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BFH-Beschluß vom 21.7.1983 (V R 3/77) BStBl. 1983 II S. 742

Vorlage an den Großen Senat zur Statthaftigkeit der Sprungklage mit Verpflichtungsbegehren.

FGO § 45 Abs. 1.

Vorinstanz: FG Nürnberg

Sachverhalt

I.

Die Klägerin hat am 16. Dezember 1970 einen Fabrikbetrieb zum Ablauf des 31. Dezember 1970 gekauft und ihn an demselben Tage in eine zum 1. Januar 1971 vereinbarte Kommanditgesellschaft eingebracht. Mit der Umsatzsteuererklärung 1971 macht sie - soweit erforderlich, unter Option gemäß § 9 UStG 1967 - ihr vom Veräußerer in Rechnung gestellte Vorsteuerbeträge in Höhe von 390.978,94 DM geltend.

Das Finanzamt hat mit Bescheid vom 8. April 1976 abgelehnt, die Klägerin zur Umsatzsteuer 1971 zu veranlagen, weil sie keine Unternehmerin und somit nicht vorsteuerabzugsberechtigt sei.

Mit der mit Zustimmung des beklagten Finanzamts erhobenen und beim Finanzgericht eingereichten Sprungklage hat die Klägerin beantragt, in Abänderung des Bescheids vom 8. April 1976 für das Jahr 1971 eine negative Umsatzsteuerschuld von 390.978,94 DM festzusetzen.

Das Finanzgericht hat die Klage für zulässig erachtet. Es hat sie nicht als Verpflichtungs-, sondern als Anfechtungsklage beurteilt, weil seiner Ansicht nach das Finanzamt die begehrte Veranlagung zur Umsatzsteuer nicht aus formellen Gründen abgelehnt, sondern eine Sachentscheidung getroffen habe, die einem auf 0 DM lautenden Umsatzsteuerbescheid entspreche. Es hat die Klage als unbegründet abgewiesen, weil die Klägerin durch den Ankauf des Unternehmens und seine Einbringung in die Kommanditgesellschaft nicht unternehmerisch tätig geworden sei.

Mit der Revision beantragt die Klägerin,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Umsatzsteuerbescheid 1971 vom 8. April 1976 dahin abzuändern, daß eine negative Umsatzsteuerschuld von 390.978,94 DM festgesetzt werde;

hilfsweise den ablehnenden Bescheid des Finanzamts aufzuheben und dieses zum Erlaß einer Umsatzsteuerfestsetzung für das Jahr 1971 mit einem negativen Betrag von 390.978,94 DM zu verurteilen;

hilfsweise die Klage als Einspruch zu behandeln.

Entscheidungsgründe

Abweichend von dem Finanzgericht sieht der V. Senat des Bundesfinanzhofs in dem angefochtenen Bescheid des Finanzamts keinen die Umsatzsteuer auf O DM festsetzenden Steuerbescheid, sondern - der Form und der klaren Aussage dieses Bescheides entsprechend - die Ablehnung einer Steuerfestsetzung, weil die Klägerin als Nichtunternehmerin in keinem Umsatzsteuerrechtsverhältnis zum Finanzamt stehe. Schon das Begehren der Klägerin beim Finanzgericht ist folglich insoweit als Verpflichtungsklage zu verstehen (vgl. § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO); dem entspricht der in der Revisionsinstanz gestellte Hilfsantrag.

Der V. Senat beabsichtigt, die Zulässigkeit der unmittelbaren Klageerhebung (Sprungklage) zu bejahen und in der Sache selbst zu entscheiden. Er sieht sich hieran jedoch durch die Urteile des I. Senats vom 21. März 1979 I R 156/75, des II. Senats vom 23. September 1981 II R 181/79, des III. Senats vom 28. April 1972 III R 119/70 (BFHE 106, 116, BStBl II 1972, 711) und vom 19. Mai 1972 III R 138/68 (BFHE 106, 8, BStBl II 1972, 703), des IV. Senats vom 27. Januar 1977 IV R 173/75 (BFHE 122, 5, BStBl II 1977, 510) und durch den Beschluß des VI. Senats vom 21. Januar 1983 VI B 98/82 gehindert. Denn in diesen Entscheidungen ist der Standpunkt vertreten, das Begehren einer Verpflichtung des Finanzamts könne auch dann nicht mit der Sprungklage verfolgt werden, wenn die Verurteilung zum Erlaß eines Verwaltungsaktes der in § 229 RAO oder § 348 AO 1977 bezeichneten Art begehrt wird.

Somit ist gemäß § 11 Abs. 3 FGO die Entscheidung des Großen Senats herbeizuführen. Da die diesbezügliche Entscheidung auf Grund mündlicher Verhandlung ergeht und binnen zweier Wochen der Geschäftsstelle zu übergeben ist (§§ 121, 104 Abs. 2 FGO), war eine vorgängige Befragung der beteiligten Senate unmöglich.

II.

1. Die erhobene Klage ist nicht nur eine Verpflichtungs-, sondern zugleich auch eine Anfechtungsklage. Denn die Verurteilung des Finanzamts zur Umsatzsteuerfestsetzung ist nicht möglich, ohne den eine solche ablehnenden (angefochtenen) Bescheid aufzuheben. Dieses - zufolge des Rechts der Abgabenordnung notwendige - Aufhebungsbegehren wird durch das Begehren der Verpflichtung nicht absorbiert.

Die Verpflichtungsklage - als Klage auf Verurteilung des Beklagten zu einer Leistung (§ 40 Abs. 1 FGO) - ist als solche (soweit nicht zugleich ein ablehnender Verwaltungsakt anzufechten ist) nicht befristet und - anders als die Anfechtungsklage (vgl. § 44 Abs. 2 FGO) - von der Finanzgerichtsordnung nicht ausdrücklich von einem Vorverfahren abhängig gemacht. Das Erfordernis des Vorverfahrens folgt vielmehr vermittels § 44 Abs. 1 FGO aus dem Recht der Abgabenordnung, das für die Ablehnung eines Verwaltungsakts der in § 229 RAO bzw. § 348 AO 1977 bezeichneten Art den außergerichtlichen Rechtsbehelf des Einspruchs vorsieht. Dementsprechend ist, wenn ein Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsakts abgelehnt worden ist, für die Befristung der Klage auf dessen Vornahme in § 47 Abs. 1 Satz 2 FGO die sinngemäße Anwendung der für die Anfechtungsklage gegebenen Vorschrift des § 47 Abs. 1 Satz 1 FGO angeordnet.

Das bedeutet nichts anderes, als daß eine solche Verpflichtungsklage insoweit Anfechtungsklage ist, als die Verurteilung zum Erlaß des begehrten Verwaltungsakts nicht ohne Aufhebung des ablehnenden Bescheids erfolgen kann. Deshalb ist sowohl in § 55 FGO als auch in der hier maßgebenden Vorschrift des § 45 FGO nur von der Anfechtungsklage die Rede. Da § 55 FGO unbestrittenermaßen auch für eine Anfechtungsklage gilt, mit der zugleich die Verpflichtung zum Erlaß eines Verwaltungsakts begehrt wird, kann es in § 45 FGO nicht anders sein.

Demgegenüber gibt § 40 Abs. 1 FGO keinen Anhalt dafür, die dort genannten Klagearten würden sich gegenseitig ausschließen. § 40 Abs. 1 FGO regelt kein geschlossenes System von unter sich unvereinbaren Klagearten. Er umschreibt vielmehr nur den Inhalt dessen, was vor dem Finanzgericht mit der Klage verfolgt werden kann. Deshalb kann z. B. dem Begehren der Aufhebung eines Steuerbescheids (§ 100 Abs. 1 FGO) unter Umständen durch dessen Änderung teilweise entsprochen werden (§ 100 Abs. 2 Satz 1 FGO) und umgekehrt dem Begehren einer Änderung des Steuerbescheids durch dessen Aufhebung gemäß § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO.

Die bloße Verpflichtungsklage als Unterfall der Leistungsklage (§ 40 Abs. 1 FGO) könnte somit unmittelbar ohne Vorverfahren und ohne Bindung an Fristen erhoben werden, sofern nicht das Recht der Abgabenordnung ablehnende Bescheide vorsähe, welche bei unterlassener Anfechtung innerhalb der gesetzlichen Fristen unanfechtbar würden. Das mit der Anfechtungsklage verfolgte Begehren steht demgemäß gleichrangig neben dem Verpflichtungsbegehren; im Entscheidungsgang ist es ihm sogar vorgeordnet. Das Aufhebungsbegehren kann folglich nicht im Verpflichtungsbegehren als unselbständiger Teil aufgehen.

Nur infolge der durch den ablehnenden Bescheid bedingten Verbindung mit der Anfechtungsklage ist der Verpflichtungsklage ein Vorverfahren vorgeschaltet; nur deswegen ist sie fristgebunden. Ergeben sich demnach Befristung und Erfordernis eines Vorverfahrens nur aus der Anfechtung des ablehnenden Verwaltungsakts, dessen Aufhebung begehrt wird, muß § 45 Abs. 1 FGO auch dann eingreifen, wenn nicht nur die Aufhebung dieses dem Einspruch unterliegenden Verwaltungsakts begehrt wird, sondern darüber hinaus die Verurteilung zum Erlaß des begehrten Verwaltungsakts.

2. Diese Auffassung des V. Senats wird durch die Entstehungsgeschichte des § 45 Abs. 1 FGO bestätigt.

Diese Vorschrift ist aus § 261 RAO hervorgegangen, der bei fristgemäßer Zustimmung des Finanzamts statt des Einspruchs die Berufung ohne Beschränkung auf einen bestimmten Klagetyp in allen Fällen eröffnete, in denen ein Bescheid vorlag, gegen den nach § 229 oder § 235 RAO der Einspruch gegeben war (vgl. Urteil vom 12. März 1970 IV 7/65, BFHE 99, 172, BStBl II 1970, 625). Bei der damaligen Berufung stand zwar der Anfechtungscharakter im Vordergrund; jedoch hatte ein der Berufung gegen einen ablehnenden Bescheid i. S. des § 235 Nr. 1 RAO stattgebendes Urteil auch verpflichtende Wirkung.

Der Gesetzgeber hat diesen Rechtszustand mit § 45 Abs. 1 Satz 1 FGO aufrechterhalten wollen. Das ist ausdrücklich in der Begründung zu § 43 des Entwurfs einer Finanzgerichtsordnung (BT-Drucks. IV/1446) hervorgehoben: "Die Möglichkeit, gegenüber den Bescheiden unmittelbar Klage zu erheben, entspricht der bisherigen Regelung der Reichsabgabenordnung ("Sprungberufung" nach § 261 AO)."

In der Begründung zum Entwurf einer Verwaltungsprozeßordnung (BT-Drucks. 9/1851 zu § 72) wird die Beschränkung der Sprungklage auf bloße Anfechtungssachen schon de lege lata als nicht zwingend bezeichnet.

3. Zweck des § 45 Abs. 1 Satz 1 FGO ist es, das Verfahren in Fällen mit aufgeklärtem Sachverhalt zu beschleunigen (vgl. nunmehr Art. 3 § 2 VGFG-EntlG), sofern als außergerichtlicher Rechtsbehelf der Einspruch gegeben ist, also durch die unmittelbare Klage Rechte und Pflichten der Oberfinanzdirektion nicht beeinträchtigt werden. Dieser Zweck kommt gleichermaßen in Anfechtungs- wie in Verpflichtungssachen zum Tragen; es gibt diesbezüglich keinen sachlichen Unterschied zwischen einer bloßen Anfechtungsklage und einer mit einer Anfechtungsklage verbundenen Verpflichtungsklage. Im Bewußtsein dessen hat die Rechtsprechung zunehmend den Bereich der Verpflichtungsklage zugunsten der bloßen Anfechtungsklage eingeschränkt. So hat sie die Anfechtungs- und nicht die Verpflichtungsklage als die systemgerechte Klageart angesehen, wenn der Kläger die Feststellung eines Verlustes statt eines festgestellten Gewinns oder die Feststellung eines höheren als des festgestellten Verlustes begehrt (Beschluß vom 10. Juli 1979 VIII B 84/78, BFHE 128, 164, BStBl II 1979, 567). Der VIII. Senat hat in seinem Urteil vom 17. Oktober 1973 VIII R 149/71 (BFHE 111, 392, BStBl II 1974, 321) unter Berufung auf § 100 Abs. 2 FGO die Anfechtungsklage ohne Vorverfahren zugelassen, wenn das Finanzamt die begehrte Festsetzung einer Investitionszulage aus sachlichen Gründen verweigert hatte.

Das Unbehagen an der Unstatthaftigkeit einer Verpflichtungsklage ohne Vorverfahren mag den IV. Senat in seinem Urteil vom 27. Januar 1977 IV R 173/75 (BFHE 122, 5, BStBl II 1977, 510) bewogen haben, wenn schon nicht § 45 Abs. 1 Satz 1 FGO, so doch Satz 2 dieser Vorschrift anzuwenden und die für unzulässig erachtete Verpflichtungsklage als Einspruch zu behandeln. Eine Verneinung der Anwendbarkeit des § 45 Abs. 1 Satz 1 FGO müßte aber folgerichtig die Nichtanwendbarkeit des § 45 Abs. 1 Satz 2 FGO nach sich ziehen (Urteile vom 20. Februar 1975 IV R 61/74; vom 26. November 1975 II R 57/74; vom 21. März 1979 I R 156/75).

Mit der konsequenten Verneinung der Anwendbarkeit des § 45 Abs. 1 Satz 2 FGO erweist sich die Sprungklage durch ihre Beschränkung auf Anfechtungssachen als "Falle" für Steuerpflichtige, die den - zuweilen nur hauchdünnen - Unterschied zwischen der Anfechtungs- und Verpflichtungsklage verkennen. Stellt sich ihr ohne Vorverfahren eingelegtes Rechtsmittel letztlich als Verpflichtungsklage dar, wäre ihre beim Finanzgericht eingelegte Klage ohne Sachprüfung abzuweisen.

4. Die vom Bundesfinanzhof zugelassene isolierte Anfechtungsklage gegen den Bescheid, mit dem der begehrte Verwaltungsakt abgelehnt worden ist (Urteile vom 28. November 1974 V R 98/70, BFHE 114, 323, BStBl II 1975, 300; vom 14. Januar 1975 VIII R 148/71, BFHE 115, 86, BStBl II 1975, 392; vom 28. Juli 1976 II R 94/73, BFHE 120, 112, BStBl II 1977, 40; vom 26. Oktober 1976 VII R 57/73, BFHE 120, 151, BStBl II 1977, 36), bietet keinen Ersatz für eine ohne vorheriges Einspruchsverfahren zulässige Anfechtungs- und Verpflichtungsklage. Sie war zwar der in der Reichsabgabenordnung vor Inkrafttreten der Finanzgerichtsordnung vorgesehene Weg, aber nur deshalb, weil die Reichsabgabenordnung keine Verpflichtungsklage kannte. Der durch Artikel 19 Abs. 4 des Grundgesetzes gewährleistete Rechtsschutz war demzufolge im Rahmen der "Berufung" zu gewähren, welche sachlich einer Anfechtungsklage entsprach. Demgegenüber stellt die Finanzgerichtsordnung (§ 40 Abs. 1) eine Klage bereit, mit welcher die "Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsaktes" begehrt werden kann. Das einer solchen Verpflichtungsklage stattgebende Urteil erwächst mit dem Inhalt dieser Verpflichtung in Rechtskraft (§ 110 Abs. 1 FGO). Es geht deshalb nicht mehr an, einen Steuerpflichtigen, dessen Begehren im Ergebnis nur mit der erfüllten Verpflichtung genügt wird, auf den schwächeren Rechtsbehelf einer bloßen Anfechtungsklage zu verweisen, die seinem Rechtsschutzbedürfnis nur deshalb entspräche, weil ihm die unmittelbare Verpflichtungsklage versagt würde.

5. Würde der Große Senat die erste Frage verneinen, wäre der V. Senat nach seiner Rechtsauffassung gezwungen, die von der Klägerin beim Finanzgericht eingelegte Verpflichtungsklage als unzulässig zu behandeln. In der beim Finanzgericht eingelegten Klage einen Einspruch zu sehen, wäre nicht möglich. Denn der Einspruch muß beim Finanzamt fristgerecht eingegangen sein. § 45 Abs. 1 Satz 2 FGO ermöglicht zwar, eine ohne Vorverfahren erhobene Anfechtungsklage als Einspruch zu behandeln. wenn die Behörde der Sprungklage nicht fristgemäß zustimmt. Sofern § 45 Abs. 1 Satz 1 FGO für die verbundene Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nicht gilt, kann aber der auf diesen bezogene - und die Statthaftigkeit einer Sprungklage voraussetzende! - Satz 2 ebenfalls nicht zur Anwendung kommen.

Der V. Senat sieht sich an einer solchen Entscheidung durch das Urteil des IV. Senats (BFHE 122, 5, BStBl II 1977, 510) gehindert, so daß auch insoweit gemäß § 11 Abs. 3 FGO die Entscheidung des Großen Senats herbeizuführen war.