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BFH-Urteil vom 29.4.1982 (IV R 52/81) BStBl. 1982 II S. 715

1. Eine nichteheliche Lebensgemeinschaft ist keine Familie i. S. von § 181 Abs. 1 ZPO und kann ihr auch nicht gleichgestellt werden.

2. Soll mit der Zustellung eine Ausschlußfrist zur Vorlage einer Prozeßvollmacht in Lauf gesetzt werden, so wird ein Zustellungsmangel nicht dadurch geheilt, daß der Zustellungsadressat das Schriftstück nachweislich erhalten hat.

ZPO § 181 Abs. 1; VwZG § 9 Abs. 1 und 2; VGFG-EntlG Art. 3 § 1.

Vorinstanz: FG Baden-Württemberg

Sachverhalt

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) unterhielt einen Gewerbebetrieb. Da sie keine Steuererklärungen abgab, schätzte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) den Gewinn aus diesem Gewerbebetrieb für das Jahr 1977 und stellte ihn gesondert fest. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.

Im Verfahren vor dem Finanzgericht (FG) trat für die Klägerin B als Bevollmächtigter auf. Der Berichterstatter forderte ihn zur Einreichung seiner Prozeßvollmacht auf und setzte hierfür eine Frist von einem Monat. Das Schreiben enthält den Hinweis, daß die Frist gemäß Art. 3 § 1 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit (VGFG-EntlG) vom 31. März 1978 (BGBl I, 446, BStBl I, 174) ausschließende Wirkung habe und mit der Zustellung des Schreibens zu laufen beginne. Ausweislich der Postzustellungsurkunde wurde das Schriftstück, da der Empfänger selbst in der Wohnung nicht angetroffen wurde, dort am 28. Oktober 1980 der in der Familie dienenden Erwachsenen, Frau M, übergeben. B bestätigte dem Gericht mit einem Schreiben vom 17. November 1980, daß er die am 28. Oktober 1980 zugestellte Aufforderung erhalten habe, kam ihr in der Folge aber nicht nach. Das FG wies daraufhin die Klage als unzulässig ab.

Hiergegen richtet sich die Revision der Klägerin. Sie macht geltend, daß das FG keine wirksame Ausschlußfrist für die Vorlegung der Vollmacht gesetzt habe. Der Inhalt des Schreibens ergebe nicht eindeutig, daß eine Ausschlußfrist gewollt sei. Die Aufforderung sei auch nicht ordnungsgemäß zugestellt worden. Frau M habe nicht in der Familie des B gedient. Daß sie bei ihm gewohnt habe und später seine Ehefrau geworden sei, habe keine Familienzugehörigkeit begründet. Die Klägerin hat in der Revisionsinstanz die Prozeßvollmacht für B nachgereicht.

Die Klägerin beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.

Nachdem die Klägerin in der Revisionsinstanz die Prozeßvollmacht für ihren früheren Bevollmächtigten B nachgereicht hat, muß das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen werden (BFH-Urteil vom 1. April 1971 IV R 208/69, BFHE 102, 442, BStBl II 1971, 689, mit weiteren Nachweisen). Die Nachreichung der Vollmacht wäre allerdings unbeachtlich, wenn der Bevollmächtigte eine ihm gemäß Art. 3 § 1 VGFG-EntlG gesetzte Ausschlußfrist zur Vorlegung der Vollmacht versäumt hätte (BFH-Urteil vom 11. Januar 1980 VI R 11/79, BFHE 129, 305, BStBl II 1980, 229). Eine solche Frist wollte der Berichterstatter dem Bevollmächtigten auch setzen, wie sich aus dem Hinweis auf Art. 3 § 1 VGFG-EntlG in seinem Schreiben ergibt. Die Fristsetzung ist jedoch wirkungslos geblieben, weil die Anordnung nicht ordnungsgemäß zugestellt worden ist.

a) Nach § 53 Abs. 1 und 2 FGO werden Anordnungen, durch die eine Frist in Lauf gesetzt wird, nach den Vorschriften des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) zugestellt. Da die Zustellung durch die Post mit Zustellungsurkunde erfolgen sollte, gelten für die Zustellung durch den Postbediensteten die Vorschriften der §§ 181 ff. der Zivilprozeßordnung - ZPO - (§ 3 Abs. 3 VwZG). Da B als Zustellungsadressat nicht angetroffen wurde, konnte die Zustellung in seiner Wohnung an einen zur Familie gehörenden erwachsenen Hausgenossen oder an eine in der Familie dienende erwachsene Person erfolgen (§ 181 Abs. 1 ZPO). Zu diesen Personengruppen zählte Frau M, der das Schriftstück durch den Postbediensteten übergeben wurde, jedoch nicht.

Wie zwischen den Beteiligten unstreitig ist, lebte Frau M zur Zeit der Zustellung mit B in einem eheähnlichen Verhältnis, das später zur Heirat geführt hat. Sie war von B nicht für Dienstleistungen angestellt und damit keine in seiner Familie dienende Person. Daß der Postbedienstete sie dafür gehalten und sie in der Postzustellungsurkunde so bezeichnet hat, ist unerheblich; insoweit ist der Urkundeninhalt widerlegt (§ 418 Abs. 2 ZPO). Bei Frau M handelte es sich auch nicht um einen zur Familie des B gehörenden erwachsenen Hausgenossen i. S. von § 181 Abs. 1 ZPO. Ob auch eine nichteheliche Lebensgemeinschaft als Familie i. S. dieser Vorschrift angesehen oder ihr gleichgestellt werden kann, ist umstritten (dafür: Urteil des Reichsgerichts - RG - vom 5. Juni 1930 II A 376/29, Mrozek-Kartei, Reichsabgabenordnung - 1930 -, § 70, Rechtssprüche 17 und 18; Urteil des Landgerichts Flensburg vom 16. September 1981 4 0 95/81, Monatsschrift für Deutsches Recht - MDR - 1982, 238; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 10. Aufl., § 3 VwZG Tz. 5; Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 3 VwZG Rdnr. 4; dagegen: Urteil des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 24. Oktober 1957 II C 41/57, Deutsches Verwaltungsblatt - DVBl - 1958, 208; Beschluß des Oberlandesgerichts - OLG - Hamm vom 15. Dezember 1980 6 Ws 232/80, Justizministerialblatt für das Land Nordrhein-Westfalen - JMBl NW - 1981, 143; Thomas-Putzo, Zivilprozeßordnung, 11. Aufl., § 181 Anm. 2c; Eyermann-Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, 8. Aufl., § 56 Rz. 5). Der Senat verneint diese Frage.

Als Familie werden nach allgemeinem Sprachgebrauch und nach den Vorstellungen des das Familienrecht enthaltenden Vierten Buchs des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) die durch Ehe oder Verwandtschaft verbundenen Personen angesehen. Die Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft zählen nicht hierzu. Die nichteheliche Lebensgemeinschaft kann auch nicht durch erweiternde Auslegung einer Familie gleichgestellt werden. § 181 Abs. 1 ZPO sieht eine Ersatzzustellung weder an den Mitinhaber einer Wohnung noch allgemein an in die Wohnung aufgenommene Personen vor und stellt auch nicht darauf ab, ob zwischen ihnen und dem Zustellungsadressaten eine Haushalts- oder Wirtschaftsgemeinschaft besteht. Die Beschränkung der Ersatzzustellung auf Mitglieder des rechtlich geordneten Familienverbandes sowie auf Dritte, die als Hausgenossen in diesen Familienverband aufgenommen sind, soll ersichtlich gewährleisten, daß der Zustellungsadressat in den Besitz des zugestellten Schriftstücks gelangt; außerdem wird dadurch dem Zustellenden die Feststellung der für die Ersatzzustellung geeigneten Personen erleichtert. Die zuweilen schwerwiegenden Folgen einer Ersatzzustellung für den Zustellungsempfänger verlangen es, auf objektive, äußerlich erkennbare Merkmale abzustellen. Sie sind im Falle der nichtehelichen Lebensgemeinschaft nicht gegeben. Welche Formen des Zusammenlebens als eine der Ehe ähnliche Lebensgemeinschaft anzusehen sind, läßt sich nicht ohne weiteres sagen; hierzu müßte jeweils auf die Gemeinsamkeit der Lebensführung sowie auf die Dauer und Ausschließlichkeit der Beziehungen abgestellt werden (Simon, Juristische Schulung - JuS - 1980, 252 mit weiteren Nachweisen). Solche Feststellungen lassen sich im Rahmen einer Ersatzzustellung nicht treffen. Etwas anderes mag gelten, wenn ein Partner in die Familie des anderen aufgenommen und dort Hausgenosse wird. So liegen die Verhältnisse im Streitfall aber nicht.

b) Der Zustellungsmangel ist auch nicht dadurch geheilt, daß B das fehlerhaft zugestellte Schriftstück tatsächlich erhalten hat. Nach § 9 Abs. 1 VwZG gilt zwar ein unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangenes Schriftstück als in dem Zeitpunkt zugestellt, in dem es der Empfangsberechtigte nachweislich erhalten hat. Nach § 9 Abs. 2 VwZG ist diese Bestimmung jedoch nicht anzuwenden, wenn mit der Zustellung eine Frist für die Erhebung der Klage, eine Berufungs-, Revisions- oder Rechtsmittelbegründungsfrist beginnt; in solchen Fällen wird der Zustellungsmangel nicht geheilt. Hierzu rechnet auch der Fall, daß mit der Zustellung eine Ausschlußfrist nach Art. 3 § 1 VGFG-EntlG zu laufen beginnt.

§ 9 Abs. 2 VwZG enthält keine abschließende Regelung jener Fälle, in denen die Heilung eines Zustellungsmangels ausgeschlossen ist. Die Vorschrift gibt vielmehr einen allgemeinen Rechtsgedanken wieder, der zumindest bei allen Rechtsmittelfristen die Anwendung des § 9 Abs. 1 VwZG ausschließt (BVerwG-Beschluß vom 16. Dezember 1965 VIII B 65/65, BVerwGE 23, 89; ähnlich BFH-Beschluß vom 22. November 1976 GrS 1/76, BFHE 121, 9, BStBl II 1977, 247). Die Zustellungsfiktion kann auch bei der Setzung von Ausschlußfristen durch das Gericht nicht wirksam werden. Eine solche Frist kann einschneidende Folgen für den säumigen Prozeßbeteiligten nach sich ziehen. Ihre Anwendung bedarf in besonderem Maße der Rechtsklarheit. Über Beginn und Ende der Frist muß deshalb bereits bei Beginn der Frist Gewißheit bestehen (BVerfG-Beschluß vom 9. Februar 1982 1 BvR 1379/80, noch nicht veröffentlicht). Das ist bei Anwendung des § 9 Abs. 1 VwZG nicht gewährleistet, weil es in diesem Fall von dem Verhalten des Zustellungsempfängers und ggf. von dem Ergebnis einer Beweisaufnahme abhängt, ob und wann die Frist begonnen hat.

Mit gleichartigen Erwägungen hat bereits der Bundesgerichtshof (BGH) die Heilung eines Zustellungsmangels hinsichtlich der vom Gericht für das Parteivorbringen gesetzten Frist (§§ 273 Abs. 2 Nr. 1, 296 ZPO) für ausgeschlossen gehalten, obwohl § 187 Satz 1 ZPO eine dem § 9 Abs. 1 VwZG entsprechende Vorschrift enthält und die Ausnahmebestimmung des § 187 Satz 2 ZPO sich bei wörtlicher Auslegung nicht auf den Fall der richterlichen Fristsetzung erstreckt (BGH-Urteil vom 13. März 1980 VII ZR 147/79, BGHZ 76, 236). Entsprechendes muß für die Anwendung des § 9 VwZG gelten, der dem § 187 ZPO nachgebildet ist (vgl. Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 9. November 1976 GmSOGB 2/75, BStBl II 1977, 275; BFH-Urteil vom 9. Dezember 1980 VIII R 122/78, BFHE 132, 380, BStBl II 1981, 450).