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BFH-Urteil vom 1.8.1984 (I R 88/80) BStBl. 1985 II S. 44

Die Bildung einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten setzt - unter anderem - voraus, daß das Be- oder Entstehen der Verbindlichkeit und die Inanspruchnahme des Steuerpflichtigen wahrscheinlich sind; das ist der Fall, wenn auf der Grundlage am Bilanzstichtag vorliegender und spätestens bei der Aufstellung der Bilanz erkennbarer Tatsachen aus der Sicht eines sorgfältigen und gewissenhaften Kaufmanns mehr Gründe dafür als dagegen sprechen.

EStG 1965/1967 § 5 Satz 1; AktG § 152 Abs. 7.

Vorinstanz: FG Düsseldorf

Sachverhalt

I.

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger), der mit seiner Ehefrau, der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wurde, betreibt eine ... -fabrik.

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob in den Bilanzen auf den 31. Dezember 1966 und 31. Dezember 1967 eine Rückstellung zu bilden ist und ob durch die Rückstellungen verursachte Verluste aus Gewerbebetrieb im Jahre 1968 gemäß § 10d des Einkommensteuergesetzes (EStG) 1967 abgezogen werden können.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) veranlagte die Kläger entsprechend den jeweiligen Erklärungen für das Jahr 1966 endgültig und für die Jahre 1967 und 1968 gemäß § 100 Abs. 2 der Reichsabgabenordnung vorläufig.

Im Jahre 1971 fand bei dem Kläger eine Betriebsprüfung für die Jahre 1964 bis 1968 statt. Der Prüfer ermittelte für die Kläger für die Veranlagungszeiträume 1966 bis 1968 die folgenden zu versteuernden Einkommen und Einkommensteuerbeträge:

                                                                      1966                 1967               1968

                                                                       DM                   DM                  DM

  

zu versteuerndes Einkommen                   172.172              32.624              6.181

Einkommensteuer                                     69.350                6.520                534

Nach Bekanntgabe des Prüfungsberichts teilte der Kläger dem FA erstmals durch Schreiben vom 11. September 1971 mit, daß die holländische Firma X Schadensersatzansprüche gegen ihn wegen Nichterfüllung eines Vertrages geltend gemacht habe, und zwar

20.000 hfl für 1965,

155.000 hfl für 1966 und

100.000 hfl für 1967.

Der Kläger beantragte, diese Schadenersatzforderungen, die er bisher in seinen Bilanzen nicht berücksichtigt hatte, bei den Berichtigungsveranlagungen gewinnmindernd anzusetzen. Diesen Forderungen lag nach dem Vortrag des Klägers folgender Sachverhalt zugrunde:

Der Kläger und die Firma X hätten am 28. Oktober 1965 einen Vertrag abgeschlossen, in dem sich der Kläger verpflichtet habe, der Firma X für die Zeit vom 1. November 1965 bis 31. Oktober 1967 monatlich 2.000 Packungen eines bestimmten Mittels zu liefern.

In einem "Anhang zum Vertrag vom 28. 10. 1965" vom 5. November 1965 habe sich der Kläger verpflichtet, ein anderes, in Holland genehmigtes Präparat zu liefern, falls das im Vertrag vom 28. Oktober 1965 genannte Präparat in Holland bereits verboten sei bzw. noch verboten werde.

Der Kläger habe in der Folgezeit weder das im ursprünglichen Vertrag vereinbarte Präparat noch ein Ersatzpräparat geliefert.

Nachdem die Firma X den Kläger durch Schreiben vom 26. November und 17. Dezember 1965 zur Lieferung aufgefordert habe, habe sie durch Schreiben vom 23. Dezember 1965 erstmals Schadenersatz wegen Kosten und entgangenen Gewinns in zunächst nicht näher bestimmter Höhe geltend gemacht. Mit Schreiben vom 30. Dezember 1965 habe sie ihren erlittenen Schaden auf 20.000 hfl beziffert. Dabei habe sie für die Monate November und Dezember einen Reingewinn von 5 hfl pro Pakkung und daraus resultierend einen entgangenen Gewinn von 10.000 hfl (5 hfl für jede der zu liefernden 2.000 Packungen) pro Monat zugrunde gelegt.

Mit Schreiben vom 21. April 1966 habe die Firma X die 20.000 hfl angemahnt. Darauf habe der Kläger erwidert, die Lieferung sei ihm, wie bereits schriftlich und telefonisch mitgeteilt, unmöglich geworden, weil das zu liefernde Präparat nach Abschluß des Vertrages in der Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik) durch das Arzneimittelgesetz verboten worden sei. Er nehme an, die Firma X sehe ein, daß die geltend gemachte Forderung "nicht in vollem Umfang zurecht" bestehe.

Mit Schreiben vom 11. November 1966 habe die Firma X einen weiteren Schaden von 155.000 hfl geltend gemacht. Diesen habe sie mit 120.000 hfl (10.000 hfl entgangener Gewinn pro Monat) für 1966 und mit 35.000 hfl für Kosten (Aufbau eines Vertriebsnetzes für den Verkauf, Werbung für das Präparat usw.) berechnet, die sie wegen der nicht erfolgten Belieferung durch den Kläger unnütz aufgewendet habe.

In der Folgezeit hätten zwischen dem Kläger und der Firma X mündliche, telefonische und schriftliche Verhandlungen über die Schadenersatzforderungen geschwebt, die sich bis Ende 1971 hingezogen hätten.

Im Rahmen dieser Verhandlungen, in denen der Kläger sich stets darauf berufen habe, die Erfüllung des Liefervertrages sei ihm durch ein in der Bundesrepublik ausgesprochenes gesetzliches Verbot der Produktion und des Vertriebes des von ihm zu liefernden Präparates unmöglich gewesen, sei die Möglichkeit erörtert worden, durch die Lieferung anderer Waren die Schadenersatzforderung der Firma X abzutragen. Für den Fall entsprechender Ersatzlieferungen habe die Firma X u.a. mit Schreiben vom 14. August 1967 die Möglichkeit angedeutet, auf den für die Restlaufzeit des Vertrages vom 1. Januar 1967 bis 31. Oktober 1967 entstehenden Schadenersatz wegen entgangenen Gewinns zu verzichten.

Mit Schreiben vom 9. November 1971 habe die Firma X ihren Schaden erstmals anwaltlich geltend gemacht. Sie habe diesen auf insgesamt 275.000 hfl beziffert. In diesem Betrag sei über die bereits für 1965 und 1966 geltend gemachten 175.000 hfl hinaus ein Betrag von 100.000 hfl für die Zeit vom 1. Januar bis zum Auslaufen des Vertrages vom 28. Oktober 1965 am 31. Oktober 1967 enthalten. Ein vom Kläger konsultierter holländischer Rechtsanwalt habe dringend geraten, es nicht auf einen Prozeß ankommen zu lassen, sondern mit der Firma X - wenn eben möglich - einen Vergleich anzustreben. Dieser dem Kläger von seinem Anwalt empfohlene Vergleich sei am 16. Januar 1973 zustande gekommen. In diesem Vergleich habe sich der Kläger verpflichtet, der Firma X zur Abgeltung sämtlicher Schadenersatzansprüche 203.000 DM zu zahlen.

Das FA kam aufgrund dieses vom Kläger behaupteten Sachverhalts zu dem Ergebnis, daß die von der Firma X geltend gemachte Schadenersatzforderung von 275.000 hfl - nach den damals geltenden Wechselkursen demselben Betrag in DM entsprechend - in voller Höhe bereits im Jahre 1965 zurückzustellen sei.

Nach der Berechnung des FA ergab sich für dieses Jahr ein Verlust von 266.991 DM. Den Vortrag dieses Verlustes auf die Folgejahre lehnte das FA ab, weil die Buchführung des Jahres 1965 nach der übereinstimmenden Auffassung der Beteiligten nicht ordnungsmäßig war. Für die Jahre 1966 bis 1968 ging das FA daher von den durch die Betriebsprüfung festgestellten Gewinnen ohne einen Abzug für den Verlust aus dem Jahre 1965 aus und setzte die Einkommensteuer in Höhe von 69.350 DM (1966), 6.520 DM (1967) und 534 DM (1968) fest.

Mit ihrem Einspruch machten die Kläger geltend, wegen der Schadenersatzforderung eine Rückstellung in Teilbeträgen von 20.000 DM für 1965, 155.000 DM für 1966 und 100.000 DM für 1967 zu bilden; bei dieser Sachbehandlung ergebe sich durch den dann vorzunehmenden Verlustabzug auch für das Jahr 1968 eine Steuer von null DM. Der Einspruch blieb erfolglos.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab.

Mit der Revision rügen die Kläger Verletzung materiellen Rechts.

Sie beantragen, das angefochtene Urteil des FG aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist begründet; das angefochtene Urteil wird aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen (vgl. § 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Die vom FG getroffenen Feststellungen reichen nicht aus, um beurteilen zu können, ob die von dem Kläger aufgestellten Bilanzen unrichtig und damit gemäß § 4 Abs. 2 Satz 1 EStG zu berichtigen waren.

1. Gemäß § 5 Satz 1 EStG 1965/1967 haben Gewerbetreibende, die - wie der Kläger - Bücher führen und regelmäßig Abschlüsse machen, für den Schluß des Wirtschaftsjahrs das Betriebsvermögen anzusetzen, das nach den handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung auszuweisen ist. Dieser Grundsatz gilt, wie der Große Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) mit Beschluß vom 3. Februar 1969 GrS 2/68 (BFHE 95, 31, BStBl II 1969, 291) entschieden hat, mit der Maßgabe, daß Passivposten in der Steuerbilanz angesetzt werden dürfen und müssen, wenn sie nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung in der Handelsbilanz passivierungspflichtig sind.

2. § 152 Abs. 7 des Aktiengesetzes regelt die Bildung von Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten und enthält insoweit einen Grundsatz ordnungsmäßiger Buchführung; entgegen seinem Wortlaut besteht handelsrechtlich jedoch nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht zur Passivierung (vgl. BFH-Urteile vom 20. Januar 1983 IV R 168/81, BFHE 137, 489, BStBl II 1983, 375, mit weiteren Nachweisen, und vom 19. Mai 1983 IV R 205/79, BFHE 139, 41, BStBl II 1983, 670).

Die Pflicht zur Bildung von Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten setzt voraus, daß das Bestehen oder künftige Entstehen der Verbindlichkeiten dem Grunde und/oder der Höhe nach sowie die Inanspruchnahme des Steuerpflichtigen wahrscheinlich sind und ferner, daß die ungewisse Verbindlichkeit wirtschaftlich bereits im abgelaufenen Wirtschaftsjahr (oder in vorausgegangenen Wirtschaftsjahren) verursacht worden ist (vgl. BFH-Urteile vom 24. Juni 1969 I R 15/68, BFHE 96, 101, BStBl II 1969, 581; BFHE 137, 489, BStBl II 1983, 375; BFHE 139, 41, BStBl II 1983, 670).

a) Das Be- oder Entstehen einer Verbindlichkeit sowie die Inanspruchnahme des Steuerpflichtigen sind wahrscheinlich, wenn mehr Gründe für als gegen das Be- oder Entstehen einer Verbindlichkeit und eine künftige Inanspruchnahme sprechen. Diese Voraussetzung ist nicht nach den subjektiven Erwartungen des Steuerpflichtigen zu prüfen, sondern auf der Grundlage objektiver, am Bilanzstichtag vorliegender und spätestens bei Aufstellung der Bilanz erkennbarer Tatsachen aus der Sicht eines sorgfältigen und gewissenhaften Kaufmanns zu beurteilen (vgl. BFH-Urteile vom 16. Juli 1969 I R 81/66, BFHE 96, 510, BStBl II 1970, 15; vom 4. Dezember 1980 IV B 35/80, BFHE 132, 273, BStBl II 1981, 266; BFHE 139, 41, BStBl II 1983, 670).

aa) Das FG hat nicht untersucht, ob das Be- oder Entstehen der von der Firma X geltend gemachten Forderungen wahrscheinlich war, sondern hat sich mit der Feststellung begnügt, daß es an den jeweiligen Bilanzstichtagen 1965 bis 1968 zweifelhaft gewesen sei, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe die Forderung bestanden habe. Bei der erneuten Prüfung dieser Voraussetzung wird das FG auch zu berücksichtigen haben, ob es dem Kläger aufgrund eines gesetzlichen Verbots tatsächlich unmöglich war oder wurde, die vertraglich geschuldete Leistung zu erbringen; denn nach dessen eigener Aussage vor dem FG war die zur Ausfuhr bestimmte Produktion der Mittel nicht verboten.

bb) Weiterhin hat das FG zu Unrecht entscheidend darauf abgestellt, daß der Kläger aufgrund seiner - subjektiven - Beurteilung nicht ernsthaft damit gerechnet habe, von der Firma X in Anspruch genommen zu werden.

Der erkennende Senat kann nicht selbst entscheiden, ob eine Inanspruchnahme des Klägers zu den einzelnen Bilanzstichtagen nach den objektiven Gegebenheiten wahrscheinlich war; denn diese Feststellung erfordert eine Prognose aufgrund tatsächlicher Erkenntnisse (vgl. BFHE 96, 510, BStBl II 1970, 15; BFH-Urteil vom 17. Juli 1980 IV R 10/76, BFHE 133, 363, BStBl II 1981, 669). Tatsächliche Feststellungen sind aber - von hier nicht einschlägigen Ausnahmen abgesehen - vom FG als Tatsacheninstanz zu treffen (vgl. § 118 Abs. 2 FGO und Gräber, Finanzgerichtsordnung, 1977, § 118 Anm. 9 B mit weiteren Nachweisen).

b) Im abgelaufenen Wirtschaftsjahr wirtschaftlich verursacht ist eine ungewisse Verbindlichkeit, wenn sie so eng mit dem betrieblichen Geschehen des abgelaufenen Wirtschaftsjahres verknüpft ist, daß es gerechtfertigt erscheint, sie wirtschaftlich als eine bereits am Bilanzstichtag bestehende Verbindlichkeit anzusehen. Das ist der Fall, wenn der Tatbestand, an den ein Gesetz oder ein Vertrag das Entstehen der Verpflichtung knüpft, im wesentlichen bereits verwirklicht ist (vgl. BFHE 96, 101, BStBl II 1969, 581; BFH-Urteil vom 20. März 1980 IV R 89/79, BFHE 130, 165, BStBl II 1980, 297; BFHE 137, 489, BStBl II 1983, 375; BFHE 139, 41, BStBl II 1983, 670).

Diese Voraussetzung liegt vor, wenn - ungeachtet der rechtlichen Gleichwertigkeit aller Tatbestandsmerkmale eines Anspruchs bzw. einer Verbindlichkeit - die wirtschaftlich wesentlichen Tatbestandsmerkmale erfüllt sind und das Entstehen der Verbindlichkeit nur noch von wirtschaftlich unwesentlichen Tatbestandsmerkmalen abhängt (vgl. Döllerer, Grundsätzliches zum Begriff der Rückstellungen, Deutsche Steuerzeitung/Ausgabe A 1975, 291, 294).

Das FG hat diese Voraussetzung nicht geprüft, weil es bereits eine Inanspruchnahme des Klägers aus dessen Sicht für unwahrscheinlich hielt; es wird dementsprechend, sofern es die übrigen Voraussetzungen zur Bildung einer Rückstellung für gegeben hält, bei seiner erneuten Entscheidung zu untersuchen haben, zu welchem Zeitpunkt der die Verpflichtung des Klägers zum Schadenersatz begründende Tatbestand im wesentlichen verwirklicht worden ist.