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BFH-Beschluß vom 1.4.1982 (V B 37/81) BStBl. 1982 II S. 515

Eine schlechte Vermögenslage bildet keinen Anordnungsgrund für eine einstweilige Anordnung gemäß § 114 Abs. 1 Satz 2 FGO auf "Festsetzung" einer negativen Umsatzsteuerschuld.

FGO § 114 Abs. 1 Satz 2; ZPO § 940.

Vorinstanz: Niedersächsisches FG

Sachverhalt

Die Antragstellerin hat ein von ihr errichtetes Bürogebäude an die N vermietet; diese hat das Gebäude an die S untervermietet. Die Antragstellerin hat gemäß § 9 des Umsatzsteuergesetzes (Mehrwertsteuer) - UStG 1967 - auf die Steuerfreiheit ihrer Vermietungsumsätze verzichtet und in ihren Umsatzsteuererklärungen für die Jahre 1976 bis 1979 aufgrund in Anspruch genommener Vorsteuerabzugsbeträge jeweils negative Steuerschulden in einer Gesamthöhe von 5.734.353,69 DM berechnet.

Das Finanzamt (Antragsgegner) hat die Umsatzsteuer für die Jahre 1976 bis 1979 auf jeweils O DM festgesetzt und zur Begründung angeführt: Die Zwischenvermietung der Antragstellerin an die N könne steuerlich nicht anerkannt werden. Die Antragstellerin sei als Vermieterin des Gebäudes an die S anzusehen. Sie habe daher auf die Steuerbefreiung nicht rechtswirksam verzichten können und sei aufgrund der Steuerfreiheit ihrer Vermietungsumsätze zum Vorsteuerabzug nicht berechtigt.

Die Klage der Antragstellerin gegen die Ablehnung eines Antrages auf Aussetzung der Vollziehung, mit dem sie die Festsetzung negativer Steuerschulden in Höhe der im Hauptverfahren streitigen Vorsteuerbeträge und damit deren vorläufige Auszahlung begehrt hatte, hat das Finanzgericht als unstatthaft abgewiesen.

Die hiergegen eingelegte Revision hat der Bundesfinanzhof (BFH) durch das Urteil vom 17. Dezember 1981 V R 81/81 (BFHE 134, 402, BStBl II 1982, 149) zurückgewiesen.

Die Antragstellerin hat nunmehr beim Finanzgericht beantragt, dem Finanzamt durch einstweilige Anordnung aufzugeben, bis zur Entscheidung über den Rechtsstreit in der Hauptsache durch jeweils vorläufige Umsatzsteuerbescheide die Umsatzsteuer für die Jahre 1976 bis 1979 in Gestalt negativer Steuerschulden in einer Gesamthöhe von 5.734.353,69 DM festzusetzen und die sich danach ergebenden Guthaben an sie auszuzahlen. Zur Begründung macht sie geltend: Für die Zwischenvermietung seien nicht lediglich steuerliche, sondern wirtschaftliche und rechtliche Gründe maßgebend gewesen. Alle Risiken der Untervermietung trage ihre Mieterin. Die Antragstellerin sei bei ihrer Kalkulation berechtigterweise davon ausgegangen, daß es zu einer Festsetzung der angestrebten negativen Umsatzsteuerbeträge kommen werde. Das Ausbleiben der Umsatzsteuererstattungen habe sie zur Aufnahme kurzfristiger Fremdmittel zu hohen Zinssätzen gezwungen. Hierdurch seien ihr Zinsbelastungen in Höhe von jährlich 13 bis 14 % der beanspruchten Erstattungsbeträge entstanden. Aufgrund dieser Zinsbelastung sei die vorgesehene Ausschüttung an die Erwerber der Fondsanteile für 1980 bereits ausgefallen. Die meisten Erwerber hätten ihre Anteile durch Kredite finanziert und damit gerechnet, die Zinsen aus den Ausschüttungen zu bezahlen. Viele von ihnen würden nunmehr gezwungen, ihre Anteile mit Verlust zu verkaufen. Zur Glaubhaftmachung hat die Antragstellerin Ablichtungen von drei Schreiben vorgelegt, in denen sie von Anteilserwerbern zur Rücknahme der Anteile aufgefordert wird.

Das Finanzgericht hat den Antrag zurückgewiesen. Die angestrebten vorläufigen Steuerfestsetzungen seien nach dem Abgabenrecht (§ 165 Abs. 1 der Abgabenordnung - AO 1977 -) nicht zulässig, da eine solche Steuerfestsetzung das angestrebte Ergebnis der Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehme.

Mit der Beschwerde verfolgt die Antragstellerin ihren Antrag weiter.

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde der Antragstellerin ist unbegründet.

1. Der Antrag ist zulässig. Die Antragstellerin kann ihr Begehren nicht im Wege einer Aussetzung der Vollziehung gemäß § 69 der Finanzgerichtsordnung (FGO) verfolgen, weil sie nicht vorläufigen Rechtsschutz gegen einen ihr drohenden Vollzug von Verwaltungsakten erstrebt, sondern die Festsetzung negativer Steuerbeträge bis zur Entscheidung in der Hauptsache (Urteil in BFHE 134, 402, BStBl II 1982, 149). Es liegt demnach nicht ein "Fall" des § 69 FGO vor. Daher steht auch § 114 Abs. 5 FGO dem Antrag nicht entgegen, obschon die Antragstellerin ihr Anliegen in der Hauptsache mit einer Anfechtungsklage zu verfolgen hat und in Anfechtungssachen vorläufiger Rechtsschutz grundsätzlich nur nach § 69 FGO in Betracht kommt (vgl. BFH-Beschluß vom 1. Oktober 1981 IV B 13/81, BFHE 134, 223, BStBl II 1982, 133). Das folgt aus der Besonderheit der Umsatzsteuer mit Vorsteuerabzug, die zu negativen Steuerfestsetzungen und damit zu Auszahlungen von Steuerbeträgen an den Steuerpflichtigen führen kann. § 114 Abs. 1 FGO gewährleistet somit die verfassungsrechtlich gebotene Effektivität des vorläufigen Rechtsschutzes (vgl. Beschluß des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 19. Oktober 1977 2 BvR 42/76, BVerfGE 46, 166).

2. Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist unbegründet.

Die Regelung des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 114 FGO entspricht § 123 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Nachgebildet ist sie den Bestimmungen der Zivilprozeßordnung (ZPO) über den Erlaß einstweiliger Verfügungen. § 114 Abs. 1 Satz 1 FGO folgt inhaltlich § 935 ZPO; § 114 Abs. 1 Satz 2 FGO deckt sich mit § 940 ZPO; auch die Vorschriften über das Verfahren lehnen sich an das Verfahren bei einstweiligen Verfügungen an. Als Rechtsgrundlage für den Antrag der Antragstellerin kommt nur § 114 Abs. 1 Satz 2 FGO in Betracht.

Der zulässige Inhalt einstweiliger Verfügungen im Zivilprozeß ist umstritten (s. Jauernig, Zeitschrift für Zivilprozeß Bd. 79 S. 321). Die herrschende Auffassung geht dahin, daß solche Verfügungen - ihrem durch Einstweiligkeit gekennzeichneten Wesen gemäß - grundsätzlich nur der Sicherung von Gläubigerinteressen dienen dürfen: § 935 ZPO erlaubt Verfügungen zur Sicherung eines gefährdeten Individualanspruchs, § 940 ZPO schafft die Grundlage für Regelungen eines einstweiligen Zustandes zur Sicherung des Rechtsfriedens bis zur Entscheidung des streitigen Rechtsverhältnisses (s. Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 20. Aufl., Rdnrn. 1 und 31-43 vor § 935; Thomas/Putzo, ZPO, Zivilprozeßordnung mit Nebengesetzen, 11. Aufl., § 938 Anm. 1 b und § 940 Anm. 1; Schönke/Baur, Zwangsvollstreckungs-, Konkurs- und Vergleichsrecht, 10. Aufl., § 50 IV; Jauernig, a. a. O., S. 323, Fußnote 5, mit weiteren Nachweisen). Zwar läßt die zivilgerichtliche Rechtsprechung - nach Stein/Jonas (a. a. O., Rdnr. 31) über den § 940 ZPO vom Gesetzgeber zugedachten Anwendungsbereich hinaus - im Wege sog. Leistungsverfügungen in begrenztem Umfang auch die Befriedigung wegen einer Geldforderung, insbesondere bei Unterhaltsansprüchen zu. Ob und inwieweit hierfür über die positivrechtlichen Regelungen des § 1716 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) a. F. und des § 16150 BGB hinaus - die einstweiligen Anordnungen nach § 620 ZPO gehören nicht in diesen Bereich - für die besonderen Verhältnisse des bürgerlichen Rechts ein unabdingbares Bedürfnis bestand, braucht für den Bereich des Umsatzsteuerrechts nicht untersucht zu werden. Denn unberührt hiervon bleibt der allgemeine Grundsatz, daß § 940 ZPO und demzufolge auch § 114 Abs. 1 Satz 2 FGO jedenfalls nicht generell zur Vorabbefriedigung eines Gläubigers bestimmt sind, der sich auf seine schlechte Vermögenslage beruft. Von diesem Grundsatz ist bei der für das Steuerrecht gebotenen Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und des einzelnen auszugehen.

Der Antrag der Antragstellerin kann schon deswegen keinen Erfolg haben, weil sie sich bewußt in eine Lage begeben hat, von der sie wußte oder wissen mußte, das Finanzamt werde ihrem Rechtsstandpunkt nicht ohne weiteres folgen. Sie selbst hat die Bedingungen für die Notwendigkeit der Kreditaufnahme und das daraus folgende Unterbleiben einer Gewinnausschüttung geschaffen. Die Nachteile, welche die Antragstellerin als Anordnungsgrund geltend macht, liegen folglich innerhalb ihres Geschäftsrisikos, wie es von Anfang an gegeben war. Das Rechtsinstitut der einstweiligen Anordnung ist nicht eingerichtet, ihr dieses Risiko abzunehmen.

Da es an einem Anordnungsgrund und nicht bloß an der Glaubhaftmachung eines solchen Grundes fehlt, war nicht zu prüfen, ob eine einstweilige Anordnung gegen Sicherheitsleistung gemäß § 114 Abs. 3 FGO i. V. m. § 921 Abs. 2 ZPO zu erlassen war.