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  BFH-Beschluß vom 10.11.1993 (X B 83/93) BStBl. 1994 II S. 119

Einer Klage, mit der der Steuerpflichtige erstmals die Verfassungswidrigkeit des Sonderausgabenhöchstbetrags (§ 10 Abs. 3 EStG) rügt, fehlt das Rechtsschutzinteresse, wenn das FA bereits im Einspruchsverfahren den angefochtenen Einkommensteuerbescheid hinsichtlich der Vorsorgeaufwendungen für vorläufig erklärt hat. Eine Aussetzung des finanzgerichtlichen Verfahrens (§ 74 FGO) kommt nicht in Betracht (Abgrenzung zum BFH-Beschluß vom 18. September 1992 III B 43/92, BFHE 169, 110, BStBl II 1993, 123).

EStG § 10 Abs. 3; FGO § 74.

Vorinstanz: FG Nürnberg (EFG 1993, 533)

Sachverhalt

Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt - FA -) veranlagte die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) für das Streitjahr 1989 erklärungsgemäß. Die als Sonderausgaben geltend gemachten Versicherungsbeiträge (14.583 DM) berücksichtigte das FA mit dem nach § 10 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) abziehbaren Höchstbetrag von 9.028 DM. Für die drei Kinder der Kläger gewährte es jeweils einen Freibetrag von 2.484 DM. Der Einkommensteuerbescheid war hinsichtlich der Kinderfreibeträge vorläufig.

Gegen den Einkommensteuerbescheid 1989 legten die Kläger vorsorglich Einspruch ein, weil zweifelhaft sei, ob der Grundfreibetrag des Einkommensteuertarifs verfassungsgemäß sei. Sie beantragten, das Verfahren ruhen zu lassen.

Das FA änderte daraufhin den Einkommensteuerbescheid nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) und erstreckte die Vorläufigkeit unter anderem auch auf den Grundfreibetrag und die Vorsorgeaufwendungen. Im übrigen wies es den Einspruch in den Erläuterungen zur Festsetzung als unbegründet zurück. Es führte aus, die Steuerfestsetzung stehe im Einklang mit den geltenden Gesetzen. Den verfassungsrechtlichen Bedenken gegen bestimmte Vorschriften sei dadurch Rechnung getragen worden, daß die Steuer insoweit vorläufig festgesetzt worden sei.

Mit der Klage machten die Kläger geltend, bei der Einkommensteuerfestsetzung würden ungewisse Besteuerungsgrundlagen zum Nachteil der Steuerbürger berücksichtigt. Ziel des Rechtsbehelfs sei nicht die vorläufige Steuerfestsetzung gewesen, weil damit die Verfassungswidrigkeit der Vorschriften nicht anerkannt werde. Dem Antrag, das Verfahren nach § 363 AO 1977 auszusetzen, sei nicht entsprochen worden. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) werde ein Rechtsbehelf durch Vorläufigkeitserklärung nicht erledigt. Entgegen der Auffassung des FA lägen die Voraussetzungen für ein Ruhen des Verfahrens vor. Die Klage richte sich auch gegen die beschränkte Abziehbarkeit der Vorsorgeaufwendungen. Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der Sonderausgabenhöchstbeträge seien beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mehrere Verfassungsbeschwerden anhängig. Es werde daher beantragt, das Verfahren nach § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auszusetzen.

Durch Beschluß vom 11. März 1993 lehnte das Finanzgericht (FG) den Antrag auf Aussetzung des Verfahrens ab. Es führte aus: Infolge der Vorläufigkeitserklärung sei eine Aussetzung des Verfahrens nicht mehr geboten und auch nicht zweckmäßig. Bei der nach § 74 FGO zu treffenden Ermessensentscheidung seien die Interessen beider Beteiligten des Klageverfahrens zu berücksichtigen. Gegenüber dem Interesse der Verwaltungsbehörde an einer zeitgerechten Abwicklung des Rechtsmittels sei kein wirkliches Interesse der Kläger an einem Offenhalten des Verfahrens mehr erkennbar. Denn durch den Ausspruch der teilweisen Vorläufigkeit hinsichtlich bestimmter Besteuerungsgrundlagen sei sichergestellt, daß die Kläger auch ohne Weiterverfolgung des Rechtsmittels an einer möglichen künftigen gesetzlichen Neuregelung teilhaben könnten.

Mit der Beschwerde tragen die Kläger vor: Das FA habe dem Antrag auf Ruhen des Verfahrens nicht entsprochen, obwohl nach dem Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 19. Oktober 1992 (BStBl I 1992, 632) Einspruchsverfahren gegen Steuerfestsetzungen, die noch nicht vorläufig ergangen seien, weiter ruhen könnten. Die vom BFH (Beschluß vom 18. September 1992 III B 43/92, BFHE 169, 110, BStBl II 1993, 123) geforderten Voraussetzungen für eine Aussetzung des Verfahrens seien im Streitfall erfüllt. Die Entscheidung des FG sei mit diesen Grundsätzen nicht vereinbar.

Die Kläger beantragen, den Beschluß des FG aufzuheben und dem Antrag auf Aussetzung des Verfahrens stattzugeben.

Das FA beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde ist unbegründet.

Zu Recht hat das FG den Antrag der Kläger auf Aussetzung des Verfahrens abgelehnt.

Nach der Rechtsprechung des BFH ist eine Aussetzung des Klageverfahrens nach § 74 FGO geboten, wenn vor dem BVerfG ein nicht als aussichtslos erscheinendes Musterverfahren gegen eine im Streitfall anzuwendende Norm anhängig ist, den FG zahlreiche Parallelverfahren (Massenverfahren) vorliegen und keiner der Beteiligten des Klageverfahrens ein besonderes berechtigtes Interesse an einer Entscheidung des FG über die Verfassungsmäßigkeit der umstrittenen gesetzlichen Regelung trotz des beim BVerfG anhängigen Verfahrens hat (BFH-Beschlüsse vom 7. Februar 1992 III B 24, 25/91, BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408, und vom 27. November 1992 III B 133/91, BFHE 169, 498, BStBl II 1993, 240).

Trotz Vorliegens dieser Voraussetzungen ist das FG aber dann nicht zur Aussetzung des Klageverfahrens verpflichtet, wenn das FA den angefochtenen Einkommensteuerbescheid hinsichtlich der verfassungsrechtlich umstrittenen Punkte bereits vor Klageerhebung für vorläufig erklärt hat.

Im Streitfall haben die Kläger mit dem Einspruch nur die Verfassungswidrigkeit des Grundfreibetrags gerügt und das Ruhen des Einspruchsverfahrens beantragt. Das FA hat daraufhin die Einkommensteuer nicht nur hinsichtlich des Grundfreibetrags, sondern auch hinsichtlich der Vorsorgeaufwendungen vorläufig festgesetzt. Mit der Klage haben die Kläger erstmals die Verfassungswidrigkeit des Sonderausgabenhöchstbetrags für Vorsorgeaufwendungen geltend gemacht und deshalb die Aussetzung des Klageverfahrens beantragt, bis das BVerfG über die hierzu anhängigen Verfassungsbeschwerden entschieden hat. Es geht ihnen also ersichtlich nur darum, den Einkommensteuerbescheid nicht bestandskräftig werden zu lassen, um im Falle einer für sie positiven Entscheidung des BVerfG und einer sich daran ggf. anschließenden gesetzlichen Neuregelung höhere Vorsorgeaufwendungen als bisher abziehen zu können. Diesem Begehren trägt die vorläufige Einkommensteuerfestsetzung in vollem Umfang Rechnung. Denn die Festsetzungsfrist endet nicht vor Ablauf eines Jahres, nachdem die Ungewißheit, auf der die vorläufige Festsetzung beruht, beseitigt ist (§ 171 Abs. 8 AO 1977), d. h. nicht vor einer Entscheidung des BVerfG oder dem Inkrafttreten einer ggf. notwendig werdenden gesetzlichen Neuregelung.

Für die Klage fehlt somit das Rechtsschutzinteresse. Dieses kann nicht allein darauf gestützt werden, daß im Falle einer Klageerhebung das Klagebegehren, solange über die Klage noch nicht endgültig entschieden ist, erweitert werden kann, wenn z. B. weitere verfassungsrechtliche Zweifel an bestimmten steuerrechtlichen Vorschriften bekannt und weitere Verfassungsbeschwerden deswegen erhoben werden. Das Klageverfahren hat zum Ziel, daß möglichst bald das materiell-rechtlich richtige Ergebnis gefunden und endgültig über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Einkommensteuerbescheids entschieden wird. Es dient nicht dazu, einen Steuerbescheid möglichst lange offen zu halten, damit der Kläger weitere Streitpunkte in das Verfahren einführen kann.

Im Schrifttum wird zur Rechtfertigung der Klageerhebung trotz Vorläufigkeitserklärung geltend gemacht, die vorläufige Steuerfestsetzung benachteilige den Steuerpflichtigen insoweit, als er das Risiko für eine rechtzeitige Änderung des Einkommensteuerbescheids innerhalb eines Jahres nach Beseitigung der Ungewißheit trage. Damit der vorläufige Einkommensteuerbescheid nicht bestandskräftig wird, sei der Steuerpflichtige gezwungen, innerhalb der Jahresfrist einen Antrag an das FA auf Änderung nach § 165 Abs. 2 AO 1977 zu stellen (Neufang, Die Information über Steuer und Wirtschaft - Inf - 1993, 65; Schneider, Inf 1992, 494). Auch dieser Einwand kann aber ein Rechtsschutzinteresse für das auf Abschluß und endgültige Klärung des Rechtsstreits angelegte Klageverfahren nicht begründen. Gleiches gilt für das Rechtsschutzinteresse im Einspruchsverfahren. Es ist dem Steuerpflichtigen oder seinem Steuerberater zumutbar, nach Beseitigung der Ungewißheit einen Antrag auf Änderung des Bescheids zu stellen, um seine Bestandskraft zu verhindern. Es ist nicht gerechtfertigt, deshalb die FG mit Verfahren zu überschwemmen. Im übrigen ist die Finanzverwaltung angewiesen (vgl. BMF-Schreiben vom 19. Oktober 1992, BStBl I 1992, 632), für den Fall, daß der Bescheid nicht rechtzeitig innerhalb der Frist geändert wird, den Steuerpflichtigen im Billigkeitsweg so zu stellen, als ob der Bescheid innerhalb der Frist aufgehoben oder geändert worden wäre.

Im Streitfall ist die Klage somit mangels Rechtsschutzinteresse unzulässig. Da sie wegen Fehlens einer Sachurteilsvoraussetzung keinen Erfolg haben kann, kommt eine Aussetzung des Klageverfahrens nicht in Betracht (vgl. BFH-Beschluß vom 13. Dezember 1990 III B 519/90, BFH/NV 1991, 469). Ergänzend weist der Senat darauf hin, daß eine Prüfung, ob der Einkommensteuerbescheid im Hinblick auf verfassungsrechtliche Einwände rechtmäßig ist, auch dann nicht möglich ist, wenn das FA den Einspruch als unzulässig verworfen hat, weil wegen der vorläufigen Festsetzung das Rechtsschutzinteresse fehlt. Die Klage ist dann zwar nicht unzulässig, sondern unbegründet. Gleichwohl kann die Klage aber keine Sachprüfung des angefochtenen Einkommensteuerbescheids hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Besteuerungsgrundlagen auslösen (vgl. BFH-Urteil vom 20. September 1989 X R 8/86, BFHE 158, 205, BStBl II 1990, 177), so daß das Klageverfahren auch in diesen Fällen nicht auszusetzen ist.

Der Senat weicht mit seiner Entscheidung nicht von dem BFH-Beschluß in BFHE 169, 110, BStBl II 1993, 123 ab. Die vom III. Senat für eine Aussetzung des Klageverfahrens trotz Vorläufigkeitserklärung für maßgeblich gehaltenen Gründe gelten nur, wenn der angefochtene Einkommensteuerbescheid n a c h Klageerhebung in den Streitpunkten für vorläufig erklärt worden ist. Ist die Einkommensteuer dagegen bereits im erstmaligen Bescheid oder während des Einspruchsverfahrens vorläufig festgesetzt worden, sind insbesondere die vom III. Senat angeführten kostenrechtlichen Erwägungen unerheblich.