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  BFH-Urteil vom 27.11.1991 (X R 98-100/90) BStBl. 1992 II S. 411

Wenn es darum geht, ob eine Beeinträchtigung der Öffentlichkeit auf den Willen des Gerichts zurückzuführen ist (BFH-Beschluß vom 21. März 1985 IV S 21/84, BFHE 143, 487, BStBl II 1985, 551), muß sich ein Spruchkörper jedenfalls das Verhalten der ihm angehörenden Berufsrichter zurechnen lassen.

FGO § 52, § 119 Nr. 5, § 116 Abs. 1 Nr. 4; GVG § 169 Satz 1.

Vorinstanz: FG Köln

Sachverhalt

In materiell-rechtlicher Hinsicht streiten die Beteiligten darum, ob der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) in den angefochtenen Bescheiden die vom Kläger und Revisionskläger (Kläger) als Erwerber des väterlichen Betriebs an seine Eltern gezahlten "Provisionen" für Beratungstätigkeit, Kontaktpflege und Werbung beim Betriebsausgabenabzug bzw. beim Vorsteuerabzug zu Recht unberücksichtigt gelassen hat.

Die deswegen beim Finanzgericht (FG) erhobenen Klagen waren erfolglos.

Mit den vom Senat (durch Beschluß vom 19. April 1991) verbundenen Revisionen rügen die Kläger Verletzung formellen Rechts. Sie machen geltend, bei der mündlichen Verhandlung am 25. April 1990 sei die Öffentlichkeit nicht gewährleistet gewesen (§ 116 Abs. 1 Nr. 4 der Finanzgerichtsordnung - FGO -): Ihr Prozeßbevollmächtigter habe - in Begleitung seiner Ehefrau - nach Schluß der mündlichen Verhandlung beim Verlassen des Sitzungssaales festgestellt, daß dessen Tür von innen verschlossen gewesen sei. Der Schlüssel habe von innen gesteckt, obwohl die Öffentlichkeit nicht ausgeschlossen gewesen sei. Er, der Prozeßbevollmächtigte, habe, als er dies nach Schluß der mündlichen Verhandlung beim Verlassen des Sitzungssaales bemerkte, mit dem im Schloß steckenden Schlüssel die Tür von innen geöffnet. Offenbar habe ein Berufsrichter, der an der vorangegangenen mündlichen Verhandlung nicht beteiligt gewesen sei und den Sitzungssaal erst unmittelbar vor der Verhandlung in den Streitsachen durch die allgemeine Einlaßtür betreten habe, diese versehentlich abgeschlossen.

Zu den Einzelheiten dieses Vorgangs hat zunächst das Mitglied des Senats, Richter am Bundesfinanzhof (BFH) A, als beauftragter Richter aufgrund des Beweisbeschlusses vom 4. Juni 1991 am 12. Juli 1991 als Zeugen den Vorsitzenden Richter am FG X, den früheren Richter am FG Y, den Prozeßbevollmächtigten der Kläger sowie Regierungsrat Z vom FA gehört.

Auf das den Beteiligten bekannte Protokoll hierzu sowie auf die Äußerungen der Beteiligten zu diesen Vernehmungen wird verwiesen.

Aufgrund eines weiteren, in der mündlichen Verhandlung vom 27. November 1991 gefaßten Beweisbeschlusses wurde der Prozeßbevollmächtigte vor dem Senat vernommen und anschließend beeidigt. Wegen der Einzelheiten wird auf die Sitzungsniederschrift vom 27. November 1991 und die Anlagen hierzu Bezug genommen.

Die Kläger beantragen, die angefochtenen Urteile aufzuheben und die Sachen zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Urteile und zur Zurückverweisung der Sachen an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO). Die erstinstanzlichen Urteile verletzen Verfahrensrecht, weil sie auf eine mündliche Verhandlung ergingen, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt worden sind (§ 119 Nr. 5 FGO).

1. Die nicht zugelassene Revision (vgl. dazu den Senatsbeschluß X B 147-149/90 vom heutigen Tage) ist statthaft, weil die Kläger form- und fristgerecht einen Grund für eine zulassungsfreie Revision geltend gemacht haben (§ 116 Abs. 1 Nr. 4 FGO).

2. Die Revision ist begründet.

Für die mündliche Verhandlung vom 25. April 1990 war Öffentlichkeit vorgeschrieben (§ 52 Abs. 1 FGO i. V. m. § 169 Satz 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes - GVG -). Dies bedeutet, daß ein unbestimmter Personenkreis die Möglichkeit hätte haben müssen, die Verhandlung an Ort und Stelle zu verfolgen (Gräber/ Koch, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., 1987, § 52 Rz. 4; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., § 52 FGO Rz. 1, jeweils m. w. N.). Der Raum, in dem die hier streitigen Klagesachen verhandelt wurden, hätte für jedermann zugänglich sein müssen (vgl. BFH-Beschlüsse vom 21. März 1985 IV S 21/84, BFHE 143, 487, BStBl II 1985, 551, und vom 10. August 1988 IV R 31/88, BFH/NV 1990, 41). Das war hier nicht der Fall, weil die für das Publikum bestimmte Eingangstür zum Sitzungssaal im Streitfall während der Verhandlung vom 25. April 1990 verschlossen war.

Ein wesentlicher Verfahrensmangel i. S. der §§ 116 Abs. 1 Nr. 4, 119 Nr. 5 FGO liegt darin jedoch nur, wenn die Beeinträchtigung der Öffentlichkeit auf den Willen des Gerichts zurückzuführen ist (BFH in BFHE 143, 487, BStBl II 1985, 551; Gräber/Ruban, a. a. O., § 119 Rz. 22; Tipke/Kruse, a. a. O., § 116 FGO Tz. 19). Dabei muß sich ein Spruchkörper jedenfalls das Verhalten (Tun oder Unterlassen) der ihm angehörenden Berufsrichter zurechnen lassen. Ihnen ist nicht nur die Sachentscheidung, sondern auch die Wahrung verfahrensrechtlicher Grundsätze zu jeweils eigener Verantwortung anvertraut. Sie haben demgemäß auch, jeder für sich, für die Einhaltung verfahrensrechtlicher Grundsätze einzustehen.

Im Streitfall ist der Grundsatz der Öffentlichkeit in der Verhandlung vom 25. April 1990 verletzt worden, weil die allgemeine Zugangstür zum Sitzungssaal verschlossen war und dies auf mangelnde Sorgfalt des Gerichts zurückzuführen ist. Dies steht zur Überzeugung des Senats aufgrund der Beweisaufnahme fest. Der Prozeßbevollmächtigte hat sowohl vor dem beauftragten Richter als auch vor dem Senat - dort unter Eid - ausgesagt, daß er, als er nach Schluß der mündlichen Verhandlung als erster den Sitzungssaal habe verlassen wollen, die Tür von innen verschlossen gefunden und dann schließlich aufgeschlossen habe. In diesen wesentlichen Fakten sind die Angaben des Zeugen präzise und glaubwürdig. Das gilt auch für den weiteren entscheidenden Umstand, daß der Richter, der von allen Anwesenden als letzter nachträglich hinzukam (der frühere Richter am FG Y), den Sitzungssaal nicht wie die übrigen Richter durch die Tür betrat, die das Beratungszimmer direkt mit der Richterbank verbindet, sondern durch die allgemeine Zugangstür zum Sitzungsraum.

Ergänzend bestätigt werden diese Bekundungen durch den Vorsitzenden Richter am FG X insofern, als dieser anhand des Sitzungsplanes hat feststellen können, daß vor der Verhandlung in den Streitsachen tatsächlich ein Richter, nämlich Y, neu hinzugekommen war und daß sich tatsächlich an der Innenseite der Tür zum Sitzungssaal ein Schlüssel befand. Durch die Aussage des Zeugen Y vervollständigt sich das Bild vom Geschehensablauf. Der Zeuge bestätigte, er habe in anderen Fällen, wenn er sich über das Beratungszimmer zum Sitzungssaal begeben habe, die von außen zum Beratungszimmer führende Tür jeweils nach dem Betreten von innen verschlossen; daß er sich möglicherweise genauso verhielt, als er sich am 25. April 1990 anders als sonst üblich durch den Sitzungssaal hindurch zur Richterbank begab, konnte er nicht ausschließen.

Da es einerseits einer allgemeinen Lebenserfahrung entspricht, daß man für bestimmte Geschehensabläufe gewohnheitsmäßig eingeübte Verhaltensweisen auch im Fall einer ausnahmsweisen Abweichung beibehält, und andererseits den Umständen nach ausgeschlossen werden kann, daß die Tür auf andere Weise und von einer anderen Person von innen verriegelt wurde, läßt im Streitfall nur den Schluß zu, daß Y dies versehentlich bewirkte.

In diesem für die zu treffende Entscheidung erheblichen Kern sieht der Senat nichts, was auf einen auch nur teilweise abweichenden Geschehensablauf hindeuten könnte.

Unklarheiten, die sich im übrigen aus den Bekundungen des Prozeßbevollmächtigten ergeben, betreffen Nebensächlichkeiten, wie etwa die Fragen, auf welche Weise genau er sich zur Richterbank hin verständlich machte, als er beim Verlassen des Sitzungssaals bemerkte, daß die Eingangstür verschlossen war, wie viele Leute er dann im Raum vor dem Sitzungssaal wahrnahm und wann und wie genau ihm zu Bewußtsein kam, was die verschlossene Tür für den konkreten Fall rechtlich bedeutete. Nach dem Eindruck des Zeugen erschien es dem Senat glaubwürdig, daß seine Gedanken und Gefühle von der Erörterung der Sach- und Rechtsfragen des Verfahrens noch so beherrscht waren, daß er - zunächst jedenfalls - nicht dazu kam, die prozessuale Bedeutung des Ereignisses zu erfassen und sogleich entsprechend darauf zu reagieren, auch wenn ihm - wie er ebenfalls bekundete - die Bedeutung der Öffentlichkeit für den Prozeß theoretisch geläufig war.

Da der festgestellte Mangel einen absoluten Revisionsgrund darstellt, war dem Senat eine Sachentscheidung verwehrt. Die Sache mußte zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen werden.