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BFH-Urteil vom 11.1.1983 (VII R 92/80) BStBl. 1983 II S. 334

1. Hat das FG bei Versäumung der Klagefrist zu Unrecht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gewährt, so ist der BFH befugt, die Wiedereinsetzung selbst zu gewähren.

2. Zieht ein Beteiligter zur Unterstützung bei der Fristwahrung Hilfspersonen zu, so ist ihm deren Verschulden nicht zuzurechnen. Die Hinzuziehung muß aber sachgerecht sein und der Beteiligte muß die Hilfspersonen in zumutbarer Weise unterweisen und beaufsichtigen.

FGO § 56.

Vorinstanz: Hessisches FG

Sachverhalt

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Hauptzollamt - HZA -) erließ gegen den Kläger und Revisionskläger (Kläger) einen Eingangsabgabenbescheid über 5.397,90 DM. Außerdem nahm das HZA den Kläger durch einen weiteren Bescheid wegen Hinterziehungszinsen in Höhe von 389 DM in Anspruch. Die Einsprüche des Klägers blieben ohne Erfolg. Die Einspruchsentscheidung des HZA vom 13. Dezember 1978 wurde dem Kläger durch Niederlegung bei der Postanstalt am 20. Dezember 1978 zugestellt.

Der Kläger erhob mit Schreiben vom 15. Februar 1979 - eingegangen beim Finanzgericht (FG) am 16. Februar 1979 - Klage und beantragte die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Klagefrist. Er machte geltend, er habe am 10. Februar 1979 die niedergelegte Einspruchsentscheidung bei der Postanstalt abgeholt, nachdem er am 9. Februar 1979 von einer am 13. Dezember 1978 angetretenen Auslandsreise zurückgekommen sei. Ergänzend trug er vor, während seiner Abwesenheit sei seine Wohnung durch seine Mutter und seine Tante ständig besetzt gewesen. Diese seien beauftragt gewesen, sich um die eingehende Post zu kümmern und ihn über die wichtigen Briefe zu informieren. Von der Einspruchsentscheidung habe er keine Kenntnis erhalten können, da eine Benachrichtigung über die Niederlegung nicht gefunden worden sei. Zudem habe er für die streitige Zollangelegenheit einen Bevollmächtigten bestellt, so daß die Zustellung nicht an ihn, den Kläger, hätte ergehen dürfen.

Das FG wies die Klage mit folgender Begründung ab:

Die Zustellung sei nach § 182 der Zivilprozeßordnung (ZPO) durch den Postbeamten wirksam vollzogen worden. Wie der Postbeamte erklärt habe, habe er in der Wohnung des Klägers niemanden angetroffen und eine Benachrichtigung über die Niederlegung bei der Post in den Briefkasten des Klägers eingeworfen. Der Kläger könne sich nicht darauf berufen, daß die Zustellung an seinen Bevollmächtigten, Rechtsanwalt A, hätte bewirkt werden müssen. Diesem Rechtsanwalt sei ausweislich der Akten nur eine Strafprozeßvollmacht erteilt worden. Für das Einspruchsverfahren, in dem der Kläger nur persönlich tätig geworden sei, habe eine Vollmacht nicht vorgelegen.

Dem Antrag des Klägers, ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, könne nicht entsprochen werden, weil die gesetzlichen Voraussetzungen dafür nicht erfüllt seien. Der streitigen Frage, ob eine Verpflichtung für den Steuerpflichtigen bestehe, während seiner Urlaubsabwesenheit besondere Vorkehrungen dafür zu treffen, daß behördliche Zustellungen zu seiner Kenntnis gelangten, komme im Streitfall keine Bedeutung zu, da der Kläger Vorkehrungen getroffen habe, die dazu gedient hätten, ihm rechtzeitige Kenntnis von wichtigen Posteingängen zu verschaffen. Es treffe ihn daher kein eigenes Verschulden an der verspäteten Kenntnisnahme von der Zustellung der Einspruchsentscheidung.

Der Kläger müsse sich aber, wenn er mit der Entgegennahme der Postsendungen andere betraue, das Verschulden dieser Personen zurechnen lassen. Diese treffe insofern ein Verschulden, als sie den in den Briefkasten eingeworfenen Benachrichtigungsschein nicht beachtet hätten. Wie der Kläger vortrage, sei ein solcher Benachrichtigungsschein nicht gefunden worden. Der Postbeamte habe aber in seiner dienstlichen Äußerung versichert, daß er den Benachrichtigungsschein in den Postkasten eingeworfen habe. Wenn der Schein nicht gefunden worden sei, so könne das also nur auf einer Unachtsamkeit bei der Entgegennahme der Postsendungen beruhen. Der Kläger könne sich nicht darauf berufen, daß es sich um ein Verschulden von Verwandten oder reinen Hilfspersonen handle. Das Verschulden der Beauftragten müsse der Steuerpflichtige gegen sich gelten lassen.

Der erkennende Senat hat auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers die Revision zugelassen.

Entscheidungsgründe

Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.

1. Das FG hat entschieden, daß der Kläger die Klagefrist (§ 47 der Finanzgerichtsordnung - FGO -) versäumt hat. Es ist dabei davon ausgegangen, daß die Einspruchsentscheidung wirksam durch Niederlegung bei der Postanstalt zugestellt worden ist (vgl. §§ 122 Abs. 5 Satz 2, 365 Abs. 1, 366 der Abgabenordnung - AO 1977 - , §§ 2 Abs. 2, 3 Abs. 3 des Verwaltungszustellungsgesetzes - VwZG - , § 182 ZPO). Dabei hat es aufgrund der dienstlichen Äußerungen des Postboten festgestellt, dieser habe eine Benachrichtigung über die Niederlegung in den Briefkasten des Klägers geworfen (vgl. § 182 ZPO). Dagegen richten sich Verfahrensrügen der Revision. Ob diese zulässig erhoben worden und begründet sind (vgl. § 118 Abs. 2 FGO), braucht der erkennende Senat jedoch nicht zu entscheiden. Denn falls das zu bejahen ist und eine weitere Aufklärung des Sachverhalts zu dem Ergebnis führt, daß die Zustellung nicht wirksam war, ist die am 16. Februar 1979 erhobene Klage rechtzeitig eingereicht worden. War die Zustellung dagegen wirksam, so hat das FG jedenfalls unter Verletzung des § 56 FGO dem Kläger zu Unrecht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand versagt, und ist diese Wiedereinsetzung vom erkennenden Senat zu gewähren.

2. Das FG hat die Klage als unzulässig abgewiesen. Da die Zulässigkeit der Klage eine Prozeßvoraussetzung ist, von der das gesamte Verfahren - auch das in der Revisionsinstanz - abhängt, ist sie vom Revisionsgericht von Amts wegen zu prüfen. Diese Prüfung ergibt, daß das FG § 56 Abs. 1 FGO falsch angewendet hat.

§ 56 Abs. 5 FGO steht dieser Prüfung durch den erkennenden Senat nicht entgegen. Danach ist lediglich die vom FG gewährte Wiedereinsetzung unanfechtbar. Die Verweigerung der Wiedereinsetzung ist dagegen, wenn sie zusammen mit der Verwerfung des Rechtsbehelfs als wegen Fristversäumung unzulässig erfolgte, mit demselben Rechtsmittel anfechtbar, mit dem die Verwerfung angefochten werden kann (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 28. Februar 1978 VII R 92/74, BFHE 124, 487, 492, BStBl II 1978, 390, dem ein vergleichbarer Fall zugrunde lag; Gräber, Finanzgerichtsordnung, § 56 Anm. 20).

3. Für die Entscheidung über die Frage der Wiedereinsetzung bedarf es keines Eingehens darauf, ob es dem Kläger als ein die Wiedereinsetzung ausschließender Umstand zuzurechnen wäre, wenn er für seine Urlaubsabwesenheit keine besonderen Vorkehrungen wegen möglicher Zustellungen getroffen hätte (vgl. Beschluß des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 11. Februar 1976 2 BvR 849/75, BVerfGE 41, 332, 335, m. w. N.). Denn der Kläger hat solche Vorkehrungen getroffen, indem er seine Mutter und seine Tante, die in seiner Wohnung anwesend waren, beauftragt hatte, sich um die eingehende Post zu kümmern und ihn über wichtige Briefe zu unterrichten. Davon ist auch das FG ausgegangen. Es hat daher ein eigenes Verschulden des Klägers an der Versäumung der Klagefrist ohne Rechtsirrtum ausgeschlossen.

Zu Unrecht hat aber das FG dem Kläger das Verschulden seiner Mutter und/oder Tante zugerechnet. Es kann hier dahingestellt bleiben, ob diesen Personen tatsächlich ein Verschulden zur Last fällt. Denn jedenfalls stünde dieses Verschulden nicht einem Verschulden des Klägers gleich.

Zwar ist nach § 155 FGO i. V. m. § 85 Abs. 2 ZPO das Verschulden des Bevollmächtigten als ein Verschulden des Beteiligten selbst anzusehen (vgl. auch § 110 Abs. 1 Satz 2 AO 1977). Gedacht ist in diesem Zusammenhang jedoch an das Verschulden des Prozeßbevollmächtigten, wie die systematische Stellung des § 85 ZPO deutlich macht. Überdies wird für die Frage der Wiedereinsetzung das Verschulden der Hilfspersonen eines prozeßbevollmächtigten Anwalts nur dann als Verschulden des Beteiligten erachtet, wenn es vom Anwalt selbst - z. B. wegen eines Organisationsverschuldens - zu vertreten ist (vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozeßordnung, 41. Aufl., § 233 Anm. 4, Stichwort: "Rechtsanwalt" und "Angestellter").

Die gleichen Grundsätze müssen auch für den Beteiligten selbst gelten, wenn er Hilfspersonen heranzieht (vgl. Eyermann/Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 8. Aufl., § 60 Anm. 9, mit weiteren Hinweisen auf die Rechtsprechung). So hat z. B. das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) das Versehen der Postabsendestelle einer Behörde nicht als Hinderungsgrund für die Wiedereinsetzung angesehen, falls der Leiter der Behörde für eine ordnungsmäßige Einrichtung und Überwachung der Absendestelle gesorgt hat (Urteil vom 3. Oktober 1958 VII C 59/57, Verwaltungs-Rechtsprechung - VerwRspr. - 11 Nr. 176). Im Urteil vom 9. Oktober 1973 V C 110.72 (Die Öffentliche Verwaltung - DÖV - 1974, 347, 349) hat das BVerwG darüber hinaus entschieden, es sei allgemein anerkannt, daß eine Prozeßpartei nicht für ihre Angestellten und Beauftragten haften müsse; sie müsse sie nur in zumutbarer Weise unterweisen und beaufsichtigen.

Der Kläger hat im vorliegenden Fall seine Mutter und seine Tante, die in seiner Wohnung anwesend waren, als Hilfspersonen herangezogen. Das erscheint nach der Lage des Falles sachgerecht. Im Hinblick darauf, daß seine Urlaubsreise nur für vier Wochen geplant war, konnte von ihm auch nicht etwa die Bestellung eines Zustellungsvertreters erwartet werden. Falls also die vom Kläger beauftragten Personen tatsächlich schuldhaft die Mitteilung des Postboten über die Niederlegung übersehen haben sollten, kann dies dem Kläger nicht als Verschulden zugerechnet werden. Er war daher i. S. des § 56 Abs. 1 FGO ohne Verschulden verhindert, die Klagefrist einzuhalten. Das FG hat dies verkannt. Die Vorentscheidung war daher aufzuheben.

4. Wie sich aus den Ausführungen unter Nr. 2 ergibt, liegen die Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 56 Abs. 1 FGO vor. Der erkennende Senat gewährt daher diese Wiedereinsetzung. Dazu ist er befugt (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 6. November 1969 IV R 127/68, BFHE 97, 508, BStBl II 1970, 214, und in BFHE 124, 487, 492, BStBl II 1978, 390; BVerwG-Beschluß vom 11. Mai 1962 V B 76/61, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1962, 1692; Beschluß des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 30. Januar 1980 IV ZB 164/79, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1980, 396).

§ 56 Abs. 4 FGO steht dem nicht entgegen. Danach entscheidet über den Antrag auf Wiedereinsetzung das Gericht, das über die versäumte Rechtshandlung zu befinden hat. Da es im Streitfall darum geht, ob die Klage fristgerecht eingelegt worden ist, und da ferner die die Wiedereinsetzung ablehnende Entscheidung des FG vom erkennenden Senat aufgehoben ist (vgl. die Ausführungen unter Nr. 2), bedarf es noch der Entscheidung über den - rechtzeitig gestellten (§ 56 Abs. 2 Satz 1 FGO) - Wiedereinsetzungsantrag des Klägers. Mit dem Eingang der Revisionsschrift beim FG ist der Devolutiveffekt eingetreten, der die ausschließliche Zuständigkeit des Revisionsgerichts begründete (vgl. NJW 1962, 1692). Nach § 56 Abs. 4 FGO ist damit zugleich die Zuständigkeit des Revisionsgerichts für die Entscheidung über das Wiedereinsetzungsgesuch gegeben.

Dem stehen die neueren Entscheidungen des BGH zur Frage der Wiedereinsetzung durch das Revisionsgericht nicht entgegen.

Der BGH hat sich mit der Frage der Gewährung der Wiedereinsetzung durch die Revisionsinstanz in seinen Beschlüssen vom 7. Oktober 1981 IV b ZB 825/81 KG (NJW 1982, 887) und vom 4. November 1981 IV b ZR 625/80 (HFR 1982, 377, NJW 1982, 1873, Monatsschrift für Deutsches Recht - MDR - 1982, 471) befaßt. Er hat in diesen Beschlüssen entschieden, daß im Hinblick auf die Neuregelung des § 238 Abs. 3 ZPO - die wörtlich dem § 56 Abs. 5 FGO entspricht - und die dadurch für den säumigen Beteiligten eröffnete Chance, in der Vorinstanz eine endgültige Wiedereinsetzung zu erhalten, dem Revisionsgericht die Entscheidung über ein von der Vorinstanz übergangenes oder erstmals in der Revisionsinstanz gestelltes Wiedereinsetzungsgesuch verwehrt sei, es sei denn, die Wiedereinsetzung sei nach dem Aktenstand ohne weiteres zu gewähren. Es kann hier unentschieden bleiben, ob dem BGH insoweit für den Bereich der FGO zu folgen ist. Denn der BGH hat in seinem Beschluß in HFR 1982, 377, NJW 1982, 1873, MDR 1982, 471 jedenfalls deutlich gemacht, daß eine Beeinträchtigung der genannten Chance des Beteiligten durch eine Entscheidung des Revisionsgerichts dann nicht in Betracht komme, wenn das Revisionsgericht, im Gegensatz zur Vorinstanz, die Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung gerade für gegeben erachtet und deshalb die Wiedereinsetzung gewähren möchte (diese Ausführungen sind nur in NJW 1982, 1873, 1874 veröffentlicht). So aber liegt der vorliegende Fall.

5. Da der erkennende Senat dem Kläger die Wiedereinsetzung gewährt hat, ist seine Klage nicht wegen Versäumung der Klagefrist unzulässig. Die Vorentscheidung war daher aufzuheben. Die Sache ist nicht spruchreif; sie ist daher an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).