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BFH-Urteil vom 28.9.1984 (VI R 48/82) BStBl. 1985 II S. 117

1. Die erstmalige Ausübung eines nicht fristgebundenen steuerlichen Wahlrechts nach Bestandskraft der Einkommensteuerfestsetzung steht einer Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977 nicht entgegen.

2. Der steuerpflichtige Teil einer Zuwendung, die ein Arbeitnehmer aus Anlaß seines Dienstjubiläums vom Arbeitgeber erhält, kann grundsätzlich nach § 34 Abs. 3 EStG verteilt werden.

AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1; EStG § 34 Abs. 3.

Vorinstanz: FG Baden-Württemberg

Sachverhalt

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) erhielt nach seinen Angaben aus Anlaß seines 25-jährigen Dienstjubiläums von seiner Arbeitgeberin im Streitjahr 1976 eine Jubiläumszuwendung von 17.926 DM. Die Arbeitgeberin des Klägers rechnete diese Sondervergütung nach Abzug eines steuerfreien Betrages von 1.200 DM den Einkünften des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit des Jahres 1976 hinzu, ohne sie im Lohnzettel und der Lohnsteuerkarte besonders auszuweisen. Nach Bestandskraft der Einkommensteuerveranlagung 1976 beantragte der Kläger beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -), den Einkommensteuerbescheid des Streitjahres nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) zu ändern und die Jubiläumszuwendung gemäß § 34 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) auf die Jahre 1967 bis 1969 zu verteilen, weil ihm erst aufgrund eines nach Eintritt der Bestandskraft von seiner Arbeitgeberin geänderten Lohnzettels bekanntgeworden sei, daß in dem Gesamtbetrag seiner Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit eine Jubiläumszuwendung enthalten gewesen sei. In dem geänderten Lohnzettel ist die Sondervergütung als "Ehrengabe" bezeichnet.

Das FA lehnte die Änderung des Einkommensteuerbescheides ab.

Die hiergegen erhobene Sprungklage hatte keinen Erfolg.

Das Finanzgericht (FG) führte im wesentlichen aus:

Die Tatsache, daß der Kläger von seiner Arbeitgeberin im Streitjahr eine Jubiläumszuwendung erhalten habe, sei dem FA zwar erst nach Bestandskraft der Einkommensteuerveranlagung und damit nachträglich i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 bekanntgeworden. Die Tatsache führe aber nicht für sich allein zu einer niedrigeren Steuer, da hierfür eine vom Willen des Klägers abhängige Rechtsgestaltung durch Ausübung eines Wahlrechts hinzukommen müsse. Mangels des rechtzeitig ausgeübten Wahlrechts seien die an sich vorhandenen neuen Tatsachen nicht rechtserheblich, weil allein entscheidend sei, ob der ursprüngliche Bescheid hätte in der Form ergehen können oder müssen, wie er in Bestandskraft erwachsen sei, wenn das FA die nachträglich bekanntgewordene Tatsache schon bei der Veranlagung gekannt hätte. Eine Verteilung der Jubiläumszuwendung auf verschiedene Jahre, in deren Verlauf diese Einkünfte erzielt worden seien, wäre dem FA aber ohne entsprechende Wahl des Klägers rechtlich versagt gewesen, weil es dem Steuerpflichtigen freistehe, ob und in welcher Weise er sein Wahlrecht ausübe.

Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977. Diese Vorschrift setze für eine Änderung zugunsten des Steuerpflichtigen lediglich das Bekanntwerden neuer Tatsachen oder Beweismittel voraus. Es gebe keinen Anhaltspunkt dafür, daß nachträglich bekanntgewordene Tatsachen nicht zu einer Änderung führen dürften, wenn ihre Berücksichtigung von einem Antrag oder der Ausübung eines Wahlrechts des Steuerpflichtigen abhängig sei.

Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Einkommensteuer 1976 auf 105.650 DM festzusetzen.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet.

Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung. Das Urteil des FG beruht auf einer Verletzung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977.

Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977 sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekanntwerden, die zu einer niedrigeren Steuer führen, und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, daß die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekanntwerden. "Tatsache" ist alles, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestandes sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen, Eigenschaften materieller oder immaterieller Art (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 31. März 1981 VII R 1/79, BFHE 133, 13, 18, BStBl II 1981, 507, 510). Im Streitfall ist der Umstand, daß der Kläger im Jahre 1976 von seiner Arbeitgeberin eine Sondervergütung erhalten hat, eine derartige Tatsache. Diese ist dem FA nachträglich bekanntgeworden.

Das FG hat allerdings - von seinem Standpunkt aus zu Recht - keine näheren Feststellungen getroffen, ob es sich bei der Sondervergütung tatsächlich um eine Jubiläumszuwendung handelt. Zweifel könnten insoweit bestehen, als in dem geänderten Lohnzettel nur von einer "Ehrengabe" die Rede ist. Liegt tatsächlich eine Jubiläumszuwendung aus Anlaß des 25-jährigen Dienstjubiläums des Klägers vor, würde dieser Umstand - bei Vorliegen der sonstigen Tatbestandsvoraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977 - im Streitjahr zu einer niedrigeren Steuer führen können, weil auf den steuerpflichtigen Teil einer derartigen Zuwendung § 34 Abs. 3 EStG anwendbar ist. Nach dieser Vorschrift können Einkünfte, die die Entlohnung für eine Tätigkeit darstellen, die sich über mehrere Jahre erstreckt, zum Zwecke der Einkommensteuerveranlagung auf die Jahre verteilt werden, in deren Verlauf sie erzielt wurden, und als Einkünfte eines jeden dieser Jahre angesehen werden, vorausgesetzt, daß die Gesamtverteilung drei Jahre nicht überschreitet. Sinn dieser Regelung ist es, die Tarifprogression bei zusammengeballter Entlohnung für die Tätigkeit mehrerer Jahre zum Teil zu beseitigen. Die steuerliche Belastung soll möglichst nicht höher sein, als wenn dem Steuerpflichtigen die Geldleistung verteilt auf mehrere Jahre zugeflossen wäre (vgl. BFH-Urteil vom 10. Juni 1983 VI R 106/79, BFHE 138, 454, BStBl II 1983, 575). Dabei werden von dieser Vergünstigung nicht nur nachzuzahlende Arbeitslöhne erfaßt, auf die der Arbeitnehmer einen Rechtsanspruch hat und die schon deshalb zurückliegende Lohnzahlungszeiträume betreffen. Vielmehr sind als Entlohnung im vorgenannten Sinne auch freiwillige Leistungen zu verstehen (BFH-Urteile vom 10. Juni 1983 VI R 176/80, BFHE 138, 456, BStBl II 1983, 642, und in BFHE 138, 454, BStBl II 1983, 575).

Jubiläumszuwendungen, die aus Anlaß von Dienstjubiläen gewährt werden, stehen wirtschaftlich mit der vom Arbeitnehmer in den zurückliegenden Dienstjahren geleisteten Arbeit in Zusammenhang. Mit ihnen werden regelmäßig die in der Vergangenheit vom Arbeitnehmer geleisteten Dienste und seine Betriebstreue belohnt. Der Senat vermag deshalb nicht der Auffassung des Niedersächsischen FG (Urteil vom 27. Oktober 1981 V 102/81, rechtskräftig, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1982, 248) und des FG Nürnberg (Urteil vom 17. Mai 1974 III 84/71, rechtskräftig, EFG 1974, 423) zu folgen, eine solche Jubiläumszuwendung sei keine Entlohnung für eine mehrjährige Tätigkeit. Vielmehr ist auf eine Jubiläumszuwendung, die ihren Grund in einem Dienstjubiläum hat, grundsätzlich § 34 Abs. 3 EStG anzuwenden (Herrmann-Heuer-Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz mit Nebengesetzen, Kommentar, 19. Aufl., § 34 EStG Anm. 27 f. "Jubiläumsgeschenke"; Blümich-Falk, Einkommensteuergesetz, 11. Aufl., § 34 Anm. IV 4 c; Littmann, Das Einkommensteuerrecht, 13. Aufl., § 34 Rdnr. 56; Lademann-Söffing-Brockhoff, Kommentar zum Einkommensteuergesetz, § 34 Anm. 125; Gänger in Hartmann-Böttcher-Nissen-Bordewin, Kommentar zum Einkommensteuergesetz, § 34 Rdnr. 63 "Jubiläumszuwendungen"; Schmidt-Seeger, Einkommensteuergesetz, 3. Aufl., § 34 Anm. 17; Klein- Flockermann-Kühr, Kommentar zum Einkommensteuergesetz, 3. Aufl., § 34 Rdnr. 98; vgl. auch BFH-Urteil vom 8. März 1957 VI 32/56 U, BFHE 94, 496, BStBl III 1957, 185, und Abschn. 201 der Einkommensteuer- Richtlinien - EStR -).

Für die Anwendung des § 34 Abs. 3 Satz 1 EStG ist zwar ein förmlicher Antrag nicht erforderlich (BFH-Urteile vom 2. Februar 1962 VI 267/61 U, BFHE 74, 340, BStBl III 1962, 130, und vom 16. September 1966 VI 381/65, BFHE 86, 760, 763, BStBl III 1967, 2, 3; Herrmann-Heuer-Raupach, a. a. O., Anm. 29; Blümich-Falk, a. a. O., Anm. I 4a; Littmann, a. a. O., Rdnr. 4; Gänger in Hartmann-Böttcher-Nissen- Bordewin, a. a. O., Rdnr. 7; Schmidt-Seeger, a. a. O., Anm. 4b). Jedoch hat der Steuerpflichtige nach § 34 Abs. 3 Satz 2 EStG in dem dort näher bezeichneten Umfang ein Wahlrecht, auf welche Jahre er die Einkünfte i. S. des § 34 Abs. 3 Satz 1 EStG verteilt haben will (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 22. November 1974 VI R 64/71, BFHE 114, 408, BStBl II 1975, 328). Dieses hat der Kläger im Streitfall dahin ausgeübt, daß er die Verteilung auf die Jahre 1967 bis 1969 gewählt hat.

Der Umstand, daß der Kläger sein Wahlrecht erst nach Bestandskraft der Einkommensteuerveranlagung des Streitjahres ausgeübt hat, steht der Anwendung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 nicht entgegen. Allerdings hat der BFH in seinem Urteil vom 10. August 1961 IV 117/58 U (BFHE 73, 735, BStBl III 1961, 534), das zu § 222 Abs. 1 Nr. 2 der Reichsabgabenordnung (AO) ergangen ist, entschieden, daß Tatsachen, deren steuerliche Berücksichtigung von der Ausübung eines Wahlrechts abhängig sei, grundsätzlich zu keiner Änderung zugunsten des Steuerpflichtigen führen könnten, weil neue Tatsachen im Sinne dieser Vorschrift nur objektive Tatsachen seien, die unabhängig vom Willen des Steuerpflichtigen eine niedrigere Veranlagung rechtfertigen.

Diese Rechtsprechung ist nach Auffassung des erkennenden Senats auf § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 nicht anwendbar. Die genannte Vorschrift durchbricht die Bestandskraft eines Steuerbescheides zugunsten der richtigen Besteuerung, sofern nachträglich steuermindernde Tatsachen oder Beweismittel bekanntwerden, unter der Voraussetzung, daß den Steuerpflichtigen am nachträglichen Bekanntwerden kein grobes Verschulden trifft. Die Ausübung des Wahlrechts selbst ist keine nachträglich bekanntgewordene Tatsache, sondern eine Verfahrenshandlung. Der Sachverhalt, für den die Steuervergünstigung begehrt wird und der der Ausübung des Wahlrechts zugrunde liegt, ist eine "Tatsache", die bei Vorliegen der sonstigen Tatbestandsvoraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 für sich gesehen zu einer niedrigeren Steuer führen könnte. Diese Tatsache ist auch rechtserheblich, weil die Ausübung des Wahlrechts nach § 34 Abs. 3 EStG nicht fristgebunden ist.

Daß steuermindernde Tatsachen, deren Berücksichtigung von einem Willensentschluß des Steuerpflichtigen abhängig sind, nicht zu einer Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977 führen sollen, läßt sich dieser Vorschrift nicht entnehmen und würde nach Auffassung des Senats auch ihrem Zweck zuwiderlaufen. Denn Zweck der Vorschrift ist es, der Bestandskraft nur dann den Vorrang gegenüber der Richtigkeit der Besteuerung einzuräumen, wenn das nachträgliche Bekanntwerden von Tatsachen oder Beweismitteln auf einem groben Verschulden des Steuerpflichtigen beruht. Deshalb sieht der Senat keinen Anlaß, eine Änderung eines Steuerbescheides zugunsten des Steuerpflichtigen zu versagen, wenn zur Berücksichtigung nachträglich bekanntgewordener steuermindernder Tatsachen oder Beweismittel die Ausübung eines nicht fristgebundenen Wahlrechts durch den Steuerpflichtigen erforderlich ist (im Ergebnis ebenso für nachträglich gestellte, nicht fristgebundene Anträge v. Wallis in Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 173 AO 1977 Anm. 9a; Förster in Koch, Abgabenordnung - AO 1977, 2. Aufl., § 173 Tz. 9; Grube in Jahrbuch der Fachanwälte für Steuerrecht 1983/84, 37, 46; Domann, Betriebs-Berater 1979, 516, 517; Marfels, Der Betrieb - DB - 1983, 2109; Federmann, DB 1984, 903). Eine andere Auffassung würde zu einer nicht verständlichen Schlechterstellung dieser Steuerpflichtigen führen. Eine derartige Schlechterstellung wäre nicht gerechtfertigt, weil Steuerpflichtige, die ohne grobes Verschulden steuermindernde Tatsachen oder Beweismittel nicht rechtzeitig geltend gemacht haben, in der Regel auch keine Veranlassung, u. U. sogar nicht einmal die Möglichkeit hatten, ein sich aus diesen Tatsachen oder Beweismitteln ergebendes Wahlrecht auszuüben. Das gilt um so mehr, wenn dem Steuerpflichtigen selbst - wie es der Kläger im Streitfall behauptet - die steuermindernden Tatsachen oder Beweismittel vor Eintritt der Bestandskraft nicht bekannt waren.

Die hier vertretene Auffassung steht, wie der II. Senat auf Anfrage bestätigt hat, nicht in Widerspruch zu den BFH-Urteilen vom 30. September 1981 II R 105/81 (BFHE 134, 192, BStBl II 1982, 80), vom 17. März 1982 II R 39/81 (BFHE 135, 244, BStBl II 1982, 491) und vom 7. Dezember 1983 II R 125/82 (n. v.), in denen eine Änderung von Steuerbescheiden zugunsten des Steuerpflichtigen abgelehnt wurde, weil erforderliche Anträge auf Grunderwerbsteuerbefreiung erst nach Bestandskraft der Steuerbescheide gestellt worden waren. Denn in diesen Fällen mußten die Anträge auf Steuerbefreiung bis zum Eintritt der Unanfechtbarkeit der Steuerbescheide gestellt werden, während es sich im Streitfall um ein nicht fristgebundenes Wahlrecht handelt.

Die Sache geht an das FG zurück, weil es - von seinem Standpunkt aus zu Recht - keine Feststellungen dazu getroffen hat, ob es sich bei der dem Kläger gezahlten Sondervergütung tatsächlich um eine Jubiläumszuwendung handelt und - wenn dies der Fall sein sollte - ob den Kläger am nachträglichen Bekanntwerden der in seinen Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit enthaltenen Jubiläumszuwendung ein grobes Verschulden trifft (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 28. Juni 1983 VIII R 37/81, BFHE 139, 8, BStBl II 1984, 2).