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BFH-Beschluß vom 8.7.1982 (IV B 6/82) BStBl. 1982 II S. 660

1. Lehnt das FA die Aussetzung der Vollziehung eines Folgebescheides ab, obwohl die Vollziehung des Grundlagebescheides ausgesetzt ist, so kann die Aussetzung vom Steuergericht gewährt werden.

2. Durch Aussetzung der Vollziehung des Einkommensteuerbescheides kann die vorläufige Erstattung einbehaltener Lohnsteuerbeträge nicht erreicht werden.

FGO § 69 Abs. 3.

Vorinstanz: Hessisches FG

Sachverhalt

Der Antragsteller und Beschwerdegegner (Antragsteller) ist durch bestandskräftigen Einkommensteuerbescheid zur Einkommensteuer 1978 veranlagt worden. Er macht nachträglich Verluste aus der Beteiligung an zwei Kommanditgesellschaften geltend. Hierzu teilte das Betriebs-Finanzamt (Betriebs-FA) dem Antragsgegner und Beschwerdeführer als Wohnsitz-Finanzamt (FA) mit, daß es die Mitunternehmerschaft des Antragstellers verneint, die Vollziehung dieses Bescheids aber ausgesetzt habe; es bezifferte die auf den Antragsteller entfallenden Verlustanteile und stellte dem FA anheim, die Vollziehung der Folgebescheide auszusetzen. Auf einen Antrag des Antragstellers lehnte es das FA jedoch ab, die Vollziehung des Einkommensteuerbescheides 1978 auszusetzen, weil dieser Bescheid infolge der Anrechnung von Lohnsteuerbeträgen nicht zu einer Abschlußzahlung geführt habe; einbehaltene Lohnsteuerbeträge könnten nicht im Wege der Aussetzung der Vollziehung erstattet werden. Daraufhin beantragte der Antragsteller beim Finanzgericht (FG), die Vollziehung des Einkommensteuerbescheides 1978 in Höhe der sich bei Berücksichtigung der Verluste ergebenden Steuerminderung aufzuheben. Das FG gab dem Antrag statt und ordnete die vorläufige Erstattung des Steuerminderbetrages an.

Hiergegen richtet sich die Beschwerde des FA.

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde ist begründet; sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückweisung des Aussetzungsantrags.

1. Nachdem das Betriebs-FA im Aussetzungsverfahren gegen die Gewinnfeststellungsbescheide den Verlustanteil des Antragstellers vorläufig festgestellt, das FA aber die Aussetzung des Einkommensteuerbescheides abgelehnt hatte, war das FG grundsätzlich befugt, seinerseits die Aussetzung der Vollziehung auszusprechen. § 361 Abs. 3 Satz 1 der Abgabenordnung (AO 1977) und § 69 Abs. 2 Satz 4 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gehen zwar davon aus, daß die Vollziehung des Folgebescheides von Amts wegen ausgesetzt wird, wenn die Vollziehung des Grundlagenbescheids ausgesetzt ist. Kommt die Behörde dem jedoch nicht nach, so wird vorläufiger Rechtsschutz durch das Gericht gewährt (Gräber, Finanzgerichtsordnung, Kommentar, § 69 Anm. 24); hiervon ist stillschweigend bereits die Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 23. August 1966 I B 1/66 (BFHE 86, 749, BStBl III 1966, 651) ausgegangen.

2. Die Aussetzung der Vollziehung eines Steuerbescheids hat zum Ziel, daß Vollziehungsmaßnahmen nach Ergehen der Anordnung unterbleiben und daß frühere Vollziehungsmaßnahmen aufgehoben werden. Im Streitfall will der Antragsteller die vorläufige Erstattung von Lohnsteuerabzugsbeträgen herbeiführen. Das kann er jedoch mittels einer Aussetzung der Vollziehung des Einkommensteuerbescheids nicht erreichen; seinem Antrag fehlt daher das Rechtsschutzbedürfnis.

a) Der BFH hat wiederholt entschieden, daß ein Einkommensteuerbescheid nur hinsichtlich des auf ihm beruhenden Leistungsgebotes, d. h. der Abschlußzahlung nach Anrechnung von Einkommensteuervorauszahlungen und Steuerabzugsbeträgen, verwirklicht und damit vollzogen wird (Beschlüsse vom 27. Januar 1977 IV B 72/74, BFHE 121, 289, BStBl II 1977, 367; vom 5. August 1980 VIII B 108/79, BFHE 131, 282, BStBl II 1981, 35; vom 4. Juni 1981 VIII B 31/80, BFHE 133, 267, BStBl II 1981, 767). Der VIII. Senat des BFH hat an dieser Auffassung noch letzthin mit eingehender Begründung festgehalten (vgl. den Beschluß vom 15. Juni 1982 VIII B 138/81, BStBl II 1982, 657). Die Einkommensteuervorauszahlungen und Steuerabzugsbeträge beruhen nicht auf dem Einkommensteuerbescheid; ihre Erstattung kann mithin auch nicht durch eine Aussetzung der Vollziehung des Einkommensteuerbescheids erreicht werden.

b) Demgegenüber geht das FG davon aus, daß als Vollziehung eines Verwaltungsakts jede Maßnahme zur Verwirklichung seines Regelungsinhalts anzusehen ist, auch wenn sie nicht im Erlaß eines Leistungsgebots besteht. In ähnlicher Weise haben auch die BFH-Entscheidungen vom 22. Juli 1977 III B 34/74, BFHE 123, 112, BStBl II 1977, 838, und vom 29. November 1977 VII B 6/77, BFHE 124, 13, BStBl II 1978, 156, die gesamte Durchführung eines Verwaltungsakts als Vollziehung bezeichnet (zum Verwaltungsrecht vgl. Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, 5. Aufl., § 80 Anm. 12 ff.). Selbst wenn man danach mit dem FG auch die in § 36 Abs. 2 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) vorgesehene Anrechnung von Steuerabzugsbeträgen auf die festgesetzte Einkommensteuerschuld als Vollziehung des Einkommensteuerbescheids ansehen wollte, würde daraus doch nicht die vorläufige Erstattung der angerechneten Abzugsbeträge folgen. Hiervon ist der BFH bereits im Beschluß vom 22. September 1967 VI B 44/67 (BFHE 90, 250, BStBl II 1968, 36) ausgegangen.

Die Einkommensteuerveranlagung hat zur Folge, daß das Anrechnungsverfahren in Gang gesetzt wird, das zur Erstattung der auf die veranlagten Einkünfte entfallenden Steuerabzugs- und Steuervorauszahlungsbeträge führt, sofern die festgesetzte Einkommensteuerschuld geringer ist. Der Einkommensteuerbescheid tritt nunmehr an die Stelle der bisherigen Regelungen im Steuerabzugs- und im Steuervorauszahlungsverfahren (Beschluß in BFHE 133, 267, BStBl II 1981, 767; BFH-Urteil vom 13. März 1979 III R 79/77, BFHE 127, 550, BStBl II 1979, 461, betreffend Vermögensteuervorauszahlungen). Geht man mit dem FG von einem erweiterten Vollziehungsbegriff aus, so würde die Aussetzung der Vollziehung bedeuten, daß der materielle Regelungsinhalt des Verwaltungsakts vorläufig nicht verwirklicht werden kann (Beschlüsse in BFHE 123, 112, BStBl II 1977, 838; BFHE 124, 13, BStBl II 1978, 156; vom 10. Juli 1979 VIII B 84/78, BFHE 128, 164, BStBl II 1979, 567). Das würde dahin führen, daß das Anrechnungsverfahren nicht in Gang gesetzt wird und damit die Erstattung einbehaltener Steuerabzugsbeträge nicht verlangt werden kann; die Erstattung ist nämlich davon abhängig, daß die vom Steuerabzug betroffenen Einkünfte in die Einkommensteuerveranlagung einbezogen worden sind (§ 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG). Treten aber die Wirkungen der Einkommensteuerveranlagung nicht ein, so könnte es auch nicht zur Erstattung von Steuerabzugsbeträgen kommen.

c) Auch der Hinweis des FG auf den Gleichheitsgrundsatz in Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes führt nicht zu einem anderen Ergebnis.

Der Antragsteller wird bei der Einkommensteuerveranlagung hinsichtlich der bei ihm einbehaltenen Lohnsteuer nicht anders behandelt als ein Steuerpflichtiger, der Einkommensteuervorauszahlungen leisten muß. Auch ein solcher Steuerpflichtiger kann die vorläufige Erstattung zu hoher Vorauszahlungen nicht durch Aussetzung der Vollziehung des Einkommensteuerbescheides erreichen. Ein Unterschied besteht allerdings darin, daß die Einkommensteuervorauszahlungen der voraussichtlichen Einkommensteuerschuld angepaßt werden können (§ 37 Abs. 3 EStG), während bei Lohnsteuerpflichtigen, abgesehen von der Eintragung von Freibeträgen gemäß § 39a EStG, eine Anpassung der vorab zu entrichtenden Lohnsteuerbeträge an die voraussichtliche Einkommensteuerschuld nicht möglich ist. Dieser Nachteil beruht aber auf den sachlichen Notwendigkeiten des Steuerabzugsverfahrens und beinhaltet keinen Grundrechtsverstoß (vgl. Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Januar 1977 1 BvL 7/76, BVerfGE 43, 231); einen ähnlichen Nachteil erleiden auch Steuerpflichtige mit anzurechnender Kapitalertragsteuer und Körperschaftsteuer (§ 36 Abs. 2 Nr. 3 EStG). Der Steuerpflichtige könnte auch im Rahmen des Lohnsteuer-Jahresausgleichs eine vorläufige Erstattung von Abzugsbeträgen nicht erreichen (BFH-Beschluß vom 1. Dezember 1967 VI B 72/67, BFHE 91, 138, BStBl II 1968, 287). Es erscheint hiernach nicht als sachwidrig, ihm dies auch im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung zu versagen.