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BFH-Urteil vom 28.1.1988 (IV R 68/86) BStBl. 1988 II S. 449

Eine vom FG erlassene einstweilige Anordnung kann auf Antrag eines Beteiligten wegen veränderter Umstände aufgehoben werden.

FGO § 114 Abs. 3.

Vorinstanz: FG Berlin (EFG 1986, 611)

Sachverhalt

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine GmbH & Co. KG, sollte nach ihrem Gesellschaftsvertrag einen Film produzieren und wirtschaftlich auswerten. Sie beantragte für die Jahre 1976 und 1977 die Feststellung von Verlusten und deren Aufteilung auf die Gesellschafter. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) lehnte die Feststellung ab, weil zwischen den Gesellschaftern keine Mitunternehmerschaft bestanden habe. Daraufhin beantragte die Klägerin beim Finanzgericht (FG), den Verlust im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig festzustellen. Das FG entsprach diesem Antrag nach mündlicher Verhandlung in gewissem Umfang, ohne eine zeitliche Begrenzung für die Wirksamkeit der Anordnung vorzusehen. In der Folge hat das FG die Klage gegen die negativen Gewinnfeststellungsbescheide des FA abgewiesen. Danach hob es auf Antrag des FA seine frühere einstweilige Anordnung durch Urteil auf.

Die Entscheidung des FG ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1986, 611 veröffentlicht. Hiergegen richtet sich die vom FG zugelassene Revision der Klägerin, mit der sie fehlerhafte Anwendung von § 114 der Finanzgerichtsordnung (FGO) rügt.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist statthaft, in der Sache aber nicht begründet.

1. Die Klägerin hat vorläufigen Rechtsschutz gegenüber negativen Gewinnfeststellungsbescheiden gesucht. Solcher Rechtsschutz wird nach der Entscheidung des Großen Senats des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 14. April 1987 GrS 2/85 (BFHE 149, 493, BStBl II 1987, 637) im Verfahren der Aussetzung der Vollziehung nach § 69 FGO gewährt. Das FG hat entsprechend früherer Auffassung die einstweilige Anordnung (§ 114 FGO) als die zutreffende Verfahrensart angesehen und über den Antrag durch Urteil entschieden. In einem solchen Fall richten sich die Rechtsbehelfe nach der gewählten Verfahrensart (BFH-Beschluß vom 27. Mai 1981 I B 19/81, BFHE 133, 497, BStBl II 1981, 719). Dies gilt auch, wenn eine Abänderung der getroffenen Entscheidung durch das entscheidende Gericht herbeigeführt werden soll.

2. Anders als in § 69 Abs. 3 Satz 5 FGO für Beschlüsse über die Aussetzung der Vollziehung ist in § 114 FGO nicht vorgesehen, daß die Entscheidung vom Gericht aufgehoben und geändert werden kann. In § 114 Abs. 3 FGO wird wie in § 123 Abs. 3 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) auf eine Reihe von Vorschriften verwiesen, die das Arrestverfahren im Sinne der Zivilprozeßordnung (ZPO) betreffen. Nicht in Bezug genommen ist dabei die Bestimmung des § 927 Abs. 1 ZPO; darin ist vorgesehen, daß wegen veränderter Umstände die Aufhebung der Arrestanordnung beantragt werden kann. Auch in § 123 Abs. 3 VwGO wird auf diese Vorschrift nicht verwiesen.

Hieraus ist der Schluß gezogen worden, eine einstweilige Anordnung entfalte mangels einer in der Entscheidung vorgesehenen zeitlichen Begrenzung Wirkungen bis zum Abschluß des Hauptprozesses und könne vom Gericht nicht geändert werden (Oberverwaltungsgericht - OVG - Lüneburg, Entscheidung vom 18. Juni 1970, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1971, 110). Überwiegend wird jedoch die Auffassung vertreten, die ergangene Anordnung könne aufgrund einer veränderten Sachlage oder besserer Beurteilungsmöglichkeiten geändert werden (Oberverwaltungsgericht - OVG - Koblenz, Entscheidung vom 20. Oktober 1971, NJW 1972, 303, OVG Saarlouis, Entscheidung vom 4. Oktober 1976, NJW 1977, 774; OVG Münster, Entscheidung vom 6. Mai 1980, Die Öffentliche Verwaltung - DÖV - 1981, 302; OVG Lüneburg, Entscheidung vom 10. August 1982, Deutsches Verwaltungsblatt - DVBl - 1982, 902; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 114 Rdnr. 112; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 114 FGO Anm. 53; Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 114 FGO Rdnr. 76; Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, 7. Aufl., § 123 Anm. 29).

Der erkennende Senat hat die Auffassung vertreten, § 69 Abs. 3 Satz 5 FGO enthalte einen allgemeinen Grundsatz für die Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes, der auch im Rahmen des § 114 FGO Berücksichtigung finden müsse (Beschluß vom 10. August 1978 IV B 41/77, BFHE 125, 356, BStBl II 1978, 584, 586). An diesem Ergebnis ist festzuhalten.

3. Der Senat braucht nicht auf die Frage einzugehen, in welchem Umfang die gerichtliche Entscheidung über den Erlaß einer einstweiligen Anordnung der materiellen Rechtskraft fähig ist. Eine solche Bindung besteht jedenfalls nur innerhalb der Änderungsmöglichkeiten, die das Verfahrensrecht vorsieht. Eine derartige Änderungsmöglichkeit enthält § 927 ZPO; diese Bestimmung ist auch im Verfahren der einstweiligen Anordnung anwendbar.

Die einstweilige Anordnung erfüllt im Steuerprozeß die Aufgaben, die im Zivilprozeß der einstweiligen Verfügung zukommen. Die Regelungsmöglichkeiten des § 114 Abs. 1 FGO entsprechen denjenigen einer einstweiligen Verfügung aufgrund der §§ 935, 940 ZPO. Auf das Verfahren der einstweiligen Verfügung finden nach § 936 ZPO die Vorschriften über das Arrestverfahren Anwendung, soweit nichts Abweichendes bestimmt ist. Zu den anwendbaren Vorschriften gehört damit § 927 ZPO. Danach kann auch nach Bestätigung des Arrestes seine Aufhebung beantragt werden, weil sich die Umstände geändert haben oder aber der Arrestschuldner sich zur Sicherheitsleistung erbietet. In § 939 ZPO ist davon abweichend vorgesehen, daß die Aufhebung der einstweiligen Verfügung gegen Sicherheitsleistung nur unter besonderen Umständen in Betracht kommt.

In § 114 Abs. 3 FGO ist wie in § 123 Abs. 3 VwGO die Anwendung von § 939 ZPO, nicht aber von § 927 ZPO vorgesehen. Hierin wird zu Recht ein Redaktionsversehen erblickt (OVG Koblenz, NJW 1972, 303). Denn § 939 ZPO ist nicht isoliert anwendbar. Die Bestimmung schränkt eine durch § 927 ZPO eröffnete Änderungsmöglichkeit ein, setzt also voraus, daß diese Änderungsmöglichkeit besteht. Die Bezugnahme auf § 939 ZPO wäre bedeutungslos, gäbe es nicht auch im Verfahren der einstweiligen Anordnung die in § 927 ZPO vorgesehene Änderungsmöglichkeit. Die Verweisung in § 114 Abs. 3 FGO ist demnach lückenhaft. Sie muß nach der Systematik des Gesetzes dahin ergänzt werden, daß § 927 ZPO entsprechend anwendbar ist.

Für dieses Ergebnis spricht auch der Zweck des Anordnungsverfahrens, mit dem im Hinblick auf die im Hauptsacheverfahren erwartete Entscheidung vorläufiger Rechtsschutz gewährt werden soll. Entsprechend diesem Zweck müssen tatsächliche Erkenntnisse, die in das Hauptsacheverfahren Eingang finden, auch im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes berücksichtigt werden. Vorläufiger Rechtsschutz kann nicht in Anspruch genommen werden, wenn er in der Hauptsache endgültig nicht gewährt werden kann. Dies bedeutet andererseits auch, daß ein bisher erfolglos gebliebener Antragsteller aufgrund neuer Erkenntnisse erneut einen Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung stellen kann. Entgegen der Revisionsmeinung ist die Ausfüllung gesetzlicher Lücken im Prozeßrecht und damit auch im Steuerprozeßrecht zulässig (vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozeßordnung, 45. Aufl., Einleitung III 5 D, m.w.N.). Ob darüber hinaus § 69 Abs. 3 Satz 5 FGO in dem Sinne entsprechend anwendbar ist, daß das Gericht eine von ihm erlassene Anordnung auch von Amts wegen ändern kann, selbst wenn sie in Urteilsform ergangen ist, kann offenbleiben.

4. Im Streitfall sind die Voraussetzungen des § 927 ZPO erfüllt, weil nach den inzwischen gewonnenen Erkenntnissen kein Anordnungsanspruch besteht; es hat sich herausgestellt, daß die Klägerin keinen Gewerbebetrieb betreibt und damit auch keine Verlustfeststellungsbescheide ergehen konnten. Das FG hat deswegen die Klage in der Hauptsache abgewiesen; der Senat hat diese Auffassung in seiner heutigen Entscheidung in der Hauptsache bestätigt.