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BFH-Urteil vom 19.2.1981 (IV R 161/77) BStBl. 1981 II S. 652

Kanaldielen sind auch dann als einer selbständigen Nutzung fähige Wirtschaftsgüter i. S. des § 6 Abs. 2 EStG a. F. anzusehen, wenn sie zum Zwecke der Vermietung an Bauunternehmen angeschafft werden (Anschluß an BFH-Urteil vom 28. Juli 1976 I R 232/74, BFHE 119, 459, BStBl II 1977, 144).

EStG a.F. und n.F. § 6 Abs. 2.

Vorinstanz: FG Düsseldorf

Sachverhalt

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (im folgenden Klägerin) betreibt die Vermietung und den Verkauf von Baugeräten und Baumaschinen. Im Rahmen ihres Geschäftsbetriebes vermietet sie auch Kanaldielen an Bauunternehmen.

Im Streitjahr schaffte die Klägerin Kanaldielen im Wert von 157.134,70 DM an und machte von der Bewertungsfreiheit für geringwertige Wirtschaftsgüter gemäß § 6 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) Gebrauch.

Nach einer Betriebsprüfung für die Jahre 1966 bis 1970 versagte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) bei der einheitlichen Gewinnfeststellung 1970 die Bewertungsfreiheit, weil nach seiner Auffassung die Kanaldielen als genormte und aufeinander abgestimmte Gerüst- und Schalungsteile nicht selbständig nutzungsfähig seien. Er aktivierte die Anschaffungskosten und schrieb sie auf eine Nutzungsdauer von fünf Jahren ab.

Nach erfolglosem Einspruch erhob die Klägerin Klage. Sie trug vor: Bei den Kanaldielen handele es sich nicht um ein einheitliches Ganzes, sondern um geringwertige Wirtschaftsguter, die nicht nur selbständig bewertungsfähig, sondern auch selbständig nutzungsfähig seien. Die zu Trennwänden zusammengefügten Kanaldielen seien ohne Veränderung und Beschädigung jederzeit auswechselbar und auch als Einzelteile funktions- und verwendungsfähig.

Die Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte aus, im Gegensatz zur früheren Rechtsprechung lege die neuere Rechtsprechung das Tatbestandsmerkmal der selbständigen Nutzungsfähigkeit weit aus, da mit der durch § 6 Abs. 2 EStG erstrebte Vereinfachungszweck nicht verlorengehe (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 18. November 1975 VIII R 9/73, BFHE 117, 243, BStBl II 1976, 214. Nach dieser Rechtsprechung sei das Merkmal der selbständigen Nutzungsfähigkeit gegeben, wenn das zu beurteilende Wirtschaftsgut nicht als Teil eines einheitlichen Ganzen anzusehen sei. Die selbständige Nutzungsfähigkeit sei nicht schon dann zu verneinen und die Bewertungsfreiheit zu versagen, wenn das Wirtschaftsgut in eine größere Einheit eingeordnet sei und in diesem Zusammenhang eine bestimmte Funktion ausübe, sondern nur dann, wenn der Nutzungszusammenhang mit anderen Wirtschaftsgütern der Einheit unauflöslich und das Wirtschaftsgut außerhalb dieser Einheit einer Nutzung nicht mehr fähig sei (BFH-Urteil vom 28. Juli 1976 I R 232/74, BFHE 119, 459, BStBl II 1977, 144).

Der Bestand an Kanaldielen bilde keine unauflösliche Einheit in dem Sinne, daß die einzelne Kanaldiele außerhalb dieser Einheit einer selbständigen Nutzung nicht mehr fähig wäre.

Mit der Revision rügt das FA fehlerhafte Anwendung des § 6 Abs. 2 EStG. Es vertritt die Auffassung, daß Kanaldielen, die in Tiefbauunternehmen bestimmungsgemäß zur Zusammensetzung von Trennwänden verwendet würden, nicht als selbständig nutzungsfähige Wirtschaftsgüter anzusehen seien. Das BFH-Urteil in BFHE 119, 459, BStBl II 1977, 144 sei auf Anweisung des Bundesministers der Finanzen (BdF) - Schreiben vom 11. März 1977 IV B 2 - S 2180 - 5/77 (BStBl I 1977, 88) - über den entschiedenen Einzelfall hinaus nicht anzuwenden. Bei den Kanaldielen handele es sich um in den Nutzungszusammenhang eingefügte Wirtschaftsgüter, die technisch aufeinander abgestimmt seien. Sie seien im Betrieb nur in dieser Verbindung nutzbar. Bei solchen Wirtschaftsgütern könne eine selbständige Nutzungsfähigkeit des einzelnen Wirtschaftsgutes nicht angenommen werden, wenn eines der verbundenen Wirtschaftsgüter durch die Trennung seine Nutzbarkeit verliere, weil seine technische Gestaltung eine Nutzung nur bei einer dauernden Verbindung mit dem getrennten Teil ermögliche.

Im übrigen sei das Urteil des BFH in BFHE 119, 459, BStBl II 1977, 144 mit dem vorliegenden Fall insofern nicht vergleichbar, als die Klägerin die Kanaldielen ihrem Anlagevermögen zuführe, um sie an Tiefbauunternehmen zu vermieten, während im obigen Urteilsfall die Kanaldielen von einem Bauunternehmen angeschafft worden seien, das sie im eigenen Unternehmen verwendete.

Nach dem BdF-Schreiben vom 11. März 1977 habe die Ergänzung des § 6 Abs. 2 EStG durch das Einführungsgesetz zur Abgabenordnung vom 14. Dezember 1976 - EGAO 1977- (BGBl I, 3341, BStBl l, 694) lediglich klarstellende Bedeutung. Die vorstehenden Grundsätze seien deshalb auch bei der Gewinnermittlung für die Wirtschaftsjahre zu beachten, die vor dem Inkrafttreten des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung 1977 beendet gewesen seien.

Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Sie führt u. a. , aus, die Revisionsrüge des FA richte sich gegen das die Entscheidung des FG tragende Urteil des BFH in BFHE 119, 459, BStBl II 1977, 144. Der BdF habe diese Entscheidung erst am 12. März 1977 im BStBl II, 144 veröffentlicht. Die Vorschrift des § 6 Abs. 2 EStG, um dessen Auslegung es im Revisionsfall gehe, sei in der Zeit zwischen dem Urteilsspruch vom 28. Juli 1976 und seiner Veröffentlichung am 12. März 1977 neu gefaßt und am 14. Dezember 1976 im Einführungsgesetz zur Abgabenordnung veröffentlicht worden. Obwohl das FA selbst in der Revisionsbegründungsschrift von einer Gesetzesänderung spreche, verwende es eben diese neue Rechtslage dazu, um ein zur alten Rechtslage ergangenes Urteil anzufechten. Dabei beanspruche die Neufassung des § 6 Abs. 2 EStG für sich selbst keine rückwirkende Kraft; denn nach Art. 102 EGAO trete die Vorschrift erst am 1. Januar 1977 in Kraft.

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA ist unbegründet.

Nach § 6 Abs. 2 EStG in der für das Streitjahr 1970 geltenden Fassung konnten Steuerpflichtige unter weiteren hier nicht streitigen Voraussetzungen die Anschaffungs- oder Herstellungskosten von beweglichen Wirtschaftsgütern des Anlagevermögens, die einer selbständigen Bewertung und Nutzung fähig waren, im Jahr der Anschaffung oder Herstellung in voller Höhe als Betriebsausgaben absetzen, wenn die Anschaffungs- oder Herstellungskosten 800 DM nicht überstiegen.

Die Vorschrift ist durch Art. 9 Nr. 2 EGAO 1977 u. a. durch die Streichung des Tatbestandsmerkmals der selbständigen Bewertungsfähigkeit und durch folgende hinzugefügte Sätze ergänzt worden: "Ein Wirtschaftsgut ist einer selbständigen Nutzung nicht fähig, wenn es nach seiner betrieblichen Zweckbestimmung nur zusammen mit anderen Wirtschaftsgütern des Anlagevermögens genutzt werden kann und die in den Nutzungszusammenhang eingefügten Wirtschaftsgüter technisch aufeinander abgestimmt sind. Das gilt auch, wenn das Wirtschaftsgut aus dem betrieblichen Nutzungszusammenhang gelöst und in einen anderen betrieblichen Nutzungszusammenhang eingefügt werden kann..." Nach Art. 102 Abs. 1 EGAO 1977 gilt diese erweiterte Gesetzesfassung ab 1. Januar 1977.

Die Meinung des BdF, von der auch die Revision des FA ausgeht, daß die einschränkende Ergänzung des Gesetzes nur als eine Klarstellung des schon bisher bestehenden Rechtszustandes angesehen werden könne, hat der erkennende Senat im Urteil vom 26. Juli 1979 IV R 170/74 (BFHE 129, 315, BStBl II 1980, 176) abgelehnt. Er hält die Ergänzung vielmehr für eine Gesetzesänderung, für die der Gesetzgeber auch keine Rückwirkung vorgeschrieben hat. Diese Auffassung wird offenbar auch vom III. Senat des BFH im Urteil vom 9. Dezember 1977 III R 94/76 (BFHE 124, 182, BStBl 1978, 322) vertreten.

Bei den 1970 von der Klägerin angeschafften Kanaldielen steht außer Frage, daß jede einzelne Diele zu den beweglichen, selbständig bewertbaren Wirtschaftsgütern des Anlagevermögens der Klägerin gehört und ihre Anschaffungskosten 800 DM nicht übersteigen. Streit besteht lediglich über das Erfordernis der selbständigen Nutzungsfähigkeit. Bei diesen Kanaldielen handelt es sich um eine Vielzahl von Gegenständen des beweglichen Anlagevermögens, die in der Regel nur zusammengesetzt verwendet werden, aber ebenso wieder voneinander gelöst oder getrennt und von der Klägerin in unterschiedlichen Einheiten zu diesem Zweck vermietet werden. Bei derartigen Wirtschaftsgütern kommt es nach der seit dem grundlegenden Urteil vom 16. Dezember 1958 I 286/56 S (BFHE 68, 198, BStBl III 1959, 77) bis zum Urteil vom 28. März 1973 I R 105/71 (BFHE 109, 323, BStBl II 1974, 2) insoweit einheitlichen Rechtsprechung des BFH darauf an, ob diese Gegenstände im Betrieb eine sogenannte Sachgesamtheit - nach der späteren Begriffsbestimmung - ein einheitliches Ganzes bilden, ob also der einzelne Gegenstand oder das einheitliche Ganze der Gegenstände das einer selbständigen Bewertung und Nutzung fähige Wirtschaftsgut i. S. des § 6 Abs. 2 EStG darstellen. Im Urteil in BFHE 68, 198, BStBl III 1959, 77 ist dazu ausgeführt, das Bild des einheitlichen Ganzen werde sich in vielen Fällen schon aus der betrieblich bedingten Art und Dauer der Verbindung und der Abstimmung der verbundenen Wirtschaftsgüter aufeinander ergeben. Die Festigkeit der Verbindung, ihre technische Gestaltung und ihre Dauer könnten im Einzelfall von Bedeutung sein. Sie seien nicht immer entscheidend. Dies zeige sich z. B. bei den technisch abgestimmten und genormten Gerüstteilen der Bauwirtschaft, die einzeln keiner selbständigen Nutzung fähig seien, obwohl sie nach Erfüllung eines zeitlich begrenzten Zweckes jeweils wieder voneinander getrennt und erneut in anderer Form verbunden würden. Seien die miteinander verbundenen Gegenstände technisch aufeinander abgestellt, so träten sie nach außen in der Regel als einheitliches Ganzes in Erscheinung und seien im Betrieb nur in dieser Verbindung nutzbar. Verliere im Fall der Trennung nicht nur der zu beurteilende Gegenstand, sondern auch das Wirtschaftsgut, aus dem er getrennt werde, die selbständige Nutzungsfähigkeit im Betrieb, weil die technische Gestaltung auf diese Verbindung eingestellt sei, so werde in der Regel die Verbindung ein einheitliches Ganzes darstellen und die Bewertungsfreiheit einzelner Teile zu verneinen sein.

Nach diesen Kriterien erschiene es fraglich, ob die einzelnen Kanaldielen im Betrieb eines Tiefbauunternehmens einer selbständigen Nutzung fähig wären. Denn sie bilden - ebenso wie die genormten Gerüstteile der Bauwirtschaft - in der Regel ein einheitliches Ganzes, allerdings mit der Besonderheit, daß einzelne Kanaldielen bei entsprechendem Fortschritt des Bauwerkes aus ihrem Nutzungszusammenhang gelöst werden können, ohne daß dabei das einheitliche Ganze, z. B. die betreffende Trennwand, und die Kanaldiele selbst ihre Nutzungsfähigkeit einbüßen.

Durch das Urteil in BFHE 109, 323, BStBl II 1974, 2 hat der I. Senat den Begriff der selbständigen Nutzungsfähigkeit gegenüber der bis dahin geltenden Rechtsprechung des BFH erweiternd ausgelegt. Ein Wirtschaftsgut verliert nach dieser Entscheidung seine selbständige Nutzungsfähigkeit nur noch, wenn der Nutzungszusammenhang mit anderen Wirtschaftsgütern der Einheit unauflöslich ist. Das sei immer dann zu verneinen, wenn das Wirtschaftsgut ohne wesentliche Veränderung aus seinem bisherigen Nutzungszusammenhang herausgenommen und in einen anderen Nutzungszusammenhang gestellt werden könne. Dieser Auffassung hat sich der VIII. Senat des BFH im Urteil vom 18. November 1975 VIII R 9/73 (BFHE 117, 243, BStBl II 1976, 214) angeschlossen. Folgerichtig gelangte der I. Senat im Urteil in BFHE 119, 459, BStBl II 1977, 144 zu dem Ergebnis, daß bei einem Bauunternehmen die aus Walzstahl bestehenden Kanaldielen, die im Tiefbau zum Abstützen von Erdwänden verwendet werden, einer selbständigen Bewertung und Nutzung i. S. des § 6 Abs. 2 EStG fähig seien. In der Begründung des Urteils ist ausgeführt, der Bestand an Kanaldielen eines Tiefbauunternehmens bilde keine unauflösliche Einheit in dem Sinne, daß die einzelne Kanaldiele außerhalb dieser Einheit einer selbständigen Nutzung nicht mehr fähig wäre. Die Ränder der Kanaldielen seien zwar profiliert, so daß das Zusammensetzen der Kanaldielen zu Wänden, die der Abstützung von Gruben und Grabenwänden dienten, erleichtert werde. Derartige Trennwände könnten aber ohne große technische Vorkehrungen wieder auseinandergenommen und die einzelnen Kanaldielen in einem anderen Nutzungszusammenhang wiederverwendet werden. Sie seien somit in vielerlei Zusammenhang und auch einzeln funktions- und verwendungsfähig.

Zu demselben Ergebnis müßte man auch schon nach den Grundsätzen des Urteils des erkennenden Senats vom 20. November 1958 IV 76/57 (Steuerrechtsprechung in Karteiform, Einkommensteuergesetz, § 6 Abs. 2, Rechtsspruch 8) gelangen. Denn es heißt dort: "Der Senat hält die selbständige Nutzbarkeit eines Wirtschaftsguts auch dann für gegeben, wenn es aus einem Nutzungszusammenhang ohne Schwierigkeiten und Beeinträchtigung seiner Gestaltung und Funktionen herausgelöst und in einen anderen Nutzungszusammenhang hineingestellt werden kann. Das ist aber für die streitigen Gegenstände zu bejahen, da sowohl Leuchten wie auch Leuchtstoffröhren jederzeit getrennt und anderweitig genutzt werden können..."

In Anbetracht der Vielgestaltigkeit der Funktions- und Verwendungsfähigkeit der Kanaldielen und des ständigen Wechsels ihrer Funktion und ihrer Verwendung verbleibt der Senat für die Zeit bis zum Inkrafttreten des durch Art. 9 Nr. 2 EGAO 1977 geänderten Wortlautes des § 6 Abs. 2 EStG auch bei dieser Auffassung. Der vom FA hervorgehobene Umstand, daß es sich im Streitfall um kein Tiefbauunternehmen handele, sondern um ein Unternehmen, das die Kanaldielen nur vermiete, zwingt schon deshalb zu keiner anderen Beurteilung, weil die Klägerin die Kanaldielen zwar in aller Regel nur in Einheiten zum Zwecke ihrer Zusammenfügung zu Wänden vermieten kann, aber diese Einheiten bei ihr nicht weniger vorübergehenden Charakter besitzen als bei den Bauunternehmen.

Das FG hat danach im Ergebnis zutreffend die von der Klägerin im Jahr 1970 angeschafften einzelnen Kanaldielen als geringwertige Wirtschaftsgüter i. S. des § 6 Abs. 2 EStG a. F. angesehen, die einer selbständigen Nutzung fähig sind. Die Revision des FA war daher als unbegründet zurückzuweisen.