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BFH-Beschluß vom 7.5.1981 (IV B 60/80) BStBl. 1981 II S. 634

Dem Leiter der Finanzbehörde kann nicht durch einstweilige Anordnung aufgegeben werden, einen Amtsträger von der Mitwirkung in einem Steuerverfahren wegen Besorgnis der Befangenheit auszuschließen.

AO 1977 § 83 Abs. 1 Satz 1; FGO § 114 Abs. 1.

Vorinstanz: Niedersächsisches FG

Sachverhalt

Die Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteiler), die in ihrer Einkommensteuersache 1976 und 1977 beim Antragsgegner und Beschwerdegegner (Finanzamt - FA -) ein Einspruchsverfahren führten, äußerten in einem Schreiben an den Vorsteher des FA, der Leiter der Rechtsbehelfsstelle, Regierungsdirektor W, habe in einem Telefongespräch mit ihrem Bevollmächtigten den Eindruck der Voreingenommenheit und mangelnden Objektivität erweckt; sie beantragten, ihn von der weiteren Bearbeitung der Einspruchssache wegen Besorgnis der Befangenheit auszuschließen. Der Vorsteher wies die Vorwürfe gegen W als unberechtigt zurück; er teilte jedoch mit, er habe sich, um keine Zweifel an einer unparteiischen Entscheidung aufkommen zu lassen, die abschließende Zeichnung aller Verfügungen in der Angelegenheit vorbehalten.

Die Antragsteller legten erfolglos Beschwerde ein. Die Oberfinanzdirektion (OFD) hielt die Beschwerde für nicht statthaft, weil die Abgabenordnung (AO 1977) für einen Verfahrensbeteiligten kein förmliches Ablehnungs- und Beschwerderecht wegen Besorgnis der Befangenheit eines Amtsträgers vorsehe.

Die Antragsteller beantragten daraufhin beim Finanzgericht (FG) den Erlaß einer einstweiligen Anordnung, durch die dem Vorsteher des FA untersagt werden sollte, W bei der Bearbeitung der Einspruchssache mitwirken zu lassen. Außerdem sollten die von W getroffenen Maßnahmen rückgängig gemacht, die von W angefertigten Schriftstücke aus den Akten entfernt und die Angelegenheit einem anderen Amtsträger zur Bearbeitung zugewiesen werden.

Das FA schloß das Einspruchsverfahren mit einer - von dem Vorsteher abschließend gezeichneten Einspruchsentscheidung ab, es setzte die Einkommensteuer niedriger fest und wies den Einspruch im übrigen zurück. Gegen die Einspruchsentscheidung erhoben die Antragsteller Klage, über die das FG noch nicht entschieden hat.

Ihren Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung änderten die Antragsteller, indem sie nunmehr begehrten, W von der Bearbeitung der Klagesache auszuschließen; im übrigen hielten sie den bisher gestellten Antrag aufrecht.

Das FG wies den Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung zurück. Gegen den Beschluß des FG, der in Entscheidungen der Finanzgerichte 1981 S. 3 (EFG 1981, 3) veröffentlicht ist, haben die Antragsteller Beschwerde eingelegt. Das FA ist der Beschwerde entgegengetreten.

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde ist nicht begründet. Das FG hat mit zutreffenden Erwägungen den Erlaß einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.

Der Senat geht mit dem FG davon aus, daß die Voraussetzungen für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung (§ 114 Abs. 1 bis 3 der Finanzgerichtsordnung - FGO -) im Streitfall nicht vorliegen. Nach § 114 Abs. 3 FGO i. V. m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung (ZPO) muß der Antragsteller einen "Anspruch" und einen "Grund" für die einstweilige Anordnung glaubhaft machen. Das Vorliegen eines "Anspruchs" hat das FG im Streitfall zu Recht verneint, weil die Antragsteller keinen im Klagewege verfolgbaren selbständigen Anspruch auf Ausschließung des Leiters der Rechtsbehelfsstelle wegen Besorgnis der Befangenheit haben. Sie können gegen die Weigerung des Vorstehers, den Leiter der Rechtsbehelfsstelle von der Bearbeitung ihrer Einkommensteuersache auszuschließen, weder mit einer Verpflichtungsklage noch mit einer sonstigen Leistungsklage vorgehen. Dies ergibt die Auslegung von § 83 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 unter Berücksichtigung des Wortlauts, der Entstehungsgeschichte und der systematischen Stellung.

Nach § 83 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 hat der Amtsträger den Leiter der Behörde oder den von ihm Beauftragten zu unterrichten, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Mißtrauen in seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen oder wenn von einem Beteiligten das Vorliegen eines solchen Grundes behauptet wird, wenn der Leiter der Behörde oder der von ihm Beauftragte es anordnet, hat sich der Amtsträger der Mitwirkung in dem Verfahren zu enthalten.

Nach dem Wortlaut verschafft § 83 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 kein förmliches Ablehnungsrecht, sondern stellt nur klar, daß der Verfahrensbeteiligte behaupten kann, es liege bei dem Amtsträger ein Grund vor, der geeignet ist, Mißtrauen in seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Die Anordnung des Leiters der Behörde oder des von ihm Beauftragten, durch die der Amtsträger von der Mitwirkung in einem Verwaltungsverfahren ausgeschlossen oder eine Ausschließung abgelehnt wird, ergeht nicht als selbständiger Verwaltungsakt (§ 118 AO 1977) gegenüber dem Verfahrensbeteiligten, sie ist vielmehr eine der endgültigen Entscheidung vorausgehende innerdienstliche Maßnahme.

Daß § 83 AO 1977 ein selbständiges Recht des Verfahrensbeteiligten zur Ablehnung eines Amtsträgers wegen Besorgnis der Befangenheit ausschließen will, folgt auch aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift. Bereits § 69 der früheren Reichsabgabenordnung (AO) war so abgefaßt und wurde so verstanden, daß er kein selbständiges Ablehnungsrecht vermittelte. In § 33 des (Bundesregierungs-)Entwurfs einer Abgabenordnung 1974 vom 30. Dezember 1970 (Bundesrats-Drucksache 23/71 und Bundestags-Drucksache VI/1982) wurde ebenfalls eine Formulierung gewählt, durch die ein selbständiges Ablehnungsrecht ausgeschlossen werden sollte, weil - so die amtliche Begründung - anderenfalls zu befürchten sei, daß durch Ablehnungsstreitigkeiten die zügige Durchführung von Verwaltungsverfahren gefährdet werden könnte. Innerhalb der Arbeitsgruppe "AO-Reform" des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages wurde zur Diskussion gestellt, ob nicht - entgegen dem Regierungsentwurf dem Verfahrensbeteiligten ein Recht auf Ablehnung eines Amtsträgers wegen Besorgnis der Befangenheit zugestanden werden sollte. Nach dem Ergebnis der Aussprache hielt die Arbeitsgruppe die Interessen des Verfahrensbeteiligten auch ohne ein selbständiges Ablehnungsrecht wegen der Möglichkeit der Gegenvorstellung für ausreichend gewahrt, da der Leiter der Behörde von Amts wegen darüber zu wachen habe, daß voreingenommene oder nicht unparteiische Amtsträger sich der Mitwirkung in einem Verwaltungsverfahren enthielten. Bei einem förmlichen Ablehnungsrecht befürchtete man erhebliche Gefahren für die zügige Durchführung des Verfahrens, namentlich auf dem Gebiet der Betriebsprüfung. Nachdem das Gesetzesvorhaben vom VI. Deutschen Bundestag nicht zu Ende geführt und in den VII. Deutschen Bundestag durch eine Gesetzesinitiative der Fraktionen der SPD und FDP neu eingebracht worden war (Bundestags-Drucksache 7/79), wurde an die Beratungsergebnisse der Arbeitsgruppe "AO-Reform" angeknüpft. Dabei wurde nunmehr in § 83 des Entwurfs einer AO 1977 - die Regelung der Besorgnis der Befangenheit an § 17 des Entwurfs eines Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) redaktionell angepaßt; es wurde klargestellt, daß der Leiter der Behörde oder der von ihm Beauftragte das in § 83 AO 1977 normierte Prüfungsverfahren auch dann durchzuführen hat, wenn ein Verfahrensbeteiligter behauptet, es liege ein Grund zur Besorgnis der Befangenheit vor (Bericht des Finanzausschusses, Bundestags-Drucksache 7/4292, S. 24), ohne daß auf diese Weise den Beteiligten ein selbständiges Ablehnungsrecht eingeräumt werden sollte. In dieser Form wurde der Entwurf Gesetz.

Die Entstehungsgeschichte zeigt, daß der Gesetzgeber ein förmliches Ablehnungsrecht - etwa nach dem Vorbild von § 42 ZPO - und verselbständigte Ablehnungsstreitigkeiten bewußt ausschließen wollte. Wie auf dem Gebiet des Abgabenrechts regelte der Gesetzgeber zur gleichen Zeit die Besorgnis der Befangenheit von Amtsträgern in § 21 VwVfG auf dem Gebiet des allgemeinen Verwaltungsrechts. Dem bis dahin bundesrechtlich nicht kodifizierten allgemeinen Verwaltungsrecht war nach herrschender, wenn auch bestrittener Ansicht ein förmliches und selbständig verfolgbares Ablehnungsrecht fremd (Urteil des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 26. Januar 1968 VII C 6/66, BVerwGE 29, 70; Badura in Erichsen/Martens, Allgemeines Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 1979, § 38 II, S. 282 f. mit weiteren Nachweisen; anderer Ansicht Ule, Deutsches Verwaltungsblatt 1957 S. 597, 602 - DVBl 1957, 597, 602 -; Kirchhof, Verwaltungsarchiv Bd. 66 - 1975 -, S. 370, 382). Der Gesetzgeber hat in § 21 VwVfG die bis dahin herrschende Ansicht bestätigt und die Anerkennung eines selbständigen Ablehnungsrechts auf dem Gebiet einzelner Verwaltungsverfahren besonderer gesetzlicher Regelung vorbehalten. Dies ist auch bei der Auslegung von § 83 AO 1977 zu berücksichtigen, weil der Gesetzgeber eine tunlichst inhaltsgleiche Kodifizierung des Verfahrensrechts auf dem Gebiet des Abgabenwesens und des allgemeinen Verwaltungsrechts angestrebt hat.

Daß es im Steuerverwaltungsrecht nach § 83 AO 1977 keinen selbständig verfolgbaren Anspruch auf Ablehnung eines Amtsträgers gibt, läßt sich bei systematischer Gesetzesauslegung mittelbar auch der Regelung des § 84 AO 1977 entnehmen. Danach kann ein Verfahrensbeteiligter ein Mitglied eines in einem Verwaltungsverfahren tätigen Ausschusses ablehnen, bei dem die Besorgnis der Befangenheit besteht. Die Entscheidung über das Ablehnungsgesuch kann nur zusammen mit der das Verfahren vor dem Ausschuß abschließenden Entscheidung angefochten werden. Es kann nicht davon ausgegangen werden, daß das Gesetz, wenn es in § 84 AO 1977 die Weiterverfolgung eines Ablehnungsgesuchs gegenüber einem Ausschußmitglied in einem selbständigen Verfahren ausdrücklich ausschließt, in § 83 AO 1977 von der Statthaftigkeit eines selbständigen Ablehnungsanspruchs gegenüber einem Amtsträger ausgeht.

Der Senat stimmt deshalb der in der Literatur zu § 83 AO 1977 und § 21 VwVfG überwiegend vertretenen Ansicht zu, nach der ein Verfahrensbeteiligter, der gegen einen Amtsträger die Besorgnis der Befangenheit äußert, gegen die ablehnende Entscheidung des Leiters der Behörde nicht mit selbständigen Rechtsbehelfen vorgehen kann (Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 83 AO 1977 Anm. 10; Tipke/Kruse, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, § 83 AO 1977 Anm. 2; Kühn/Kutter/Hoffmann, Abgabenordnung (AO 1977), § 83 Anm. 2; Koch, Abgabenordnung, AO 1977, 2. Aufl., § 83 Anm. 5; Knack, Verwaltungsverfahrensgesetz, § 21 Anm. 5; Kopp, Verwaltungsverfahrensgesetz, § 21 Anm. 2 und 9; Stelkens/Bonk/Leonhardt, Verwaltungsverfahrensgesetz, § 21 Anm. 13; Badura bei Erichsen/Martens, a. a. O. , S. 282 f.; Ule/Laubinger, Verwaltungsverfahrensrecht, 2. Aufl. 1979, § 12 III 4; Redeker/v. Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, § 44a Anm. 3; anderer Ansicht: Ziemer/Haarmann/Lohse, Rechtsschutz in Steuersachen, Tz. 2699; Klein/Orlopp, Abgabenordnung, 2 Aufl. Anm. zu § 83).

Bei dieser Auslegung des Gesetzes wird der Verfahrensbeteiligte nicht rechtsschutzlos gestellt. Der das Verwaltungsverfahren abschließende Steuerverwaltungsakt ist nicht nur dann fehlerhaft und anfechtbar, wenn einer Anordnung des Behördenleiters oder des von ihm Beauftragten nicht Folge geleistet wird, sondern auch dann, wenn eine solche Anordnung unterblieben ist, obwohl sie hätte ergehen müssen (Badura, a. a. O. ; Knack, a. a. O. ; Koch, a. a. O. ; Kopp, a. a. O. , § 21 Anm. 8 mit weiteren Nachweisen). Es gibt zwar für den Verfahrensbeteiligten keine verfassungsmäßige Garantie des gesetzlichen Amtsträgers (Mußgnug, Das Recht auf den gesetzlichen Verwaltungsbeamten?, 1970, S. 9, 10, 16; Kirchhof, a. a. O., S. 370, 382; Meyer/Borgs, Verwaltungsverfahrensgesetz, § 21 Anm. 5). Die Mitwirkung eines nicht unparteiischen Amtsträgers im Steuerfestsetzungs- und Einspruchsverfahren ist aber ein Verfahrensfehler, der im Rechtsbehelfsverfahren zur Aufhebung des Verwaltungsaktes führt, es sei denn 127 AO 1977), daß in der Sache selbst keine andere Entscheidung hätte getroffen werden können (Tipke/Kruse, a. a. O. , § 83 AO 1977 Anm. 2).

Ebenso wie die Antragsteller durch Erhebung der Anfechtungsklage in der Einkommensteuersache selbst endgültigen Rechtsschutz in Anspruch nehmen können - von dieser Möglichkeit haben sie Gebrauch gemacht -, können sie unter den Voraussetzungen des § 69 Abs. 3 FGO und des Art. 3 § 7 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit auch vorläufigen Rechtsschutz durch Antrag auf gänzliche oder teilweise Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Einkommensteuerbescheide in der Fassung der inzwischen ergangenen Einspruchsentscheidung erlangen. Im Rahmen eines solchen Verfahrens bleibt es ihnen unbenommen darzutun, daß die Entscheidungen des FA durch die Mitwirkung eines nach ihrer Ansicht nicht unparteiischen Amtsträgers beeinflußt seien. Daneben kann vorbeugender oder vorläufiger Rechtsschutz gegen die Mitwirkung eines nach Ansicht des Verfahrensbeteiligten nicht unparteiischen Amtsträgers durch Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung (§ 114 FGO) nicht begehrt werden.