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BFH-Urteil vom 9.5.1984 (II R 108/83) BStBl. 1984 II S. 593

Begehrt der Kläger mit einer Verpflichtungsklage die Aufhebung eines unanfechtbaren Steuerbescheides, so ist dieser Anspruch aus allen rechtlichen Gesichtspunkten zu überprüfen, die nach dem vorliegenden Sachverhalt in Betracht kommen könnten.

AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 2, § 174 Abs. 1; FGO § 40 Abs. 2, § 56 Abs. 1.

Vorinstanz: Hessisches FG

Sachverhalt

Der Kläger und seine Schwester sind Erben ihres 1974 verstorbenen Vaters. Sie hatten aufgrund eines Ehegattentestamentes ihrer Eltern vom 4. September 1962 bereits ihre Mutter beerbt, wobei dem überlebenden Ehemann (dem Vater des Klägers) der lebenslängliche Nießbrauch an dem Nachlaß eingeräumt worden war. Den Wert ihres gemeinsamen Vermögens hatten die Ehegatten in dem Testament mit 1 Mio. DM angegeben. Wegen des Erwerbs von der Mutter hatte das Finanzamt (FA) durch Bescheid vom 25. Mai 1966 vom Kläger 36.550 DM an Erbschaftsteuer gefordert.

Der Kläger wurde nach dem Tode seines Vaters vom beklagten FA vergeblich zur Abgabe einer Erbschaftsteuererklärung aufgefordert. Das FA erließ daraufhin gegen den Kläger am 5. November 1976 einen auf Schätzung beruhenden Erbschaftsteuerbescheid über 90.500 DM; es schätzte den Erwerb des Klägers auf 1 Mio. DM. Der Steuerbescheid enthielt folgende Begründung:

"Die Schätzung erfolgte, da Sie trotz mehrfacher Aufforderung keine Steuererklärung abgegeben haben. Im gemeinschaftlichen Testament Ihrer Eltern vom 4. 9. 1962 wurde der damalige Wert des Vermögens mit 1 Mio. DM angenommen."

Der Steuerbescheid wurde bestandskräftig.

Mit Schreiben vom 13. Juni 1977 reichte der Kläger nachträglich eine Steuererklärung ein, aus der sich ein Wert des Reinnachlasses des Vaters in Höhe von 93.232 DM ergab. Er beantragte, den unanfechtbaren Steuerbescheid gemäß § 174 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) aufzuheben. Der weit überwiegende Teil des im gemeinschaftlichen Testament angegebenen Vermögens habe der Mutter des Klägers zugestanden, wie dem nach dem Tode der Mutter ergangenen Erbschaftsteuerbescheid habe entnommen werden können. Durch die Schätzung des Wertes des von dem Vater erworbenen Vermögens auf 1 Mio. DM sei Vermögen nochmals besteuert worden, das bereits Gegenstand des nach dem Tode der Mutter erlassenen Erbschaftsteuerbescheides vom 25. Mai 1966 gewesen sei. Die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage ist vom Finanzgericht (FG) abgewiesen worden.

Entscheidungsgründe

1. Die Revision des Klägers, mit der er weiterhin den Antrag verfolgt, das FA zur Aufhebung des Steuerbescheides vom 5. November 1976 zu verpflichten, ist zulässig, obwohl die Revisionsbegründungsschrift erst zwei Tage nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist beim Bundesfinanzhof (BFH) eingegangen ist. Dem Kläger ist jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Ihn trifft kein Verschulden an dem verspäteten Eingang der Revisionsbegründungsschrift.

Die Revisionsbegründungsschrift ist am 30. August 1983 um 15 Uhr in Frankfurt am Main als Einschreiben aufgegeben worden. Nach den von der Post bestätigten Postlaufzeiten konnte der Kläger damit rechnen, daß der Auslieferungsschein für das Einschreiben (vgl. § 53 Abs. 1, Abs. 7 Satz 2 i. V. m. § 1 Abs. 4 der Postordnung) am nächsten Tag, dem letzten Tag der verlängerten Revisionsbegründungsfrist, in das Postfach des BFH gelangte. Nach den beim BFH getroffenen Vorkehrungen wäre das Einschreiben selbst noch am gleichen Tage am Postschalter abgefordert worden, womit der rechtzeitige Eingang des Einschreibens (vgl. das Urteil des BFH vom 22. Oktober 1975 I R 214/73, BFHE 117, 139, 141, BStBl II 1976, 76; das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 27. Mai 1983 7 C 79/81, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1983, 2344, und den Beschluß des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 20. Oktober 1983 III ZR 42/83, Versicherungsrecht 1984, 45) sichergestellt worden wäre.

2. Die danach zulässige Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG, wenn auch aus anderen als den geltend gemachten Gründen (vgl. § 126 Abs. 3 Nr. 2, § 118 Abs. 3 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

a) Der Senat folgt dem FG darin, daß der Kläger sein Verpflichtungsbegehren nicht mit Erfolg auf § 174 Abs. 1 AO 1977 stützen kann; denn dessen Voraussetzungen sind nicht erfüllt.

Widerstreitende Steuerfestsetzungen liegen entgegen der Auffassung des Klägers nicht vor. Es ist kein bestimmter Sachverhalt in mehreren Steuerbescheiden zuungunsten des Klägers berücksichtigt worden, obwohl er nur einmal hätte berücksichtigt werden dürfen. Durch die beiden Erbschaftsteuerbescheide vom 25. Mai 1966 und vom 5. November 1976 wurden unterschiedliche Erwerbe erfaßt. Der frühere Bescheid erfaßte den Erwerb nach dem Tode der Mutter des Klägers; der Bescheid vom 5. November 1976 den Erwerb des Klägers nach dem Tode seines Vaters.

Daß das FA bei Erlaß des Bescheides vom 5. November 1976 den Wert des mit dem Tode des Vaters auf den Kläger übergegangenen anteiligen Nachlasses des Vaters in Anlehnung an den von den Eltern in ihrem Testament angegebenen Wert ihres gemeinschaftlichen Vermögens im Jahr 1962 schätzte, ist allerdings kaum verständlich; es sei denn, daß das FA den Kläger dadurch veranlassen wollte, Einspruch einzulegen und eine Steuererklärung abzugeben. Gleichwohl führte dies nicht zu einer doppelten Erfassung desselben Sachverhalts, sondern lediglich zu einer Fehlschätzung und damit zur Fehlerhaftigkeit des Steuerbescheides. Daraus kann jedoch nicht der Schluß gezogen werden, daß das FA den Erwerb von der Mutter durch den Kläger nochmals besteuern wollte.

Dem angefochtenen Steuerbescheid kann auch nicht entnommen werden, daß das FA ausdrücklich Vermögensteile in die Steuerberechnung einbezogen hätte, deren Eigentümer bzw. Rechtsinhaber der Kläger bereits seit dem Tode der Mutter war.

b) Daß die Voraussetzungen des § 174 Abs. 1 AO 1977 nicht erfüllt worden sind, führt noch nicht zur Abweisung der Klage, deren Ziel die Verpflichtung des FA zur Aufhebung des unanfechtbaren Erbschaftsteuerbescheides vom 5. November 1976 ist. Streitgegenstand dieser Verpflichtungsklage ist die Rechtsbehauptung des Klägers, die Ablehnung der begehrten Aufhebung des Steuerbescheides verletze ihn in seinen Rechten (vgl. § 40 Abs. 2 FGO; Ziemer/Haarmann/Lohse/Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen; Tz. 7007). Demgemäß mußte das FG bei seiner Entscheidung über die Verpflichtungsklage auch prüfen, ob das Vornahmebegehren (die Verpflichtung zur Aufhebung des unanfechtbaren Steuerbescheides) mit einer anderen Begründung Erfolg haben konnte (vgl. Redeker/von Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 7. Aufl., § 108 Tz. 35). Dies galt jedenfalls dann, wenn der dem Gericht unterbreitete Sachverhalt Anlaß zu dieser Prüfung gab wie im vorliegenden Falle.

Durch die nachträglich eingereichte Steuererklärung wurden dem FA Tatsachen bekannt, die eine Aufhebung des unanfechtbaren Steuerbescheides bei Erfüllung der Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 hätten rechtfertigen können. Hieran ändert auch der Umstand nichts, daß der Kläger sich auf diese Vorschrift nicht berufen hat. Das Gericht ist bei seiner Entscheidung nicht auf die Überprüfung der rechtlichen Begründung des Klägers beschränkt, sondern es hat über seine Rechtsbehauptung im Rahmen des Streitgegenstandes aus allen rechtlichen Gesichtspunkten jedenfalls insoweit zu entscheiden, als der Sachverhalt hierzu Anlaß gibt. Denn die Rechtskraft eines abweisenden Urteils würde es verhindern, daß der Kläger in einem neuen Verfahren unter Berufung auf die bereits im Vorverfahren bekannten neuen Tatsachen eine Aufhebung gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 begehren könnte.

Etwas anderes könnte nur dann gelten, wenn dem angefochtenen Urteil zu entnehmen wäre, daß das FG auch diese Frage geprüft und verneint hat. Dies ist jedoch nicht der Fall.

c) Die nicht spruchreife Sache geht an das FG zurück. Der erkennende Senat kann die Frage des Vorliegens der Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 nicht selbst klären, weil keine Feststellungen darüber vorliegen, warum der Kläger die angeforderte Steuererklärung nicht rechtzeitig eingereicht und gegen den unrichtigen Steuerbescheid keinen Einspruch eingelegt hat.