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BFH-Urteil vom 23.3.1983 (II R 111/81) BStBl. 1983 II S. 432

Die Möglichkeit des FG, in bestimmten Fällen sein Verfahren nach billigem Ermessen zu bestimmen, entbindet es nicht von der Pflicht, die Verfassungsvorschrift des Art. 103 Abs. 1 GG (Recht auf Gehör) zu beachten.

GG Art. 103 Abs. 1; VGFG-EntlG Art. 3 § 5 Satz 1.

Vorinstanz: Hessisches FG

Sachverhalt

Für die körperbehinderte Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) war 1975 ein PKW (Marke "Volkswagen", amtliches Kennzeichen ..., Hubraum 1.276 ccm) zum Verkehr auf öffentlichen Straßen zugelassen worden. Die Kraftfahrzeugsteuer für das Halten dieses Fahrzeugs hatte das Finanzamt (FA) ihr antragsgemäß zunächst erlassen, später aber festgesetzt, weil es u. a. aufgrund von Feststellungen der ...polizei zu der Auffassung gelangt war, das Fahrzeug werde mißbräuchlich benutzt.

Den "Einspruch" der Klägerin behandelte das FA als Beschwerde gegen den Widerruf des Steuererlasses. Die Oberfinanzdirektion (OFD) wies die Beschwerde zurück mit der Begründung, das von der Klägerin gehaltene Fahrzeug sei mißbräuchlich benutzt worden. Das ergebe sich u. a. aus den Feststellungen der ...polizei.

Mit ihrer Klage hat die Klägerin begehrt, die Beschwerdeentscheidung und den Steuerbescheid aufzuheben. Mit einer weiteren Klage hat sie begehrt, das FA zu verurteilen, ihr die Feststellungen der ...polizei bekanntzugeben. Sie habe erst aus der Beschwerdeentscheidung ersehen, daß das FA sich auf diese Feststellungen stütze. Sie, die Klägerin, wolle diese Unterlagen einsehen und sich dazu äußern.

Der Berichterstatter beim Finanzgericht (FG) hat das FA mehrmals aufgefordert, sämtliche Vorgänge vorzulegen, die dem Widerruf des Steuererlasses zugrunde liegen. Es sei beabsichtigt, nach Eingang der Unterlagen unmittelbar Termin anzusetzen, wobei die Klägerin von ihrem Recht auf Akteneinsicht Gebrauch machen könne; damit werde sich voraussichtlich der Streitgegenstand in der Hauptsache erledigen. Wenige Tage später hat er den Beteiligten mitgeteilt, das Gericht beabsichtige, ohne mündliche Verhandlung nach dem Gesetz zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit (VGFG-EntlG) zu entscheiden. Die Klägerin hat geantwortet, sie sei zwar mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden, bitte aber das FG, dem FA die Vorlage seines Schriftwechsels mit der ...polizei aufzugeben, damit sie ihn einsehen und sich dazu äußern könne. Rund zwei Wochen später hat das FA "1 Bd. Kraftfahrzeugsteuerakten Az.:..." vorgelegt, sich in einem Begleitschreiben zur Rechtslage geäußert und dabei verwiesen auf Fundstellen "d. Akte" und solche "der Ermittlungsakte". Dieses Begleitschreiben hat das FG der Klägerin zur Stellungnahme zugeleitet. Rund vier Monate später hat es die beiden Verfahren zu gemeinsamer Entscheidung verbunden und die Klagen abgewiesen. Es hat Bezug genommen auf die Gründe in der Beschwerdeentscheidung der OFD und ergänzend hinzugefügt, das Vorbringen der Klägerin, sie sei in ihren Rechten dadurch verletzt, daß die Behörde ihr die tatsächlichen Besteuerungsgrundlagen nicht mitgeteilt habe, sei überholt, da die Klägerin von dem ihr gesetzlich zustehenden Recht auf Akteneinsicht beim FG keinen Gebrauch gemacht habe.

Mit ihrer vom Bundesfinanzhof (BFH) zugelassenen Revision rügt die Klägerin Verletzung ihres Rechts auf Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG -). Sie beantragt, das FG-Urteil, den Steuerbescheid und die Beschwerdeentscheidung aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist begründet. Das Urteil des FG muß aufgehoben werden, weil es auf der Verletzung von Bundesrecht beruht. Verletzt ist die Verfassungsvorschrift des Art. 103 Abs. 1 GG. Nach dieser Vorschrift hat "vor Gericht ...jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör". Daraus folgt, daß jeder Beteiligte an einem gerichtlichen Verfahren ein Recht darauf hat, sich zu dem der gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor Erlaß der Entscheidung zu äußern (vgl. statt vieler Entscheidungen: Beschluß des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 9. Februar 1982 I BvR 799/78, BVerfGE 59, 330, 333). Diese Pflicht hat das FG dadurch verletzt, daß es der Klägerin nicht hinreichend deutlich gemacht hat, ihm liege nunmehr der Schriftwechsel zwischen dem FA und der ...polizei vor, sondern sich darauf beschränkt hat, der Klägerin einen Abdruck des Begleitschreibens des FA zur Stellungnahme zu übersenden. Aus diesem Schreiben konnte die Klägerin zwar entnehmen, daß das FA "1 Bd. Kraftfahrzeugsteuerakten Az.:..." vorgelegt hat, nicht aber, daß es sich dabei um die "Ermittlungsakten der Schweizer ...polizei" handelte. Vielmehr konnte bei der Klägerin der Eindruck entstehen, es bestünden außer den vorgelegten Kraftfahrzeugsteuerakten noch besondere Ermittlungsakten; denn das FA hatte in seinem Schreiben bald auf Fundstellen "d. Akte", bald auf solche der "Ermittlungsakte" Bezug genommen. Unter diesen besonderen Umständen ist es nicht gerechtfertigt, daß das FG der Klägerin entgegenhält, sie habe von ihrem Recht auf Akteneinsicht keinen Gebrauch gemacht, so daß ihr Anspruch auf rechtliches Gehör nicht verletzt sei (vgl. BFH-Urteil vom 27. Februar 1970 VI R 314/67, BFHE 98, 412, 415, BStBl II 1970, 422, 423).

Von der Pflicht, die Verfassungsvorschrift des Art. 103 Abs. 1 GG zu beachten, war das FG nicht dadurch entbunden, daß es gemäß Art. 3 § 5 Satz 1 VGFG-EntlG sein Verfahren "nach billigem Ermessen bestimmen" durfte und die Klägerin sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt hatte. Denn die Gewährung rechtlichen Gehörs ist ein Verfahrensprinzip, das für ein gerichtliches Verfahren im Sinne des GG konstitutiv und grundsätzlich unabdingbar ist (vgl. BVerfG-Beschluß vom 9. Juli 1980 2 BvR 701/80, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Grundgesetz, Art. 103 Abs. 1, Rechtsspruch 173, m. w. N.).

Da der Klägerin das rechtliche Gehör versagt worden ist, ist das Urteil des FG kraft Gesetzes "als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen" (§ 119 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen; diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens übertragen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2, § 143 Abs. 2 FGO).