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BFH-Urteil vom 26.7.1983 (VIII R 28/79) BStBl. 1984 II S. 290

1. Nimmt das Wohnsitz-FA seine Zuständigkeit zur Entscheidung einer in das gesonderte Feststellungsverfahren gehörenden Frage in Anspruch und meint es dabei zu Unrecht, eine gesonderte Feststellung der Besteuerungsgrundlage sei nicht erforderlich, so ist bei einem Streit über die Besteuerungsgrundlage nicht in dem anhängigen Verfahren über den Steuerbescheid, sondern in einem Verfahren zur gesonderten Feststellung der Besteuerungsgrundlage zu entscheiden.

2. Bei einem Streit über die Rechtmäßigkeit des Steuerbescheids (Nr. 1) muß das FG das Klageverfahren gemäß § 74 FGO aussetzen, um den Ausgang eines Verfahrens der gesonderten Feststellung abzuwarten.

AO 1977 § 155 Abs. 2, § 162 Abs. 3, § 180 Abs. 1 Nr. 2a, § 180 Abs. 3, zweite Alternative; FGO § 74.

Vorinstanz: FG Düsseldorf

Sachverhalt

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute, die im Streitjahr 1967 zur Einkommensteuer zusammenveranlagt wurden.

Der Kläger - Ehemann - und sein Bruder waren Gesellschafter der S-GmbH. Beide Gesellschafter überließen nach einem "Aufbau- und Nutzungsvertrag" vom 2. Mai 1955 ein ihnen je zur Hälfte gehörendes Grundstück der S-GmbH zur Nutzung. Nach dem Vertrag war die S-GmbH berechtigt, auf dem Grundstück ein Gebäude nebst Betrieb zu errichten. Das Nutzungsrecht wurde auf die Dauer von 12 Jahren eingeräumt. Danach sollte das Recht entschädigungslos erlöschen. Die S-GmbH hatte während der Nutzungszeit alle Kosten und Lasten für das Gebäude zu tragen. In Ausführung dieses Vertrages errichtete die S-GmbH 1955 ein Geschäftsgebäude, dessen Wert sie in ihren Bilanzen aktivierte und auf die Dauer von 12 Jahren abschrieb. Der Kläger und sein Bruder bewohnten seit 1957 die im zweiten und dritten Obergeschoß des Geschäftsgebäudes befindlichen Wohnungen und zahlten dafür ab 1. Januar 1958 bis zum Auslaufen des Nutzungsvertrages an die GmbH einen monatlichen Mietzins. Nach Ablauf des Nutzungsvertrages (1. Januar 1967) zahlte die GmbH an die Grundstückseigentümer für die gewerblich genutzten Räume eine Monatsmiete von 2.500 DM.

Nach einer Betriebsprüfung bei der S-GmbH kam der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) zu der Auffassung, daß mit Ablauf des Nutzungsvertrages der Verkehrswert der Grundstücksaufbauten nach den Wertverhältnissen in 1967 den Grundstückseigentümern zugeflossen und die Hälfte davon - 190.000 DM - dem Kläger als Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung zuzurechnen sei. Dementsprechend erging ein Einkommensteuerbescheid für 1967. Eine gesonderte und einheitliche Feststellung von Einkünften aus Vermietung und Verpachtung war zuvor nicht getroffen worden.

Nach erfolglosem Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid 1967 blieb auch die Klage im wesentlichen erfolglos. Das Finanzgericht (FG) führte dazu aus, für das Streitjahr sei ein Wertzufluß als Einnahme aus Vermietung und Verpachtung zu erfassen. Zwar sei der Kläger bereits mit der Errichtung des Gebäudes - zusammen mit seinem Bruder - wirtschaftlicher Eigentümer geworden. Eine wirtschaftliche Verfügungsmacht habe er jedoch erst im Streitjahr 1967 erlangt.

Mit der Revision rügen die Kläger Verletzung der §§ 8, 11 und 21 des Einkommensteuergesetzes (EStG) und machen geltend, der Kläger sei von der Errichtung des Gebäudes an nicht nur wirtschaftlicher Eigentümer, sondern auch wirtschaftlich verfügungsberechtigt gewesen. Neben wirtschaftlichem Eigentum gebe es keine gesonderte wirtschaftliche Verfügungsmacht.

Die Kläger beantragen, unter Aufhebung der Vorentscheidung die Steuerfestsetzung dahin abzuändern, daß der Ansatz von Einkünften aus Vermietung und Verpachtung in Höhe von 190.000 DM unterbleibt.

Das FA beantragt Zurückweisung der Revision.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Streitsache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

Die Vorentscheidung ist fehlerhaft, weil sie im Verfahren über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Einkommensteuerbescheids für 1967 über gesondert festzustellende Einkünfte entschieden hat, ohne den Abschluß eines Verfahrens der gesonderten Feststellung dieser Einkünfte abzuwarten. Der Abschluß eines solchen Verfahrens ist abzuwarten, weil der angefochtene Steuerbescheid keinen "vorläufigen" Ansatz gesondert festzustellender Einkünfte enthält.

1. Die umstrittenen Einkünfte des Klägers sind gesondert festzustellende Einkünfte.

a) Wie der erkennende Senat im Urteil vom 8. Februar 1977 VIII R 50/74 (BFHE 121, 379, BStBl II 1977, 516) ausgesprochen hat, sind Änderungen auf dem Gebiet des Verwaltungsverfahrens, welche die Verwaltung bei Aufhebung der Verwaltungsentscheidung und Fortführung des Verfahrens nach neuem Recht zu beachten hätte, auch in einem anhängigen Gerichtsverfahren zu berücksichtigen. Danach ist im vorliegenden Verfahren die Frage, ob in dem angefochtenen Steuerbescheid gesondert festzustellende Einkünfte angesetzt wurden, nach den Vorschriften der Abgabenordnung (AO 1977) zu beurteilen.

b) Nach § 180 Abs. 1 Nr. 2 a AO 1977 sind Einkünfte aller Einkunftsarten i. S. des § 2 Abs. 3 Nrn. 1 bis 7 EStG gesondert festzustellen, wenn daran mehrere Personen beteiligt sind und sie diesen zuzurechnen sind.

Im Streitfall handelt es sich bei den Einkünften, die dem Kläger anteilig zugerechnet wurden, um Einkünfte mehrerer Beteiligter. Die vom FA für steuerpflichtig gehaltenen Einnahmen beruhen auf der Überlassung eines Grundstücks an die S-GmbH, das dem Kläger und seinem Bruder je zur Hälfte gehörte. Dies kann zur Folge haben, daß auch die Einnahmen den Grundstückseigentümern anteilig zuzurechnen sind.

c) Das Erfordernis einer gesonderten Feststellung entfällt vorliegend nicht wegen geringerer Bedeutung i. S. von § 180 Abs. 3, zweite Alternative AO 1977.

Der Senat hat in seinem Urteil vom 3. Februar 1976 VIII R 29/71 (BFHE 118, 135, BStBl II 1976, 396) zu § 215 Abs. 4 Satz 2 der Reichsabgabenordnung (AO) ausgeführt, daß eine untergeordnete Bedeutung im Sinne der Vorschrift anzunehmen ist, wenn bei Einkünften aus Vermietung und Verpachtung die Ermittlung der gemeinsamen Einkünfte auf einem leicht überschaubaren und kurzfristigen Vorgang mit einfachem Verteilungsschlüssel beruht oder wenn sonst die Ermittlung der Einkünfte hinsichtlich Höhe und Zurechnung verhältnismäßig einfach und die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen nahezu ausgeschlossen ist. Diese Grundsätze gelten auch für § 180 Abs. 3, zweite Alternative AO 1977.

Im Streitfall ist kein leicht überschaubarer Sachverhalt hinsichtlich der umstrittenen Einkünfte gegeben. Da der Kläger und sein Bruder auch gleichzeitig Gesellschafter der S-GmbH waren, kommen Einnahmen im Rahmen verschiedener Einkunftsarten mit unterschiedlichen Ermittlungsarten in Betracht.

aa) Es könnte sich um Einkünfte aus Gewerbebetrieb (§ 15 Abs. 1 Nr. 2 EStG) handeln.

Zu erwägen ist, ob die Vereinbarungen zwischen dem Kläger und seinem Bruder einerseits und der S-GmbH andererseits eine (unechte) Betriebsaufspaltung zum Gegenstand hatten. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) liegt eine unechte Betriebsaufspaltung vor, wenn zu einer bereits bestehenden Betriebsgesellschaft ein Besitzunternehmen in der Weise hinzukommt, daß die die Gesellschaft beherrschenden Personen an die Gesellschaft ein Grundstück vermieten, das für die Gesellschaft eine wesentliche Betriebsgrundlage darstellt (vgl. Urteil vom 20. September 1973 IV R 41/69, BFHE 110, 368, BStBl II 1973, 869). Die Annahme einer Betriebsaufspaltung im Streitfall würde bedeuten, daß die Eigentumsanteile am Grundstück zum gewerblichen Betriebsvermögen des Klägers und seines Bruders gehörten und die von ihnen erzielten Mieteinnahmen gewerbliche Einkünfte darstellen.

bb) Es könnte sich - bei Verneinung einer Betriebsaufspaltung - um Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung (§ 21 Abs. 1 Nr. 1 EStG) oder um Einkünfte aus Kapitalvermögen (§ 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG) handeln.

Zu bedenken ist, daß eine Leistung einer Kapitalgesellschaft an ihre Gesellschafter im Zusammenhang mit der Überlassung eines Grundstücks auf schuldrechtlicher oder auf gesellschaftsrechtlicher Grundlage beruhen kann. Geht die Leistung der Kapitalgesellschaft in den privaten Bereich des Gesellschafters, so ist sie im ersten Fall eine Einnahme aus Vermietung und Verpachtung (§ 21 Abs. 1 Nr. 1 EStG). Im zweiten Fall ist es eine Einnahme aus Kapitalvermögen (§ 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG), wenn und soweit eine verdeckte Gewinnausschüttung i. S. von § 8 Abs. 3 Satz 2 des Körperschaftsteuergesetzes (KStG) 1977 (§ 6 Abs. 1 Satz 2 KStG) erfolgte. Dies ist in der Regel der Fall, wenn es sich um eine unangemessen hohe Leistung der Kapitalgesellschaft an ihre Gesellschafter handelt.

cc) Bei der Ermittlung der Einkünfte kann die Entscheidung der Frage des Zuflusses von Einnahmen schwierig sein, wenn es sich - wie im Streitfall - bei der Gegenleistung für die Nutzungsüberlassung um Bauten auf fremdem Grund und Boden handelt. Dabei können Grundsätze zu beachten sein, wie sie z. B. in den BFH-Urteilen vom 28. Oktober 1980 VIII R 34/76 (BFHE 132, 41, BStBl II 1981, 161); vom 21. Dezember 1978 III R 20/77 (BFHE 127, 423, BStBl II 1979, 466); vom 30. Oktober 1980 IV R 97/78 (BFHE 132, 410, BStBl II 1981, 305), und vom 21. Oktober 1981 I R 230/78 (BFHE 134, 315, BStBl II 1982, 139) aufgestellt wurden.

Soweit Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung in Betracht kommen, kann darüber zu befinden sein, ob neben Einnahmen aus der Überlassung des Grundstücks zur Nutzung an die S-GmbH auch ein Nutzungswert für die Wohnung im eigenen Haus nach § 21 Abs. 2, erste Alternative EStG anzusetzen ist oder ob es bei den "Mietzahlungen" an die S-GmbH sein Bewenden hat.

2. Die umstrittenen Einkünfte sind keine "vorläufig" angesetzten Einkünfte.

a) Nimmt ein Wohnsitzfinanzamt die Zuständigkeit zur Entscheidung einer in das gesonderte Feststellungsverfahren gehörenden Frage in Anspruch, so kann es damit die Zuständigkeit zu einer vorläufigen oder zu einer endgültigen Entscheidung in Anspruch nehmen und damit unterschiedliche Verfahrensfolgen auslösen.

aa) Das Wohnsitzfinanzamt kann die Zuständigkeit für eine vorläufige Entscheidung in Anspruch nehmen, die so lange gelten soll, bis der gesonderte Feststellungsbescheid erlassen ist und auf seiner Grundlage der Folgebescheid geändert wird. Hierbei handelt es sich um die früher zwischen dem I. und dem IV. Senat des BFH streitige Frage, ob das Wohnsitzfinanzamt abwarten müsse, bis das Betriebsfinanzamt einen gesonderten Bescheid erlassen hat (die Zuständigkeit des Wohnsitzfinanzamts im Verfahren der Aussetzung der Vollziehung ernstlich bezweifelnd Urteil des I. Senats vom 17. Mai 1978 I R 50/77, BFHE 125, 423, BStBl II 1978, 579; anderer Ansicht IV. Senat im Beschluß vom 19. Oktober 1978 IV B 34/77, BFHE 125, 510, BStBl II 1978, 632). Bejahte man im Sinne des IV. Senats die Zuständigkeit des Wohnsitzfinanzamts zu einer Vorabentscheidung, so hatte das zur Folge, daß das Wohnsitzfinanzamt - wenn überhaupt - nur den vom Steuerpflichtigen erklärten Betrag "vorläufig" ansetzen durfte. Streitigkeiten zwischen den Beteiligten konnten sich bei dieser Betrachtungsweise zwischen Wohnsitzfinanzamt und Steuerpflichtigem nicht ergeben. Folgte man der Auffassung des I. Senats, so mußte der gesamte Einkommensteuerbescheid aufgehoben werden.

Der Gesetzgeber hat durch Art. 13 Nrn. 2 und 3 des Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes, des Körperschaftsteuergesetzes und anderer Gesetze vom 20. August 1980 (BGBl I 1980, 1545) eine neue Rechtslage geschaffen. Nach § 155 Abs. 2 AO 1977 kann ein Steuerbescheid nunmehr erteilt werden, auch wenn ein Grundlagenbescheid "noch nicht" erlassen wurde. Aus den Worten "noch nicht" ist zu schließen, daß es sich um eine vorläufige Maßnahme des Wohnsitzfinanzamts handeln soll, der ein Grundlagenbescheid nachfolgen muß. Dies ergibt sich auch aus § 162 Abs. 3 AO 1977, nach dem in den Fällen des § 155 Abs. 2 AO 1977 die in einem Grundlagenbescheid festzustellenden Besteuerungsgrundlagen "geschätzt" werden.

bb) Das Wohnsitzfinanzamt kann eine Zuständigkeit zur endgültigen Entscheidung in Anspruch nehmen. Dies ist der Fall, wenn das Wohnsitzfinanzamt zu Unrecht meint, eine gesonderte Feststellung einer Besteuerungsgrundlage sei nicht erforderlich. Verfährt das Wohnsitzfinanzamt so und entsteht Streit über diese Besteuerungsgrundlage, dann ist darüber nicht in dem anhängigen Verfahren über den Steuerbescheid, sondern in einem Verfahren zur gesonderten Feststellung der Besteuerungsgrundlage zu entscheiden. Wie sich aus § 171 Abs. 10 und § 182 Abs. 1 AO 1977 ergibt, ist ein Grundlagenbescheid für einen Folgebescheid bindend, soweit die im Grundlagenbescheid getroffenen Feststellungen für den Folgebescheid von Bedeutung sind. Aus der inhaltlichen Bindung zwischen Grundlagenbescheid und Folgebescheid ergibt sich auch eine inhaltliche Vorgreiflichkeit in dem Sinne, daß in einem Verfahren über die Rechtmäßigkeit eines Steuerbescheids nicht über Fragen endgültig entschieden werden darf, deren abschließende Prüfung dem Verfahren über einen Grundlagenbescheid vorbehalten ist.

Hat das Wohnsitzfinanzamt nicht im Verfahren nach § 155 Abs. 2 AO 1977 einen Steuerbescheid mit nach § 162 Abs. 3 AO 1977 geschätzten Besteuerungsgrundlagen erlassen, sondern bei Erlaß des Steuerbescheids seine Zuständigkeit zur endgültigen Entscheidung einer Besteuerungsgrundlage zu Unrecht in Anspruch genommen, so muß das Gericht das Klageverfahren gemäß § 74 FGO aussetzen, um den Ausgang eines Verfahrens der gesonderten Feststellung abzuwarten (zur Aussetzung vgl. z. B. BFH-Urteil vom 3. Februar 1976 VIII R 29/71, BFHE 118, 135, BStBl II 1976, 396).

b) Im Streitfall wollte das FA bei Erlaß des angefochtenen Einkommensteuerbescheids für 1967 keine vorläufige Maßnahme treffen, sondern ging davon aus, daß es einer gesonderten Feststellung der umstrittenen Einkünfte nicht bedürfe. Zu einer vorläufigen Maßnahme des FA bestand auch keine Veranlassung, weil die dem Kläger und dessen Bruder zuzurechnenden Beträge für das FA nach Grund und Höhe feststanden, aus der Sicht des FA also eine Schätzung nicht geboten war.

3. Die Vorentscheidung, welche die Vorgreiflichkeit eines Feststellungsverfahrens übersehen hat, war aufzuheben. Die Sache geht an das FG zurück, das bei der hier gegebenen Verfahrenslage wegen der noch fehlenden gesonderten Feststellung einer Besteuerungsgrundlage das Verfahren nach § 74 FGO aussetzen muß.