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BFH-Urteil vom 8.3.1984 (I R 44/80) BStBl. 1984 II S. 415

Säumniszuschläge sind wegen sachlicher Unbilligkeit zu erlassen, wenn dem Steuerpflichtigen die rechtzeitige Zahlung der Steuerschulden wegen Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit unmöglich war.

AO 1977 § 227 Abs. 1.

Vorinstanz: FG Münster

Sachverhalt

I.

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) betrieb bis zum 31. Dezember 1964 eine Strickerei. Im Jahr 1965 brachte er sein Einzelunternehmen in eine KG ein, an der er als Komplementär, sein Vater sowie seine damals minderjährigen Kinder als Kommanditisten beteiligt sind.

Zum 1. Januar 1966 verpachtete die KG ihr gesamtes Anlagevermögen an eine neu gegründete Betriebs-GmbH, die zu diesem Zeitpunkt die Produktion und den Vertrieb der Strickwaren übernahm, während sich die KG auf die Verpachtungstätigkeit beschränkte. Am Stammkapital der GmbH sind der Kläger mit 20 %, seine Ehefrau mit 40 % sowie die Eltern des Klägers mit jeweils 20 % beteiligt.

Eine im Jahr 1972 bei der Besitz- und der Betriebsgesellschaft durchgeführte Betriebsprüfung führte beim Kläger zu Steuernachforderungen (Einkommensteuer, Kirchensteuer und Ergänzungsabgabe 1965 bis 1969) in Höhe von insgesamt 155.452 DM.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) berechnete die in der Zeit vom 1. März 1975 (bzw. vom 5. Februar 1975) bis 1. Oktober 1976 (bzw. bis zum 5. Oktober 1976) verwirkten Säumniszuschläge mit insgesamt 32.526 DM.

Mit Schriftsatz vom 26. Januar 1976 beantragte der Kläger die Aufteilung der Steuerschulden nach § 7 Abs. 3 des Steueranpassungsgesetzes auf sich und seine Ehefrau sowie den Erlaß etwaiger Säumniszuschläge.

Das FA teilte mit Bescheid vom 5. August 1976 die rückständigen Gesamtschulden auf den Kläger und seine Ehefrau auf und wies den Erlaßantrag des Klägers zurück.

Die Oberfinanzdirektion Münster hielt in ihrer Entscheidung vom 3. Januar 1977 die vom Kläger gegen die Ablehnung des Erlasses erhobene Beschwerde für unbegründet. Ein Erlaß aus sachlichen Billigkeitsgründen sei nicht gerechtfertigt, da der Kläger die von ihm behauptete Zahlungsunfähigkeit nicht in schlüssiger Form nachgewiesen habe. Die Einkommensverhältnisse des Klägers in den vergangenen Jahren zeigten vielmehr, daß der Kläger die Steuerschulden zumindest ratenweise hätte tilgen können. Zeitweilige finanzielle Engpässe rechtfertigten keinen Erlaß der Säumniszuschläge. Ein Erlaß aus persönlichen Billigkeitsgründen könne mangels Erlaßbedürftigkeit und Erlaßwürdigkeit ebenfalls nicht gewährt werden.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab.

Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung der Denkgesetze; ferner reichten die tatsächlichen Feststellungen des FG zur Begründung der Entscheidung nicht aus.

Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil des FG aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil wird aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen (vgl. § 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

Auf der Grundlage der Feststellungen des FG läßt sich nicht beurteilen, ob der beantragte Erlaß der verwirkten Säumniszuschläge aus sachlichen Billigkeitsgründen ermessensfehlerfrei abgelehnt worden ist.

Gemäß § 227 Abs. 1 der Abgabenordnung - AO 1977 - (vgl. auch § 131 Abs. 1 der Reichsabgabenordnung) können Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, zu denen auch Ansprüche auf Säumniszuschläge als steuerliche Nebenleistungen gehören (§ 37 Abs. 1 i.V.m. § 3 Abs. 3 AO 1977), ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre.

Ein Erlaß von Säumniszuschlägen aus sachlichen Billigkeitsgründen setzt voraus, daß ihre Einziehung im Einzelfall, insbesondere mit Rücksicht auf den Zweck der Säumniszuschläge, nicht mehr zu rechtfertigen ist, obwohl der Sachverhalt zwar den gesetzlichen Tatbestand erfüllt, die Erhebung der Säumniszuschläge aber den Wertungen des Gesetzgebers zuwiderläuft (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 22. April 1975 VII R 54/72, BFHE 116, 87, BStBl II 1975, 727, und vom 14. September 1978 V R 35/72, BFHE 126, 9, BStBl II 1979, 58). Umstände, die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des gesetzlichen Tatbestandes einer Steuervorschrift bewußt in Kauf genommen hat, rechtfertigen nicht den Erlaß aus Billigkeitsgründen (vgl. BFH-Urteile vom 15. Februar 1973 V R 152/69, BFHE 108, 571, BStBl II 1973, 466, und vom 24. September 1976 I R 41/75, BFHE 120, 212, BStBl II 1977, 127). Sowohl nach dem vor dem 1. Januar 1977 geltenden Rechtszustand (§ 1 Abs. 1 des Steuersäumnisgesetzes) als auch nach den Bestimmungen des von da ab maßgeblichen § 240 Abs. 1 AO 1977 sind Säumniszuschläge dem Grunde nach verwirkt oder zu entrichten, wenn eine Steuer nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstages gezahlt worden ist. Durch die Säumniszuschläge soll der Steuerpflichtige zu rechtzeitiger Zahlung der Steuer angehalten werden. Die Säumniszuschläge sind ein Druckmittel eigener Art zur Durchsetzung fälliger Steuern und entstehen kraft Gesetzes bei unterbliebener Zahlung, ohne daß es auf ein Verschulden des Steuerpflichtigen ankommt (BFH-Beschluß vom 8. Dezember 1975 GrS 1/75, BFHE 117, 352, BStBl II 1976, 262). Als mit dem Sinn und Zweck des Gesetzes nicht mehr vereinbar und als einen zwingenden Erlaßgrund wegen sachlicher Unbilligkeit hat der BFH die Erhebung von Säumniszuschlägen insbesondere dann angesehen, wenn dem Steuerpflichtigen die rechtzeitige Zahlung wegen Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit unmöglich ist und deshalb die Ausübung eines Druckes zur Zahlung ihren Sinn verliert (BFHE 116, 87, BStBl II 1975, 727).

a) Zahlungsunfähigkeit ist das auf dem Mangel an Zahlungsmitteln beruhende dauernde Unvermögen des Schuldners, seine sofort zu erfüllenden Geldschulden noch im wesentlichen zu berichtigen (vgl. Böhle-Stamschräder/Kilger, Konkursordnung, 14. Aufl., 1983, § 30 Anm. 5 und § 102 Anm. 2). Dauerndes Unvermögen wird bereits bejaht, wenn feststeht, daß der Schuldner in den nächsten drei bis sechs Monaten seine wesentlichen und fälligen Verbindlichkeiten nicht wird begleichen können (vgl. Mentzel/Kuhn/Uhlenbruck, Konkursordnung, 9. Aufl., 1979, § 30 Rdnr. 2).

Dagegen liegt nur eine Zahlungsstockung vor, wenn zu erwarten ist, daß der Schuldner seine Verbindlichkeiten innerhalb eines Zeitraums, der nach Auffassung des Verkehrslebens den Mangel an bereiten Mitteln als einen nur vorübergehenden erscheinen läßt, erfüllen wird (vgl. Urteil des Reichsgerichts vom 17. Dezember 1901 Rep. VII. 386/01, RGZ 50, 39). Um eine bloße Zahlungsstockung handelt es sich z.B., wenn unerwartet größere Zahlungen zu leisten sind, der Schuldner aber in Kürze ausreichende Barmittel flüssig machen kann (vgl. Böhle-Stamschräder/Kilger, a.a.O., § 30 Anm. 5).

Wie die Verhältnisse im Streitfall liegen, läßt sich den Feststellungen des FG nicht mit ausreichender Sicherheit entnehmen. Der vom FG in den Vordergrund gestellte Umstand, daß der Kläger an der KG eine Beteiligung von erheblichem Wert hält, ist allein nicht geeignet, dessen Zahlungsfähigkeit zu beweisen.

Bei der Beurteilung der Frage, ob es dem Kläger möglich war, sich die Mittel zur Tilgung seiner persönlichen Steuerschulden durch Veräußerung von Vermögenswerten oder durch Kreditaufnahme zu verschaffen, durfte das FG sich nicht mit allgemeinen Angaben begnügen, sondern hätte genau untersuchen müssen, welche Vermögenswerte dem Kläger persönlich zur Veräußerung zur Verfügung standen und ob ihm, insbesondere auch unter Berücksichtigung seiner persönlichen Verhältnisse, eine Kreditaufnahme tatsächlich möglich war.

b) Der Tatbestand der Überschuldung ist erfüllt, wenn die Passiven die Aktiven übersteigen, wenn also das Vermögen des Schuldners seine Verbindlichkeiten nicht mehr deckt (vgl. Mentzel/Kuhn/Uhlenbruck, a.a.O., § 102 Rdnr. 2).

Das FG hat lediglich darauf abgestellt, daß der Kläger an der KG eine Beteiligung von erheblichem Wert gehalten habe und daß die behaupteten Verluste der Betriebs-GmbH nur den Wert der GmbH-Anteile minderten. Es hat aber nicht geprüft, ob der Kläger noch weiteres Vermögen besaß und ob er Verbindlichkeiten eingegangen war, die den tatsächlichen Wert der Beteiligungen und des sonstigen Vermögens möglicherweise überstiegen. Allein auf der Grundlage der Feststellungen des FG läßt sich die Überschuldung des Klägers in dem maßgeblichen Zeitraum nicht beurteilen.