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  BFH-Urteil vom 28.6.2000 (V R 72/99) BStBl. 2000 II S. 554

Erstellt ein Krankenpfleger im Auftrag des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung für Zwecke der Pflegeversicherung Gutachten zur Feststellung von Art und Umfang der Pflegebedürftigkeit der Versicherten, ist die Tätigkeit weder als ähnliche heilberufliche Tätigkeit nach § 4 Nr. 14 UStG, noch als Leistung des Medizinischen Dienstes nach § 4 Nr. 15 Buchst. a, noch nach § 4 Nr. 16 Buchst. d oder Buchst. e UStG steuerbefreit.

UStG 1993 § 4 Nr. 14, Nr. 15 Buchst. a Nr. 16 Buchst. d und e.

Vorinstanz: Niedersächsisches FG (EFG 1999, 1254)

Sachverhalt

I.

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) war längere Zeit als gelernter Krankenpfleger in einer Sozialstation tätig. Weil er diese Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben konnte, führte er im Streitjahr 1995 für den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Begutachtungen zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit aus. Hierfür bekam der Kläger vom Medizinischen Dienst jeweils eine Akte ausgehändigt, die den Antrag, die begehrten Leistungen aus der Pflegeversicherung sowie gelegentlich ärztliche Gutachten und Krankenhausberichte enthielt, welche der Kläger im Hinblick auf pflegerische Leistungen auszuwerten hatte. Der Kläger hatte keine eigenen Diagnosen zu stellen, sondern - entsprechend dem ihm vom Medizinischen Dienst ausgehändigten Fragebogen - lediglich anhand der vorhandenen Diagnosen zu beurteilen, welche pflegerischen Maßnahmen erforderlich seien und welchen zeitlichen Umfang diese beanspruchen werden. Als Entgelt erhielt der Kläger 65 DM pro Gutachten, im Streitjahr 46.345 DM. Umsatzsteuer ist nicht ausgewiesen und auch nicht bezahlt worden.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) besteuerte die Umsätze in dem unter Vorbehalt der Nachprüfung ergangenen Steuerbescheid mit dem Regelsteuersatz. Den Antrag des Klägers, den Steuerbescheid zu ändern und die Umsätze nach § 4 Nr. 14 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) 1993 als umsatzsteuerbefreit zu behandeln, lehnte das FA ab.

Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Die Entscheidung des Finanzgerichts (FG) ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1999, 1254 abgedruckt.

Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung materiellen Rechts.

Er trägt vor, das FG habe nicht berücksichtigt, dass die Feststellung der Pflegebedürftigkeit nicht ausschließlich Fragen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung betreffe und deshalb eine entsprechende Ausbildung und Berufserfahrung wie die eines Krankenpflegers oder Arztes voraussetze. Nach § 18 Abs. 1 des Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI) müsse auch festgestellt werden, ob und in welchem Umfang Maßnahmen zur Beseitigung, Minderung oder Verhütung einer Verschlimmerung der Pflegebedürftigkeit einschließlich der medizinischen Rehabilitation geeignet, notwendig und zumutbar seien. Für eine unterschiedliche Beurteilung der gleichen gutachterlichen Tätigkeit durch einen Arzt einerseits oder einen Krankenpfleger andererseits gebe es keinen Grund.

Der Kläger beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und auf seine Umsätze aus Gutachtertätigkeit (§ 4 Nr. 14 UStG) anzuwenden.

Das FA tritt der Revision entgegen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist unbegründet. Die Tätigkeit des Klägers ist weder nach § 4 Nr. 14 UStG noch nach § 4 Nr. 15 Buchst. a, § 4 Nr. 16 Buchst. d oder § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG steuerbefreit.

1. Nach § 4 Nr. 14 Satz 1 UStG sind "... die Umsätze aus der Tätigkeit als Arzt, Zahnarzt, Heilpraktiker, Krankengymnast, Hebamme oder aus einer ähnlichen heilberuflichen Tätigkeit i.S. des § 18 Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes" steuerfrei.

a) Die Anwendung der Vorschrift auf die Umsätze von Unternehmern, die Heil- oder Heilhilfsberufe ausüben, hängt zwar nicht von einer berufsrechtlichen Regelung und deren Erfüllung ab. Die Vorschrift bezweckt die Entlastung der Sozialversicherungsträger von der Umsatzsteuer. Maßgebend ist, dass die Leistungen des Unternehmers durch die "heilberufliche Tätigkeit" in der Regel von den Sozialversicherungsträgern finanziert werden (vgl. Bundesverfassungsgericht - BVerfG - Beschluss vom 29. Oktober 1999 2 BvR 1264/90, Umsatzsteuer-Rundschau - UR - 1999, 494). Voraussetzung für die Steuerbefreiung ist jedoch stets eine heilberufliche Tätigkeit; andere Umsätze umfasst die Steuerbefreiung deshalb auch dann nicht, wenn diese durch die Sozialversicherungsträger finanziert werden (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 3. Februar 2000 V R 1/98, Der Betrieb - DB - 2000, 1107, UR 2000, 250; Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften - EuGH -).

b) Leistungen durch Behandlungspflege (das sind Pflegemaßnahmen, die durch die Erkrankung veranlasst sind) im Rahmen der häuslichen Krankenpflege durch Krankenschwestern oder Krankenpfleger sind ähnliche heilberufliche Tätigkeiten i.S. von § 4 Nr. 14 Satz 1 UStG (BFH-Beschluss vom 16. März 2000 V R 1/98, DB 2000, 1107; BFH-Urteile vom 26. August 1993 V R 45/89, BFHE 172, 223, BStBl II 1993, 887; vom 30. September 1999 V R 56/97, BFHE 189, 569, UR 2000, 33, m.w.N.). Für Leistungen durch Grundpflege (d.h. Körperpflege, Zubereiten und Aufnahme der Nahrung sowie An- und Auskleiden, Aufstehen und Zubettgehen) und hauswirtschaftliche Versorgung (z.B. Einkaufen, Kochen, Wohnungsreinigung und Waschen der Kleidung) gilt die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 14 Satz 1 UStG nicht (BFH-Urteil in BFHE 189, 569, UR 2000, 33, m.w.N.).

c) Die Beschränkung der Steuerbefreiung in § 4 Nr. 14 UStG auf Leistungen, die die menschliche Gesundheit betreffen, entspricht Art. 13 A Abs. 1 Buchst. c der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG). Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH handelt es sich bei dieser Bestimmung um solche steuerbefreiten Leistungen, die "im Rahmen einer auf Vertrauen gegründeten Beziehung zwischen Patient und Behandelndem" erbracht werden (EuGH-Urteil vom 23. Februar 1988, Rs. 353/85, Slg. 1988, 817 - Kommission/Vereinigtes Königreich); das schließt andere berufliche Leistungen, auch wenn sie eine bestimmte heil- oder heilhilfsberufliche Ausbildung voraussetzen, aus, wenn sie sich nicht als "heilberufliche Tätigkeiten" qualifizieren lassen.

d) Ob eine Gutachtentätigkeit, deren Kosten von einem Träger der Sozialversicherung erstattet werden, als "heilberufliche Tätigkeit" qualifiziert werden kann, richtet sich nach dem Gegenstand des Gutachtens, d.h. danach, ob es im unmittelbaren Zusammenhang mit einer heilberuflichen Behandlung steht. Deshalb sind auch ärztliche Gutachten nicht - wie der Kläger unter Hinweis auf die Vergleichbarkeit der Tätigkeit meint - schlechthin von der Umsatzsteuer befreit (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 11. November 1971 V R 99/68, BFHE 104, 116, BStBl II 1972, 301, zu § 4 Nr. 11 UStG 1951; Niedersächsisches FG-Urteil vom 14. Dezember 1981 V 358/79, EFG 1982, 323).

e) Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den Streitfall handelt es sich bei den Leistungen des Klägers nicht um Umsätze aus einer ähnlichen heilberuflichen Tätigkeit i.S. des § 4 Nr. 14 UStG.

Der Kläger hatte für den Medizinischen Dienst festzustellen, ob die Voraussetzungen der Pflegebedürftigkeit erfüllt sind und welche Stufe der Pflegebedürftigkeit vorliegt (vgl. § 18 Abs. 1 SGB XI). § 14 Abs. 1 SGB XI beschreibt als pflegebedürftig "Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens der Hilfe bedürfen". Gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen in diesem Sinne sind nach § 14 Abs. 4 SGB XI

- Im Bereich der Körperpflege das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren, die Darm- und Blasenentleerung,

- im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung,

- im Bereich der Mobilität das selbständige Aufstehen und Zu-Bett- Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen, oder das Verlassen oder Wiederaufsuchen der Wohnung,

- im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung das Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung oder das Beheizen.

Die Stufen der Pflegebedürftigkeit richten sich nach dem Grad der Einschränkung des Anspruchsberechtigten bei den bezeichneten Verrichtungen, wobei der zeitliche Aufwand für die Grundpflege maßgebend ist. Die im Verfahren zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit durchzuführende Begutachtung (§ 18 SGB XI) betrifft hiernach Art und Umfang der erforderlichen Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung; sie umfasst zwar nach § 18 Abs. 1 Satz 2 SGB XI auch die Prüfung, ob und ggf. in welchem Umfang Maßnahmen zur Beseitigung, Minderung oder Verhütung einer Verschlimmerung der Pflegebedürftigkeit einschließlich der medizinischen Rehabilitation geeignet, notwendig und zumutbar sind. Insoweit kann die Begutachtung auch einen Bezug zur Behandlungspflege haben. Nach den nicht mit Verfahrensrügen angefochtenen (vgl. § 118 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -) tatsächlichen Feststellungen des FG gehörte aber die Begutachtung evtl. notwendiger Behandlungspflege nicht zum Aufgabenbereich des Klägers.

2. Auch die Voraussetzungen für eine Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 16 Buchst. d oder Buchst. e UStG liegen nicht vor.

Danach sind u.a. die mit dem Betrieb der Altenheime, Altenwohnheime, Pflegeheime, Einrichtungen zur vorübergehenden Aufnahme pflegebedürftiger Personen und der Einrichtungen zur ambulanten Pflege kranker und pflegebedürftiger Personen eng verbundenen Umsätze befreit, wenn weitere in Buchst. d und Buchst. e bezeichnete Voraussetzungen vorliegen. Die Tätigkeit des Klägers hängt zwar mit der Übernahme der Kosten für die Aufnahme in eine dieser Einrichtungen bzw. für die Kosten der ambulanten Pflege zusammen. Die Befreiung erfasst jedoch nur die Leistungen der in der jeweiligen Bestimmung bezeichneten Einrichtungen selbst. Der Kläger unterhält keine dieser Einrichtungen.

3. Die Leistungen des Klägers sind auch nicht nach § 4 Nr. 15 Buchst. a UStG steuerbefreit. Hiernach sind von den unter § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 UStG fallenden Umsätzen steuerfrei die auf Gesetz beruhenden Leistungen der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung (§ 278 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch - SGB V -) und des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen (§ 282 SGB V) untereinander und für die gesetzlichen Träger der Sozialversicherung und deren Verbände. Die in der Vorschrift genannten Umsätze sind durch das Gesetz zur Ergänzung des Jahressteuergesetzes 1996 und zur Änderung anderer Gesetze vom 18. Dezember 1995 (BGBl I 1995, 1959 = BStBl I 1995, 786) rückwirkend mit Wirkung ab dem 1. Januar 1991 (Art. 30 Abs. 3 des Gesetzes) befreit worden. "Medizinischer Dienst" sind die nach § 278 SGB V in jedem Land von den Landesverbänden der Orts-, Betriebs- und Innungskrankenkassen, landwirtschaftlichen Krankenkassen und der Verbände der Ersatzkassen errichteten und gemeinsam getragenen Arbeitsgemeinschaften "Medizinischer Dienst der Krankenversicherung" bzw. der gemäß § 282 SGB V auf Bundesebene zur Koordinierung gebildete "Medizinische Dienst Spitzenverbände der Krankenkassen".

Die Voraussetzungen dieser Befreiung liegen nach deren Wortlaut nicht vor, denn befreit sind nur die auf Gesetz beruhenden Leistungen der Medizinischen Dienste selbst. Zwar darf der Medizinische Dienst - wie beispielsweise in § 18 Abs. 6 SGB XI vorgesehen - die gesetzlich vorgesehene Begutachtung auch Personen überlassen, die nicht selbst dem Medizinischen Dienst angehören. Dies allein rechtfertigt jedoch nicht, die Befreiung auch auf deren Leistungen auszudehnen.