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  BFH-Urteil vom 6.3.1990 (VIII R 28/84) BStBl. 1990 II S. 558

Ein bestimmter Sachverhalt ist in mehreren Steuerbescheiden i.S. von § 174 Abs. 1 AO 1977 "berücksichtigt" worden, wenn er dem Finanzamt bei der Steuerfestsetzung oder Gewinnfeststellung bekannt war und als Entscheidungsgrundlage herangezogen und verwertet wurde.

AO 1977 § 162, § 174 Abs. 1.

Vorinstanz: FG Hamburg (EFG 1984, 384)

Sachverhalt

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) war Kommanditist einer Schiffahrts-KG.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) stellte durch Feststellungsbescheid vom 31. August 1973 die Einkünfte der Schiffahrts-KG aus Gewerbebetrieb für das Streitjahr 1970 auf ./. 1.232.017,91 DM und den Gewinnanteil des Klägers auf 145.377 DM fest. Dieser Betrag ergab sich u.a. aus der Zurechnung einer Sondervergütung, die die Schiffahrts-KG als Provision für Kapitalbeschaffung an die XY-Beratungs-KG (Beratungs-KG) zu zahlen hatte. An der Beratungs-KG war der Kläger ebenfalls als Gesellschafter beteiligt.

Da die Beratungs-KG für das Streitjahr keine Steuererklärungen eingereicht hatte, schätzte das zuständige Finanzamt Z durch Feststellungsbescheid vom 16. März 1973 den Gewinn aus Gewerbebetrieb auf 40.000 DM. Dieser Bescheid wurde nicht angefochten. Die Umsätze der Beratungs-KG wurden auf 70.000 DM geschätzt. Gegen die Heranziehung zur Umsatzsteuer von 7.000 DM wandte sich die Beratungs-KG in ihrem Schreiben vom 6. August 1973 mit der Behauptung: "So hoch wie die Steuer war noch nicht einmal der Umsatz ....".

Die den - im übrigen einzelgewerblich tätigen - Kläger und seine Ehefrau betreffende Einkommensteuer-Zusammenveranlagung 1970 wurde nach mehreren Änderungen mit Bescheid vom 20. Oktober 1981 abgeschlossen.

Mit Schreiben vom 4. Juli 1975 und 29. Januar 1981 machte der Kläger beim FA eine Doppelerfassung der ihm in der Gewinnfeststellung der Schiffahrts-KG zugerechneten Sondervergütung geltend. Diese sei bereits in seinem Gewerbebetrieb oder bei der Beratungs-KG versteuert worden. Den Antrag auf Änderung der Gewinnfeststellung der Schiffahrts-KG gemäß § 174 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) lehnte das FA mit Bescheid vom 11. Februar 1981 ab. Der Einspruch wurde durch Einspruchsentscheidung vom 19. März 1982 als unbegründet zurückgewiesen.

Zur Begründung seiner hiergegen erhobenen Klage legte der Kläger photokopierte Abschriften einer nicht unterschriebenen Bilanz zum 31. Dezember 1970 und Gewinn- und Verlustrechnung für die Zeit vom 12. Juni bis 31. Dezember 1970 der Beratungs-KG mit der Datumsangabe 12. Januar 1973 vor, in der Gesamterlöse von 196.600 DM und ein Gewinn von 39.135,19 DM ausgewiesen werden. Aufgrund einer vom Finanzgericht (FG) angeregten Überprüfung teilte das für die Beratungs-KG örtlich zuständige FA mit, daß eine auf den 17. Dezember 1970 datierte Rechnung über 122.500 DM bei der Beratungs-KG per Debitoren an Erlöse gebucht worden sei.

Das FG gab der Klage statt und setzte den Anteil des Klägers am Gewinn der Schiffahrts-KG unter Änderung des Feststellungsbescheids 1970 auf 22.877 DM fest (Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1984, 384).

Mit seiner hiergegen eingelegten Revision rügt das FA Verletzung des § 174 Abs. 1 AO 1977.

Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, den Rechtsstreit an das FG zurückzuverweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

1. Die Klage ist entgegen der Ansicht des FG als Verpflichtungsklage aufzufassen.

Die Verpflichtungsklage nach § 40 Abs. 1 FGO ist die gebotene Klageart, wenn die Änderung eines bereits bestandskräftigen Steuerbescheids angestrebt wird (Gräber, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 40 Rz. 41 m.w.N.). Hat diese Klage Erfolg, so ist neben der Aufhebung der ablehnenden Verfügung gemäß § 101 FGO die Verpflichtung des FA zum Erlaß des Änderungsbescheids auszusprechen, wenn die Sache spruchreif ist. Die vom FG ausgesprochene Herabsetzung des Gewinnanteils des Klägers war deshalb unzulässig. Der Senat kann offen lassen, ob dieser Verfahrensfehler zu einer Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils führen muß oder ob, wie der Bundesfinanzhof (BFH) in vergleichbaren Fällen entschieden hat, der Urteilsausspruch des FG vom BFH berichtigt werden kann, wenn die Revision in der Sache keinen Erfolg hat (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 13. Dezember 1985 III R 204/81, BFHE 145, 545, BStBl II 1986, 245). Denn im Streitfall ist das angefochtene Urteil jedenfalls wegen materiell-rechtlicher Mängel aufzuheben (s. unter 3.).

2. Das Urteil des FG ist nicht schon deshalb aufzuheben, weil die Schiffahrts-KG nicht zum Klageverfahren beigeladen worden ist.

Nach § 60 Abs. 3 i.V.m. § 48 Abs. 1 Nr. 3 FGO ist die Gesellschaft notwendig beizuladen, wenn ein Gesellschafter Klage gegen einen einheitlichen Feststellungsbescheid über Einkünfte aus Gewerbebetrieb erhebt wegen einer Frage, die ihn persönlich angeht (§ 48 Abs. 1 Nr. 2 FGO; Urteile des BFH vom 4. Mai 1972 IV 251/64, BFHE 105, 449, 455, BStBl II 1972, 672; vom 12. November 1985 VIII R 364/83, BFHE 145, 408, 411, BStBl II 1986, 311). Eine Beiladung kommt jedoch nicht mehr in Betracht, wenn die Gesellschaft ihre Beteiligtenfähigkeit verloren hat, weil sie vollbeendet ist. Wie der Senat von Amts wegen festgestellt hat, ist die Vollbeendigung der Schiffahrts-KG während des Revisionsverfahrens eingetreten.

Grundsätzlich sind nach Vollbeendigung der Gesellschaft die übrigen klagebefugten Gesellschafter beizuladen. Die Beiladung hat jedoch zu unterbleiben, wenn die nicht klagenden Gesellschafter unter keinem denkbaren Gesichtspunkt steuerrechtlich betroffen sind (BFH-Urteile vom 16. Dezember 1981 I R 93/77, BFHE 135, 271, BStBl II 1982, 474; vom 10. Februar 1988 VIII R 352/82, BFHE 152, 414, BStBl II 1988, 544).

Im Streitfall begehrt der Kläger die Änderung des Gewinnfeststellungsbescheides 1970 wegen der ihm zugerechneten Sondervergütung. Die Entscheidung über diese Frage hat keinen Einfluß auf die Höhe der den übrigen Gesellschaftern zugerechneten Anteile am Gewinn der Schiffahrts-KG.

3. Entgegen der Ansicht des FG sind die Voraussetzungen für eine Änderung des bestandskräftigen Gewinnfeststellungsbescheids 1970 nach § 174 Abs. 1 AO 1977 nicht gegeben. Eine widerstreitende Steuerfestsetzung oder Gewinnfeststellung (§ 181 Abs. 1 Satz 1 AO 1977) liegt nicht vor.

a) Die Änderung eines bestandskräftigen Steuerbescheids nach § 174 Abs. 1 AO 1977 setzt voraus, daß ein bestimmter Sachverhalt in mehreren Steuerbescheiden oder Feststellungsbescheiden (vgl. § 181 Abs. 1 Satz 1 AO 1977) zuungunsten eines oder mehrerer Steuerpflichtiger berücksichtigt worden ist, obwohl er nur einmal hätte berücksichtigt werden dürfen. Dabei ist unter einem "bestimmten Sachverhalt" im Sinne dieser Vorschrift jeder einzelne Lebensvorgang zu verstehen, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpft (BFH-Entscheidungen vom 6. Dezember 1979 IV B 56/79, BFHE 130, 1, BStBl II 1980, 314, und vom 24. November 1987 IX R 158/83, BFHE 152, 203, 205, BStBl II 1988, 404; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13. Aufl., § 174 AO 1977 Tz. 2). Ein derartiger Lebensvorgang ist im Streitfall in der Verpflichtung der Schiffahrts-KG gegenüber der Beratungs-KG zur Zahlung einer Provision von 122.500 DM zu sehen, von der der Kläger behauptet, sie sei nicht nur als Sonderbetriebseinnahme bei der Gewinnfeststellung der Schiffahrts-KG, sondern auch als Teil des vom FA geschätzten Gewinns aus Gewerbebetrieb der Beratungs-KG erfaßt worden.

b) Die tatsächlichen Feststellungen des FG rechtfertigen nicht die Schlußfolgerung, die streitige Provisionsverpflichtung sei bereits bei der Feststellung des Gewinns der Beratungs-KG "berücksichtigt" worden.

Der Begriff "berücksichtigen" i.S. von § 174 Abs. 1 AO 1977 bezieht sich auf das Erfassen eines Vorgangs. Im allgemeinen Sprachgebrauch bedeutet er soviel wie "etwas bei seinen Überlegungen oder Handlungen beachten" (vgl. Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Bd. 1, S. 356). Die Vorschrift des § 174 AO 1977 will, wie sich aus ihrer Entstehungsgeschichte ergibt (vgl. BTDrucks VI/1982, S. 153), Fälle regeln, in denen aus einem bestimmten Sachverhalt steuerlich unterschiedliche Schlußfolgerungen gezogen werden, die sich denkgesetzlich gegenseitig ausschließen. Ein bestimmter Sachverhalt ist danach in (mehreren) Steuerbescheiden "berücksichtigt" worden, wenn er dem FA bei der Entscheidungsfindung bekannt war und als Entscheidungsgrundlage herangezogen und verwertet wurde (Weber-Grellet, Die steuerliche Betriebsprüfung - StBP - 1982, 29, 31; ähnlich: Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13. Aufl., § 174 AO 1977 Tz. 2). Dabei ist es nicht erforderlich, daß das FA den erfaßten Sachverhalt in allen Einzelheiten kennt; vielmehr kann der Vorgang in ein komprimiertes Zahlenwerk eingegangen sein, das dem FA bei der Entscheidungsfindung vorlag.

Legt das FA der Veranlagung oder der Gewinnfeststellung einen vom Steuerpflichtigen erklärten Gewinn zugrunde, so sind damit alle Geschäftsvorfälle berücksichtigt, die der Steuerpflichtige bei seiner Gewinnermittlung erfaßt hat (vgl. das zu § 173 AO 1977 ergangene BFH-Urteil vom 28. März 1985 IV R 159/82, BFHE 144, 521, BStBl II 1986, 120).

Auch bei der Schätzung von Besteuerungsgrundlagen ist die fehlerhafte Mehrfachberücksichtigung eines bestimmten Sachverhalts und damit eine Änderung nach § 174 Abs. 1 AO 1977 nicht von vornherein ausgeschlossen (Klein/Orlopp, Abgabenordnung, 4. Aufl., § 174 Anm. 4 a.E.). Eine solche Konstellation ist denkbar, wenn der bestimmte Sachverhalt bei der Schätzung als ein hierfür bedeutsamer Umstand i.S. des § 217 Abs. 1 Satz 2 der Reichsabgabenordnung (AO) oder § 162 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 berücksichtigt worden ist. Das kann beispielsweise dann der Fall sein, wenn das FA bei der Schätzung des Gewinns die vom Unternehmen eingereichten Umsatzsteuer-Voranmeldungen heranzieht und eine bestimmte Betriebseinnahme in diesen Voranmeldungen enthalten ist.

c) Im Streitfall ist nach den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz davon auszugehen, daß das für die Gewinnfeststellung der Beratungs-KG zuständige FA bei der Schätzung des Gewinns 1970 die strittige Provisionseinnahme von 122.500 DM nicht berücksichtigt hat. Der Feststellungsbescheid vom 16. März 1973 erging aufgrund einer pauschalen (griffweisen) Schätzung. Die im finanzgerichtlichen Verfahren vorgelegten Gewinnermittlungsunterlagen der Beratungs-KG waren dem FA Z bei Erlaß des Bescheides vom 16. März 1973 unstreitig nicht bekannt. Daß das FA Z die strittige Provisionseinnahme bei der Feststellung des Gewinns der Beratungs-KG nicht berücksichtigt haben kann, ergibt sich auch daraus, daß es die Umsatzsteuer 1970 auf der Grundlage eines geschätzten Umsatzes von 70.000 DM festgesetzt hat. Ob diese Schätzung rechtsfehlerfrei war oder ob das zuständige FA, wie der Kläger meint, bei Beachtung der für den Gewerbezweig der Beratungs-KG geltenden Richtsätze den Umsatz 1970 auf 200.000 DM hätte schätzen müssen, ist in diesem Zusammenhang unerheblich.

Entgegen der Ansicht des FG und der Revision kann ein bestimmter Lebensvorgang (hier: Die Provisionsverpflichtung gegenüber der Beratungs-KG) nicht schon dann als bei der Schätzung berücksichtigt i.S. von § 174 Abs. 1 AO 1977 angesehen werden, wenn der Steuerpflichtige nachträglich eine Steuererklärung mit Gewinnermittlungsunterlagen einreicht und die sich daraus ergebenden Besteuerungsgrundlagen zahlenmäßig annähernd mit dem Ergebnis der Schätzung übereinstimmen. Das gilt jedenfalls dann, wenn die nachträglich bekannt gewordenen Tatsachen in keiner Verbindung zu den Angaben des Steuerpflichtigen oder sonstigen Umständen stehen, die das FA bei Durchführung der Veranlagung als für die Schätzung bedeutsame Umstände (§ 162 Abs. 1 Satz 2 AO 1977) berücksichtigt hat. Ein derartiger Zusammenhang ist im Streitfall nach den Feststellungen des FG und dem Vorbringen der Beteiligten nicht ersichtlich.

Der Senat teilt auch nicht die Ansicht des Klägers, daß die strittige Provisionsforderung bei der Gewinnfeststellung der Beratungs-KG deshalb als berücksichtigt angesehen werden müsse, weil das zuständige FA die spätere Vorlage der Gewinnermittlungsunterlagen für das Streitjahr nicht zum Anlaß für eine Änderung der Gewinnfeststellung nach § 173 Abs. 1 AO 1977 genommen und damit die Schätzung des Feststellungsbescheides vom 16. März 1973 "bestätigt" habe. Es kommt nicht darauf an, aus welchen Gründen das FA Z von einer Änderung dieses Bescheides abgesehen hat. Auch wenn es die Änderung des bestandskräftigen Feststellungsbescheides deshalb unterlassen haben sollte, weil es die Schätzung als im wesentlichen zutreffend erachtete, steht dieses Verhalten dem Erlaß eines Steuerbescheides i.S. von §§ 155 ff., 174 Abs. 1 AO 1977 nicht gleich.

Die vom erkennenden Senat vertretene Rechtsauffassung führt nicht zu einer Beeinträchtigung schutzwürdiger Interessen des Klägers. Der Kläger hätte die Berücksichtigung der Provisionsforderung bei der Gewinnfeststellung der Beratungs-KG herbeiführen können, wenn er die ihm im Besteuerungsverfahren obliegenden Mitwirkungspflichten durch rechtzeitige Vorlage einer ordnungsgemäßen Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnung erfüllt hätte.

Das FA hat es deshalb zu Recht abgelehnt, den bestandskräftigen Gewinnfeststellungsbescheid der Schiffahrts-KG zu ändern.

Da das FG von einer anderen Rechtsauffassung ausgegangen ist, ist seine Entscheidung aufzuheben. Die Klage ist abzuweisen.