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BFH-Urteil vom 20.12.1983 (VII R 123/83) BStBl. 1984 II S. 280

1. Zu den formellen Anforderungen an die Begutachtung einer schriftlichen Prüfungsarbeit bei der Steuerberaterprüfung.

2. Ein Abzug von Punkten bei der Bewertung einer schriftlichen Prüfungsarbeit verletzt auch dann nicht ohne weiteres allgemeingültige Bewertungsgrundsätze, wenn die Musterlösung einen Abzug solcher "Minuspunkte" nicht vorsieht.

DVStB § 24 Abs. 1.

Vorinstanz: Niedersächsisches FG

Sachverhalt

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) bestand die Steuerberaterprüfung 1982 nicht. Ihre schriftlichen Arbeiten wurden wie folgt bewertet: Verfahrensrecht: noch ausreichend (4,5); Ertragsteuern: mangelhaft (5); Buchführung: ausreichend (4). Die Leistung der Klägerin beim Vortrag in der mündlichen Prüfung bewertete die Prüfungskommission mit ungenügend (6). Im übrigen erhielt die Klägerin in der mündlichen Prüfung zweimal die Note 4 und viermal die Note 4,5. Im Anschluß an die mündliche Prüfung vom 15. Februar 1983 wurde der Klägerin eröffnet, sie habe die Steuerberaterprüfung 1982 nicht bestanden.

Die Klausuraufgaben für die Steuerberaterprüfung 1982 wurden in allen Bundesländern gleichzeitig und gleichlautend gestellt (BStBl I 1983, 277). Für die Korrektur lagen bundeseinheitliche Musterlösungen mit Bewertungsvorschlägen vor. Die Bewertungsvorschläge sind nach einem Punktesystem aufgebaut. Für jedes Problem ist eine Höchstpunktzahl vorgesehen, die in der Musterlösung neben der Textziffer, dem Abschnitt oder dem sonst verwendeten Einteilungszeichen erscheint. In einem Bewertungsschema sind die Punkte auf die Noten aufgeteilt. Die Prüfer bewerteten die Klausurarbeiten der Klägerin anhand der Musterlösungen, die jedes Mitglied des Prüfungsausschusses bekam. Der Erstgutachter fertigte für jede Arbeit einen Bewertungsbogen mit Punktetabelle. Diesen reichte er mit der Arbeit an die nachfolgenden Prüfer weiter. Nachdem sämtliche Mitglieder die Arbeiten durchgesehen hatten, erteilte der Prüfungsausschuß die Endnoten. Die "interne" Punktetabelle blieb später bei den persönlichen Prüfungsunterlagen des Erstgutachters.

Für die Ertragsteuerklausur der Klägerin vergab der Erstgutachter auf seinem gesonderten Bewertungsbogen für richtige Lösungen 41 Punkte. Weil die Klägerin infolge überhöhter Anschaffungskosten für ein getauschtes Grundstück einen weitaus überhöhten Veräußerungsgewinn errechnet hatte, zog er ihr von diesen Punkten zwei ab und vermerkte auf dem Bewertungsbogen 39 Punkte. Die Punktebewertung ist aus den Korrekturbemerkungen in den Arbeiten der Klägerin nicht ersichtlich. Die Korrekturen sehen wie folgt aus: Die Ertragsteuerklausur versah der Zeuge B als Erstgutachter mit 47 Haken, 4 "r"- und 13 "f"-Zeichen. Auf einzelnen Seiten sind einige Stellen im Text der Arbeit unterstrichen oder mit Haken versehen. Einmal lautet eine Randbemerkung neben dem Klausurtext (Veräußerungsgewinn 110.000): "!! völlig f". Zwei längere Randbemerkungen lauten: "Problem der Verlustzuweisung trotz negativen Kapitalkontos nicht behandelt. Entsprechende Verlustzuweisungen an A 20.000 und V 10.000 fehlen" und "Problem des Außensteuergesetzes nicht erkannt. Vermietung der Ramme nicht behandelt. Gewerbesteuer nicht angesprochen. Insgesamt völlig verfehlt." Unter der Arbeit steht die Endbeurteilung: "Die Arbeit enthält viele gravierende Fehler. Insgesamt nur mangelhaft (5)." Die übrigen fünf Prüfer haben sich mit dem Urteil "einverstanden" angeschlossen.

Das Finanzgericht (FG) hob die Prüfungsentscheidung auf und verpflichtete den Beklagten und Revisionskläger (Finanzminister), die schriftlichen Arbeiten unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bewerten und die mündliche Prüfung zu wiederholen.

Entscheidungsgründe

Die Revision des Finanzministers ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage.

1. Der rechtliche Ausgangspunkt des FG ist nicht zu beanstanden. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH, die auf der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) beruht, können Prüfungsentscheidungen gerichtlich nur beschränkt überprüft werden. Der Richter kann u. a. prüfen, ob die Prüfer bzw. der Prüfungsausschuß allgemeingültige Bewertungsgrundsätze nicht beachtet haben und ob die für die Prüfung maßgebenden Verfahrensbestimmungen eingehalten worden sind (vgl. zuletzt Urteil des erkennenden Senats vom 3. Juli 1980 VII R 84/79, BFHE 131, 173, BStBl II 1980, 610).

2. Zu Unrecht hat das FG entschieden, die Begutachtung i. S. des § 24 Abs. 1 DVStB setze, falls die Bewertung auf einer Musterlösung mit Punktsystem beruhe, voraus, daß der Bewertungsvorschlag und die individuelle Punktevergabe in die Prüfungsakten eingehe. Für diese Auffassung des FG fehlt es an einer Rechtsgrundlage.

Nach § 24 Abs. 1 DVStB ist jede schriftliche Arbeit von mindestens zwei Mitgliedern des Prüfungsausschusses selbständig zu "begutachten". Aus dem letzten Wort ist nicht zu entnehmen, die Prüfer hätten ein Gutachten mit ausführlicher Begründung zu erstatten. Begutachten in diesem Sinne bedeutet vielmehr den Vorgang des Durchsehens und der Korrektur der schriftlichen Arbeit. Er mündet ein in den Vorschlag der abschließenden Note. Die Vorschrift verlangt nicht, daß die Gründe für die Notenvergabe jeweils in allen Einzelheiten niedergelegt werden. Die Einzelgutachten sind als Benotungsvorschläge zu verstehen (vgl. Urteile des erkennenden Senats vom 26. Juni 1973 VII R 43/72, BFHE 110, 94, 97, BStBl II 1973, 747; vom 24. Juli 1973 VII R 88/72, BFHE 110, 222, 225, BStBl II 1973, 804; vom 28. November 1978 VII R 70/78, BFHE 126, 502, 505, BStBl II 1979, 207; vom 11. Mai 1982 VII R 18/82, BFHE 136, 173, 177, BStBl II 1982, 674). Aus den Feststellungen des FG ergibt sich, daß die Prüfer bei der Begutachtung der schriftlichen Arbeiten der Klägerin diesen Anforderungen genügt haben.

Das FG ist im Gegensatz dazu der Auffassung, der Erstgutachter müsse die richtigen und falschen Lösungen einer Arbeit in einer Dritten verständlichen Weise so kennzeichnen und gewichten, daß die übrigen Mitglieder des Prüfungsausschusses in der Lage seien, die Bewertung nachzuvollziehen. Diese Auffassung ist schon deswegen nicht richtig, weil es Aufgabe des Zweitgutachters und der übrigen Mitglieder des Prüfungsausschusses, die zusammen über die Note entscheiden (vgl. § 24 Abs. 1 Satz 2 DVStB), ist, die schriftliche Arbeit des Prüflings selbst zu beurteilen und nicht die Richtigkeit der Beurteilung des Vorgutachters. Einen "Nachvollzug" der Beurteilungen der einzelnen Gutachter brauchen also weder der Zweitgutachter noch der Prüfungsausschuß vorzunehmen. Der Prüfungsausschuß hat vielmehr in eigener Zuständigkeit als Gremium nach Vorbereitung durch die beiden Gutachter über die Note zu beraten und zu entscheiden (vgl. auch BVerwG-Beschluß vom 23. Februar 1962 VII B 21.61, BVerwGE 14, 31). Der Gutachter ist also nicht verpflichtet, schriftlich eingehend darzulegen, auf welchem Wege er zu seinem Votum gelangt ist. Er muß auch nicht im einzelnen darlegen, welcher Methode er sich bei seiner Begutachtung bedient hat und - falls er von einer Musterlösung mit Punktesystem ausgegangen ist - welche Punkte und wie viele er wofür vergeben hat. § 24 Abs. 1 DVStB schreibt nichts dergleichen vor. Auch mittelbar läßt sich der Vorschrift eine solche Pflicht des Prüfers nicht entnehmen. Folgerichtig ergibt sich daraus auch, daß die individuelle Punktetabelle, die ein Prüfer aus dem Bewertungsvorschlag der Musterlösung abgeleitet und angelegt hat, ebensowenig zu den Prüfungsakten genommen werden muß wie andere Hilfsaufzeichnungen des Prüfers.

3. Unzutreffend ist auch die Meinung des FG, der Prüfungsausschuß habe dadurch gegen allgemeingültige Bewertungsgrundsätze verstoßen, daß er abweichend vom Bewertungsschema der Musterlösung für "besonders gravierende Fehler Minuspunkte" vergeben habe.

Nach ständiger Rechtsprechung des BFH sind Prüfungsentscheidungen höchstpersönliche Werturteile (z. B. Urteil des erkennenden Senats in BFHE 131, 173, 175, BStBl II 1980, 610; vgl. auch Niehues, Schul- und Prüfungsrecht, 2. Aufl., Rdnr. 395, und Urteil des Oberverwaltungsgerichts - OVG - Münster vom 13. Juli 1965 II A 1243/64, OVGE 21, 288, jeweils mit Hinweisen auf Rechtsprechung und Literatur). Der Prüfer kann also diese seine Aufgabe nicht delegieren; seine Beurteilung der Leistungen des Prüflings kann durch eine andere Stelle nicht ersetzt werden. Der Prüfer ist verpflichtet, seine fachlich-wissenschaftliche Beurteilung nach bestem Wissen und Gewissen zu treffen. Da es dabei nur auf sein Wissen und sein Gewissen ankommen kann, kann der Prüfer seiner Aufgabe nur gerecht werden, wenn er in seiner Entscheidung frei und unabhängig ist (vgl. z. B. Entscheidungen des BVerwG vom 14. Juli 1961 VII C 25.61, BVerwGE 12, 359, 363, und in BVerwGE 14, 31, sowie vom 25. März 1981 7 C 8.79, Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, 421.0 Nr. 144).

Mit Urteil vom 20. April 1971 VII R 95/68 (BFHE 102, 187, 191, 192, BStBl II 1971, 499) hat der erkennende Senat daher entschieden, daß Lösungshinweise und Bewertungsvorschläge aufgrund eines Punkteschemas nur eine unverbindliche Hilfe für die gleichmäßige Beurteilung der inhaltlichen Lösung von Prüfungsarbeiten durch die Prüfer sind, die deren Unabhängigkeit und Unvoreingenommenheit als Prüfer jedoch nicht beeinträchtigen dürfen. Die Prüfer sind daher nicht an die in den Lösungshinweisen gegebene Punktebewertung gebunden. Diese Auffassung hat der Senat in ständiger Rechtsprechung bestätigt (vgl. Entscheidungen vom 13. Dezember 1972 VII B 71/72, BFHE 107, 560, 562, BStBl II 1973, 253, und vom 24. August 1976 VII R 17/74, BFHE 120, 106, 108, BStBl II 1976, 797). Der Senat hält an dieser Rechtsprechung fest.

Der erkennende Senat teilt auch nicht die Auffassung des FG, die bundeseinheitliche Musterlösung mit Bewertungs- und Benotungsskala sei eine Verwaltungsrichtlinie (Bewertungsrichtlinie), die die Prüfer nach dem Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung zu beachten hätten. Nach der Feststellung des FG auf S. 3 der Vorentscheidung enthält die Musterlösung Bewertungsvorschläge, ist also keine Bewertungsrichtlinie, die für die Prüfer verbindlich sein soll. Auch aus der Tatsache, auf die das FG verweist, daß "eine Behörde" die Musterlösungen den Prüfern "übergeben" hat, kann nicht der Schluß gezogen werden, diese Behörde (wer?) habe die Prüfer an die Bewertungsmethode der Musterlösung binden wollen. Gegen eine solche Deutung des Vorgehens der Behörde spricht auch nicht, wie das FG meint, eine Vermutung.

Das FG beruft sich für seine Auffassung auf den Grundsatz der Chancengleichheit. Dieser beherrscht in der Tat, wie das FG zu Recht bemerkt, das gesamte Prüfungswesen (vgl. BVerwG-Urteil vom 3. Dezember 1981 7 C 30 und 31.80, Buchholz, a. a. O., 421.0 Nr. 157). Aus ihm läßt sich aber für die Verbindlichkeit der Musterlösung nichts herleiten. Die Chancengleichheit ist gerade dadurch gewahrt, daß jeder Prüfer bzw. der Prüfungsausschuß - von Weisungen frei - nach eigenem Wissen und Gewissen entscheidet. Das bedeutet, daß dem Prüfer ein Beurteilungsspielraum zur Verfügung steht, im Rahmen dessen auch unterschiedliche Entscheidungen möglich sind. Es gibt aber keinen Rechtsgrundsatz, aus dem sich eine Pflicht des Gesetzgebers ergäbe, diese Unterschiede in der Bewertung durch Erlaß von Bewertungsrichtlinien zu vermeiden. Überdies belegt auch die Möglichkeit unterschiedlicher Bewertungen noch nicht, daß das Gebot der Chancengleichheit verletzt sei, da jeder Prüfling in gleicher Weise betroffen ist, also die gleichen Chancen hat.

Gewiß hätte der Prüfungsausschuß den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 des Grundgesetzes (GG) verletzt, wenn er das von ihm praktizierte (und etwa durch Verwaltungsrichtlinien vorgezeichnete) Verfahren gegenüber der Klägerin anders gehandhabt hätte als üblich (vgl. BVerwG-Urteile vom 28. September 1971 VI C 41.68, Buchholz, a. a. O., 421.0 Nr. 47, sowie in Buchholz, a. a. O., 421.0 Nr. 144). Entsprechendes hat aber die Klägerin weder behauptet noch das FG festgestellt. Die Aussage des Erstgutachters vor dem FG spricht im Gegenteil dafür, daß der Prüfer bzw. der Prüfungsausschuß seine bisherige Praxis nicht geändert hat.

Die Klägerin kann sich auch nicht mit Erfolg auf das Urteil des erkennenden Senats vom 21. März 1978 VII R 7/76 (BFHE 125, 222, BStBl II 1978, 534) berufen. Danach müssen sich die beiden Gutachter bei der Bewertung der schriftlichen Prüfungsarbeiten an der Punktetabelle ausrichten, falls sich der Prüfungsausschuß auf dieses Verfahren verständigt hat; wollen die Gutachter im Rahmen ihres Beurteilungsspielraums aus besonderen Gründen von der Punktetabelle abweichen, so muß diese Frage dem Prüfungsausschuß zur Erörterung vorgelegt werden. Es kann unentschieden bleiben, ob in Anbetracht der zitierten Rechtsprechung des Senats über die grundsätzliche Unabhängigkeit der Prüfer dieser Auffassung noch in allen Stücken gefolgt werden kann. Denn auch wenn man sie zugrunde legt, ergibt sich im vorliegenden Fall kein Fehler des Prüfungsausschusses. Nach den Feststellungen des FG hat nämlich der Erstgutachter die Art und Weise seiner Punktevergabe - Vergabe auch von Minuspunkten - auf einem besonderen Bewertungsbogen deutlich gemacht, der allen Mitgliedern des Prüfungsausschusses vorlag. Der Prüfungsausschuß, der in seiner Gesamtheit für die Entscheidung über die Bewertung zuständig war, konnte also - falls er sich überhaupt auf die Nichtvergabe von Minuspunkten verständigt haben sollte, was das FG nicht festgestellt hat - erkennen, daß in diesem Fall eine Abweichung vom selbstgegebenen Beurteilungsverfahren vorlag; er hat dadurch, daß er dem Votum des ersten Gutachters folgte, auch entsprechend über die Bewertung entschieden.