als unbegründet zurück, nachdem es den Erlaßantrag durch eine selbständige Entscheidung abgelehnt hatte. Die Klägerin erhob gegen den Nachversteuerungsbescheid Klage.

Das Finanzgericht (FG) hat die Klägerin am 1. März 1976 und ihren Generalbevollmächtigten am 27. Februar 1976 jeweils durch Postzustellungsurkunde (PZU) zu dem auf den 23. März 1976 anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung geladen. Am 23. März 1976 ging bei dem FG ein Schreiben des Generalbevollmächtigten der Klägerin vom 22. März 1976 ein, mit dem um "Aufhebung und Verlegung" des Termins mit der Begründung gebeten wurde, die Verkäuferin des Grundstücks habe durch den Einbau neuer Türen mit Sicherheitsschlössern den Besitz und die Nutzung der Klägerin beeinträchtigt und über die hiergegen erhobene Klage und einen Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Verfügung solle vor dem Amtsgericht am 23. und 24. März 1976 mündlich verhandelt werden; überraschend sei die persönliche Anwesenheit des Generalbevollmächtigten bei diesem Termin erforderlich geworden, da der Anwalt erst am 22. März 1976 aus dem Urlaub zurückgekehrt sei. Die Vorbereitung und die Wahrnehmung des Termins seien existenznotwendig.

Das FG hat die Klage als unbegründet abgewiesen.

Zu dem Terminsverlegungsantrag hat es in der angefochtenen Entscheidung ausgeführt, die geltend gemachten Vertagungsgründe seien nicht erheblich, da nicht ersichtlich sei, weshalb der gleichzeitig vor dem Amtsgericht I stattfindende Termin wichtiger sein solle als der finanzgerichtliche Termin. Die Klägerin habe nicht dargelegt, welche Umstände ihr Erscheinen vor dem Amtsgericht existenznotwendig machten. Zumindest hätte ihr Prozeßbevollmächtigter zum FG kommen können. Es habe ausreichend Gelegenheit bestanden, sich schriftlich zu äußern. Der Verlegungsantrag lasse nicht erkennen, daß die Klägerin über das schriftsätzlich Vorgetragene hinaus habe Ausführungen machen wollen oder besonderen Wert auf die mündliche Verhandlung gelegt habe. Hinzu komme, daß die Klägerin die geltend gemachten Gründe nicht glaubhaft gemacht habe.

Mit ihrer Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren auf Aufhebung des Nachversteuerungsbescheides bzw. Erlaß der Grunderwerbsteuer weiter. Sie rügt darüber hinaus Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör wegen der Ablehnung ihres Terminsverlegungsantrags durch das FG.

Die Klägerin beantragt sinngemäß, die Vorentscheidung und die Steuerfestsetzung aufzuheben.

Das FA hat dem Antrag der Klägerin widersprochen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision der Klägerin führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

Das FG hat der Klägerin das Recht auf Gehör verweigert (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG -), indem es den Termin zur mündlichen Verhandlung nicht verlegte; die Vorentscheidung war daher als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend aufzuheben (§ 119 Nr. 3 FGO).

Nach § 155 FGO i. V. m. § 227 Abs. 1 und Abs. 3 der Zivilprozeßordnung (ZPO) kann das Gericht "aus erheblichen Gründen" auf Antrag oder von Amts wegen einen Termin aufheben oder verlegen. Liegen erhebliche Gründe vor, verdichtet sich die in dieser Vorschrift eingeräumte Ermessensfreiheit zu einer Rechtspflicht, d. h. der Termin muß zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs verlegt werden, selbst wenn das Gericht die Sache für entscheidungsreif hält und die Erledigung des Rechtsstreits durch die Verlegung verzögert wird (Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 14. Oktober 1975 VII R 150/71, BFHE 117, 19, BStBl II 1976, 48, und vom 24. November 1976 II R 28/76, BFHE 121, 132, BStBl II 1977, 293). Welche Gründe als erheblich i. S. des § 227 ZPO anzusehen sind, richtet sich je nach Lage des Einzelfalles, nach dem Prozeßstoff und den persönlichen Verhältnissen des Beteiligten bzw. seines Prozeßbevollmächtigten (Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 25. Januar 1974 10 RV 375/73, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1974 S. 465 - HFR 1974, 465 -).

Eine Terminsverlegung ist nicht ohne weiteres geboten, wenn der Kläger oder sein Prozeßbevollmächtigter vortragen, zum angesetzten Verhandlungstermin anderen Gerichtsterminen nachkommen zu müssen. Im Streitfall hat die Klägerin jedoch mitgeteilt, sie und ihr Generalbevollmächtigter seien durch eine mündliche Verhandlung vor dem Amtsgericht in I, in der über eine "Klage und eine einstweilige Verfügung wegen Besitzstörung" verhandelt werden solle, verhindert, vor dem FG zu erscheinen. Damit hat die Klägerin einen erheblichen Grund i. S. des § 227 ZPO geltend gemacht.

Verfahren zur Erwirkung einer einstweiligen gerichtlichen Verfügung sind eilbedürftig (vgl. §§ 935, 940 ZPO). Veranlaßt der Antragsteller in einem solchen Verfahren die Verlegung eines anberaumten Termins, in dem über den Erlaß der einstweiligen Verfügung verhandelt werden soll, so gefährdet er den Erfolg seines Rechtsschutzbegehrens. Der Klägerin konnte mithin nicht zugemutet werden, eine Verzögerung des Eilverfahrens zur Beseitigung der (von ihr behaupteten) Besitzstörung und eine Gefährdung ihres Begehrens auf einstweilige Regelung durch Verlegung des Termins vor dem Amtsgericht in Kauf zu nehmen. Das FG war demgemäß verpflichtet, den Verhandlungstermin in der Streitsache zu verlegen.

Dadurch, daß das FG dem Verlegungsantrag der Klägerin nicht entsprach, sondern die mündliche Verhandlung ohne sie und ihren Bevollmächtigten durchführte, verletzte es das Recht der Klägerin auf Gehör. Die Beteiligten haben nur in der mündlichen Verhandlung durch den Vortrag des Streitstandes (§ 92 Abs. 2 FGO) und die anschließende Erörterung der Sache (§ 93 Abs. 1 FGO) Gelegenheit, sich davon zu überzeugen, daß ihr Begehren vom Gericht richtig aufgefaßt worden ist. Deshalb bezieht sich das Recht auf Gehör auch darauf, in der mündlichen Verhandlung zu Rechtsausführungen der übrigen Beteiligten und (geäußerten oder erkennbaren) Rechtsmeinungen des Gerichts Stellung zu nehmen und selbst Rechtsausführungen machen zu dürfen (BFHE 121, 132, BStBl II 1977, 293). Zwar führt die Verletzung des Rechts auf Gehör dann nicht zur Zurückverweisung der Sache, wenn der Verfahrensfehler nur einzelne tatsächliche Feststellungen betraf, auf die es in revisionsrichterlicher Betrachtung unter keinem denkbaren Gesichtspunkt ankommen konnte (Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. August 1962 VIII C 49.60, BVerwGE 15, 24). Wird einem Beteiligten jedoch, wie im Streitfall, die Möglichkeit verschlossen, sich zu dem entscheidungserheblichen Sachverhalt - dem Gesamtergebnis des Verfahrens i. S. des § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO - zu äußern, so kann das Revisionsgericht das angefochtene Urteil auf seine sachlich-rechtliche Richtigkeit nicht überprüfen, weil das Gesamtergebnis des Verfahrens i. S. des § 96 Abs. 1 FGO verfahrensrechtlich fehlerhaft die Grundlage der Entscheidung geworden ist. Die angefochtene Entscheidung ist vielmehr als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend nach § 119 Nr. 3 FGO, § 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO aufzuheben (BFH-Urteile vom 30. September 1966 III 70/63, BFHE 87, 60, BStBl II 1967, 25; vom 22. Mai 1979 VIII R 93/76, BFHE 128, 310, BStBl II 1979, 702). Eine Sachentscheidung ist dem Revisionsgericht verwehrt.