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  BFH-Urteil vom 10.11.1993 (II R 39/91) BStBl. 1994 II S. 187

Ein bei seiner Verkündung noch nicht vollständig abgefaßtes Urteil i. S. von § 105 Abs. 4 Satz 3 FGO ist als nicht mit Gründen versehen anzusehen, wenn Tatbestand und Entscheidungsgründe nicht binnen fünf Monaten nach seiner Verkündung niedergelegt, von den Richtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben werden (Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 27. April 1993 GmS-OGB 1/92, HFR 1993, 674; NJW 1993, 2603). Dies gilt entsprechend auch für den Fall der Zustellung des Urteils an Verkündungs Statt i. S. von § 104 Abs. 2 FGO. Die Frist von fünf Monaten beginnt in diesem Fall jedoch mit dem Ablauf des Tages, an dem das von den Richtern unterschriebene Urteil ohne Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung (§ 105 Abs. 4 Satz 2 FGO) tatsächlich der Geschäftsstelle übergeben wurde, spätestens mit dem Ablauf desjenigen Tages, an dem das Urteil der Geschäftsstelle nach § 104 Abs. 2 FGO zu übergeben gewesen wäre.

FGO § 104 Abs. 2, § 105 Abs. 4, § 119 Nr. 6.

Sachverhalt

I.

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) hat gegen einen Grunderwerbsteuerbescheid des Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) vom 27. Mai 1986 (Steuerbetrag: 1.283.975 DM) Klage vor dem Finanzgericht (FG) erhoben. In dieser Sache hat am 28. August 1990 vor dem FG eine mündliche Verhandlung stattgefunden. Am Schluß dieser mündlichen Verhandlung hat der Senatsvorsitzende den Beschluß verkündet, daß die Entscheidung den Beteiligten zugestellt werde. Das von den Richtern unterschriebene Urteil ohne Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung ist der Geschäftsstelle des FG am 14. September 1990 übergeben worden. Das vollständig abgefaßte und von allen Richtern unterschriebene Urteil, mit dem die Klage der Klägerin abgewiesen wurde, ist am 15. Februar 1991 bei der Geschäftsstelle des FG eingegangen. Mit der vom FG zugelassenen Revision macht die Klägerin u. a. neben einem Verstoß gegen § 104 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) geltend, das angefochtene Urteil sei i. S. von § 119 Nr. 6 FGO nicht mit Gründen versehen, weil es erst rund sechs Monate nach der mündlichen Verhandlung, nämlich am 25. Februar 1991, zugestellt worden sei.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des FG vom 28. August 1990 und den Grunderwerbsteuerbescheid des FA vom 27. Mai 1986 aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO), weil der geltend gemachte absolute Revisionsgrund des Fehlens von rechtlich beachtlichen Gründen (§ 119 Nr. 6 FGO) vorliegt. Eine Sachentscheidung, wie sie die Klägerin mit ihrem dem Wortlaut nach weitergehenden Revisionsantrag erstrebt, kann nicht getroffen werden.

Im Falle der Zustellung an Verkündungs Statt, wie sie das FG in der mündlichen Verhandlung vom 28. August 1990 beschlossen hat, muß das Urteil binnen zwei Wochen nach der mündlichen Verhandlung der Geschäftsstelle übergeben werden (§ 104 Abs. 2 FGO); entsprechend § 105 Abs. 4 Satz 2 FGO genügt die Niederlegung der von den Berufsrichtern unterschriebenen Urteilsformel (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 10. November 1987 VII R 47/87, BFHE 151, 328, BStBl II 1988, 283, 284, m. w. N.). Für diesen Fall sind jedoch entsprechend § 105 Abs. 4 Satz 3 FGO Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung alsbald niederzulegen, von den Richtern besonders zu unterschreiben und der Geschäftsstelle zu übergeben. Der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes hat für den Fall der Verkündung des Urteils in der mündlichen Verhandlung oder in einem eigens anberaumten Verkündungstermin das Wort "alsbald" i. S. dieser Vorschrift in seinem Beschluß vom 27. April 1993 GmS-OGB 1/92 (Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1993, 674, Neue Juristische Wochenschrift 1993, 2603) so ausgelegt, daß Tatbestand und Entscheidungsgründe binnen fünf Monaten nach Verkündung schriftlich niedergelegt, von den Richtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben werden müssen. Geschieht dies nicht, gilt ein bei der Verkündung noch nicht vollständig abgefaßtes Urteil i. S. des § 138 Nr. 6 der Verwaltungsgerichtsordnung (entspricht § 105 Abs. 4 FGO) als nicht mit Gründen versehen.

Diese Grundsätze gelten entsprechend auch für den hier zu entscheidenden Fall der Zustellung des Urteils an Verkündungs Statt. Da es jedoch in diesen Fällen an einer Verkündung des Urteils fehlt, beginnt nach Auffassung des Senats die Frist von fünf Monaten hier mit dem Ablauf des Tages, an dem das von den Richtern unterschriebene Urteil ohne Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung (§ 105 Abs. 4 Satz 2 FGO) tatsächlich der Geschäftsstelle übergeben wurde, spätestens mit dem Ablauf desjenigen Tages, an dem das Urteil der Geschäftsstelle nach § 104 Abs. 2 FGO zu übergeben gewesen wäre, d. h. nach Ablauf der Zwei-Wochen-Frist des § 104 Abs. 2 FGO (vgl. BFH in BFHE 151, 328, BStBl II 1988, 283, 284). Dies ist sachgerecht, da die danach maßgebende Frist von zwei Wochen nach der mündlichen Verhandlung der Frist entspricht, binnen der im Verkündungsfalle das Urteil spätestens zu verkünden ist (§ 104 Abs. 1 Satz 1 FGO). Ferner können die Beteiligten bei einem Vorgehen nach § 104 Abs. 2 FGO schon vor der Zustellung des vollständigen Urteils Kenntnis von der im Tenor bei der Geschäftsstelle niedergelegten Entscheidung des Gerichts erhalten, da ihnen schon vor Zustellung auf Anfrage bekanntzugeben ist, welche Entscheidung der Geschäftsstelle übergeben wurde (vgl. BFH-Urteil vom 6. November 1985 II R 217/85, BFHE 145, 120, BStBl II 1986, 175, 176).

Im Streitfall liegt zwischen dem spätesten Zeitpunkt für die Niederlegung der von den Berufsrichtern unterschriebenen Urteilsformel bei der Geschäftsstelle (Ablauf des 11. September 1990) und dem Eingang des vollständigen Urteils bei der Geschäftsstelle (15. Februar 1991) ein Zeitraum von mehr als fünf Monaten. Selbst vom Ablauf des Tages an, an dem im Streitfall die Urteilsformel der Geschäftsstelle tatsächlich verspätet übergeben wurde (14. September 1990), bis zum Eingang des vollständigen Urteils bei der Geschäftsstelle (15. Februar 1991) läge noch ein Zeitraum von mehr als fünf Monaten. Mit dieser Verspätung ist der Revisionsgrund nach § 119 Nr. 6 FGO gegeben. Daß das Urteil auf dem entscheidenden Mangel des Fehlens der Gründe beruht, wird kraft Gesetzes unwiderleglich vermutet.

Unter diesen Umständen kommt es nicht mehr auf die Frage an, ob das FG seine Entscheidung innerhalb der 14-Tage-Frist des § 104 Abs. 2 FGO getroffen hat, welche Folgen eine eventuelle verspätete Beschlußfassung hätte sowie ferner, ob in der verspäteten Übergabe eines rechtzeitig beschlossenen Urteils - für sich gesehen - ein Verfahrensfehler zu erblicken wäre (vgl. BFH-Urteil vom 22. Februar 1980 VI R 132/79, BFHE 130, 126, BStBl II 1980, 398).