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BFH-Urteil vom 30.1.1985 (I R 12/82) BStBl. 1985 II S. 386

1. Der Beginn der Verjährungsfrist von Einkommensteueransprüchen bestimmt sich für die Zeit vor Inkrafttreten der AO 1977 auch insoweit nach § 145 Abs. 2 Nr. 1 AO, als die Steuer durch den rückwirkenden Wegfall einer Sonderabschreibung gemäß § 82 f Abs. 4 EStDV 1969 ausgelöst ist.

2. Etwas anderes gilt nur, wenn der Einkommensteuerbescheid (Erstbescheid) im Hinblick auf den Lauf der Sperrfrist gemäß § 100 Abs. 1 AO für (teilweise) vorläufig erklärt worden war. In diesem Fall bewirkt § 145 Abs. 2 Nr. 4 AO eine ggf. über § 145 Abs. 2 Nr. 1 AO hinausgehende Anlaufhemmung der Verjährung (Bestätigung von BFH, Beschluß vom 30. Juli 1980 I B 27/80, BFHE 131, 273, BStBl II 1981, 55).

AO §§ 100 Abs. 1, 145 Abs. 1 und Abs. 2 Nrn. 1 und 4; AO 1977 §§ 38 und 175 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2; EStDV § 82f Abs. 4; StAnpG § 3 Abs. 1.

Vorinstanz: FG Hamburg

Sachverhalt

I.

Der klagende Ehemann war im Streitjahr 1969 an einer GmbH & Co. (OHG) beteiligt, die ihrerseits Komplementärin bei der MS & Co. KG (KG) war. Die KG hatte schon im Jahre 1969 ein Handelsschiff bestellt und leistete auf die Anschaffungskosten Anzahlungen. Im Jahre 1972 wurde das bestellte Handelsschiff in Dienst gestellt. Für die im Jahre 1969 geleisteten Anzahlungen nahm die KG Sonderabschreibungen gemäß § 82 f Abs. 4 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung i. d. F. vom 21. April 1970 - EStDV 1969 - (BGBl I 1970, 373, BStBl I 1970, 280) in Anspruch. Im Jahre 1974 verkaufte die KG das Handelsschiff.

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) reichten ihre Einkommensteuererklärung 1969 am 2. April 1971 beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) ein. Das FA erließ am 20. September 1971 gegenüber den Klägern einen (endgültigen) Einkommensteuerbescheid 1969. In diesem war der Gewinnanteil des klagenden Ehemannes an der OHG berücksichtigt, der unter Einbeziehung von Sonderabschreibungen gemäß § 82 f Abs. 4 EStDV 1969 für das o.g. Handelsschiff ermittelt worden war.

Im Jahre 1977 begann das FA gegenüber den Klägern mit einer Betriebsprüfung. Im Anschluß an die Betriebsprüfung änderte das FA den die OHG betreffenden Feststellungsbescheid 1969 und erhöhte das Betriebsergebnis um die (nachträglich gesehen) von der KG zu Unrecht (vgl. § 82 f Abs. 3 EStDV 1969) in Anspruch genommenen Sonderabschreibungen. Außerdem änderte das FA gegenüber den Klägern den Einkommensteuerbescheid 1969 als Folgebescheid am 8. Mai 1979 gemäß § 175 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977).

Einspruch und Klage, mit denen die Kläger die Aufhebung des geänderten Einkommensteuerbescheides 1969 wegen Verjährung begehrten, blieben ohne Erfolg. Das Urteil des Finanzgerichts (FG) ist in den Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1982, 224 veröffentlicht.

Mit der Revision rügen die Kläger die Verletzung des § 145 Abs. 1 der Reichsabgabenordnung (AO).

Die Kläger beantragen, den Einkommensteuerbescheid 1969 vom 8. Mai 1979, die Einspruchsentscheidung vom 16. Oktober 1979 und das Urteil des FG Hamburg vom 29. Oktober 1981 ersatzlos aufzuheben und die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig zu erklären.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Es hält die Auffassung des FG für rechtsfehlerfrei.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung, des angefochtenen Einkommensteuerbescheides und der Einspruchsentscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Die durch den angefochtenen Einkommensteuerbescheid festgesetzte Einkommensteuer 1969 war am 8. Mai 1979 verjährt.

1. Gemäß § 145 Abs. 2 Nr. 1 AO beginnt die Verjährung bei den Steuern vom Einkommen, soweit sie nicht im Abzugswege erhoben werden, mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuererklärung für den jeweiligen Veranlagungszeitraum abgegeben wird, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalenderjahres, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist. Nach den Feststellungen des FG, an die der Senat gemäß § 118 Abs. 2 FGO gebunden ist, gaben die Kläger ihre Einkommensteuererklärung 1969 am 2. April 1971 ab. Deshalb begann die Verjährungsfrist für die Einkommensteuer 1969 am 31. Dezember 1971 zu laufen. Gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 AO betrug sie fünf Jahre. Wegen der Berechnung des Fristablaufs verweist § 82 AO auf § 188 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Danach endete die Frist des § 144 Abs. 1 Satz 1 AO - rechnerisch gesehen - mit Ablauf des 31. Dezember 1976. Für die Zeit zwischen dem 31. Dezember 1971 und dem 31. Dezember 1976 hat das FG in tatsächlicher Hinsicht keine Feststellungen getroffen, aus denen sich eine Unterbrechung der Verjährung i. S. des § 147 AO oder aber eine vor dem 31. Dezember 1976 eingetretene und an diesem Tag noch fortbestehende Ablaufhemmung der Verjährung (§ 146a AO) ergeben würde. Deshalb ist der mit Bescheid vom 8. Mai 1979 zusätzlich festgesetzte Einkommensteueranspruch 1969 am 31. Dezember 1976 erloschen (§ 148 AO).

2. Der Senat folgt nicht der Auffassung des FG, daß sich im Streitfall der Verjährungsbeginn nach § 145 Abs. 1 AO richte. Die Anwendung des § 145 Abs. 1 AO ergibt sich insbesondere nicht aus § 145 Abs. 2 Nr. 1 Halbsatz 2 AO. Zwar ist nach dieser Vorschrift § 145 Abs. 2 Nr. 1 AO nicht anzuwenden, wenn die Abgabe einer Steuererklärung gesetzlich nicht vorgeschrieben ist. Der Halbsatz 2 ist aber im Zusammenhang mit dem Halbsatz 1 zu sehen. In § 145 Abs. 2 Nr. 1 Halbsatz 1 AO ist von der Steuererklärung für den jeweiligen Veranlagungszeitraum die Rede. Deshalb ist auch die Regelung des § 145 Abs. 2 Nr. 1 Halbsatz 2 AO nur dann einschlägig, wenn die Abgabe einer Steuererklärung für den jeweiligen Veranlagungszeitraum gesetzlich nicht vorgeschrieben ist. Dagegen kommt es nicht darauf an, ob das Gesetz die Abgabe einer neuen oder berichtigten Steuererklärung auch für die durch den nachträglichen Wegfall einer Sonderabschreibung entstehende Steuer vorschreibt. Entsprechend scheidet die Anwendung des § 145 Abs. 2 Nr. 1 Halbsatz 2 AO schon deshalb aus, weil die Kläger gemäß § 56 Abs. 1 EStDV 1969 zur Abgabe einer Einkommensteuererklärung 1969 verpflichtet waren. Aus dem gleichen Grund erübrigt sich das Eingehen auf die Frage, ob die Anzeigepflicht gemäß § 165e AO als gesetzliche Verpflichtung zur Abgabe einer Steuererklärung verstanden werden kann.

Die Richtigkeit der vom Senat vertretenen Auffassung ergibt sich mittelbar aus § 145 Abs. 2 Nr. 4 AO. Diese Regelung wäre - jedenfalls in dem getroffenen Umfang - überflüssig, wenn z. B. bei bedingten Verhältnissen der Beginn der Verjährungsfrist ggf. .von dem Eintritt der Bedingung abhängig wäre. Die weitgefaßte Regelung des § 145 Abs. 2 Nr. 4 AO belegt, daß gerade bei bedingten Steueransprüchen sich der Verjährungsbeginn grundsätzlich nach § 145 Abs. 2 Nr. 1 AO bestimmt, wenn eine gesetzliche Verpflichtung zur Abgabe einer Steuererklärung für den einzelnen Veranlagungszeitraum besteht und das FA die Steuerfestsetzung weder aussetzt noch die Steuer vorläufig gemäß § 100 Abs. 1 AO festsetzt. Liegen die zuletzt genannten Voraussetzungen vor, so bewirkt § 145 Abs. 2 Nr. 4 AO lediglich eine über § 145 Abs. 2 Nr. 1 AO hinausgehende Anlaufhemmung.

3. Der Senat folgt auch nicht der Auffassung des FG, daß die Verjährung eines Steueranspruchs logischerweise nicht vor dessen "Entstehung" beginnen könne, weshalb § 145 Abs. 2 Nr. 1 AO die "Entstehung des Steueranspruchs" voraussetze. Die Auffassung des FG beruht auf einer unzutreffenden Auslegung des § 3 Abs. 1 des Steueranpassungsgesetzes - StAnpG - (§ 38 AO 1977). Nach § 3 Abs. 1 StAnpG (§ 38 AO 1977) entstehen die Ansprüche aus einem Steuerschuldverhältnis, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Zwar ist unter dem Tatbestand i. S. des § 3 Abs. 1 StAnpG die Gesamtheit der in den materiellen Steuerrechtsnormen enthaltenen abstrakten Voraussetzungen zu verstehen, bei deren konkretem Vorliegen (Tatbestandsverwirklichung) bestimmte Rechtsfolgen eintreten (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl., § 38 Tz. 2). Der Tatbestand ist aber auch das abstrakte Spiegelbild des konkreten Lebenssachverhaltes, dessen Verwirklichung Besteuerungsobjekt ist. Das Einkommensteuergesetz (EStG) 1969 unterwirft im Streitfall als konkreten Lebenssachverhalt nur die von dem Kläger in 1969 mitunternehmerisch ausgeübte gewerbliche Tätigkeit der Einkommensteuer. Diese Tätigkeit erschöpfte sich, soweit sie das hier interessierende Handelsschiff betrifft, in dessen Bestellung sowie in Anzahlungen auf den Kaufpreis. Der erst in 1974 verwirklichte Verkauf des Handelsschiffes gehörte dagegen nicht zu dem Lebenssachverhalt, der als Besteuerungsgegenstand der Einkommensteuer 1969 unterworfen ist. Er wirkt sich nur auf die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer 1969 der Höhe nach insoweit aus, als die KG Sonderabschreibungen gemäß § 82 f EStDV 1969 geltend machte, deren Inanspruchnahme im Sinne einer auflösenden Bedingung von einem in der Zukunft eintretenden Ereignis abhängig war. So wie die Höhe der Steuer von der Ausübung von Bilanzierungs- oder Bewertungswahlrechten abhängig sein kann, so gibt es auch andere Arten von Ungewißheiten (Bedingungen, Befristungen, antragsabhängige Steuervergünstigungen), die sich nicht auf die Verwirklichung des Lebenssachverhaltes, sondern nur auf die Höhe der Steuer auswirken. Derartige Ungewißheiten können auch noch nach Ablauf des Veranlagungszeitraums durch Wahlrechtsausübung, Bedingungseintritt, Fristablauf oder Antragstellung beseitigt werden. Die Beseitigung wirkt - jedenfalls was die Nichtanwendung des § 82 f Abs. 4 EStDV 1969 anbelangt - auf den ursprünglichen Bilanzansatz zurück (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 26. Januar 1978 IV R 97/76, BFHE 124, 516, BStBl II 1978, 368). Dieser wird rückwirkend falsch. Damit steht gleichzeitig fest, daß ursprünglich eine zu niedrige Steuer festgesetzt wurde. Soweit eine Änderung der ursprünglichen Steuerfestsetzung möglich ist, beruht die höhere Steuer nicht auf einer Änderung des Besteuerungsgegenstandes, sondern lediglich auf einer solchen der Bemessungsgrundlage. Deshalb bedeutet die Auffassung des Senats auch keine Fiktion im Sinne der Gleichsetzung von Ungleichem, wie das FG fälschlicherweise meint, sondern sie ist Folge der Unterscheidung zwischen Besteuerungsgegenstand und Bemessungsgrundlage; sie ergibt sich letztlich aus der Tatsache, daß der Gesetzgeber die steuerliche Bewertung der Anzahlungen auf ein zu erwerbendes Handelsschiff von erst künftig eintretenden Ereignissen abhängig gemacht hat. Derartige Änderungen in der Bewertung und damit in der Bemessungsgrundlage lassen den Lebenssachverhalt unberührt, an dessen Verwirklichung § 145 Abs. 1 AO die Entstehung der Steuer knüpft.

Zu Unrecht verweist das FA in diesem Zusammenhang auf das BFH-Urteil vom 5. März 1968 II 165/64 (BFHE 92, 43, BStBl II 1968, 416). Das Urteil ist schon deshalb nicht einschlägig, weil es die Auslegung des § 17 Abs. 2 Nr. 1 des Grunderwerbsteuergesetzes (GrEStG) betrifft, die der II. Senat des BFH nicht zuletzt auf den Gesetzeszusammenhang gestützt hat, in dem § 17 GrEStG zu sehen ist. Die speziell für diese Bestimmung geltenden Überlegungen können nicht auf die Auslegung des § 145 AO übertragen werden.

4. Der Senat folgt auch den übrigen Überlegungen des FG zur "rückwirkenden" Entstehung der Einkommensteuer 1969 nicht. Der in 1974 verwirklichte Verkauf des Handelsschiffes bedeutet zunächst nur, daß die der Einkommensteuer 1969 zugrunde gelegte Bewertung der Anzahlungen objektiv falsch war. Da die Unrichtigkeit durch ein nachträglich eingetretenes Ereignis ausgelöst wurde, war nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 AO 1977 zu prüfen, ob der maßgebliche Feststellungsbescheid 1969 noch geändert werden konnte. Soweit Verjährung eingetreten war, war die Bewertung der Anzahlungen bzw. der Anschaffungskosten des Handelsschiffes in der nächsten noch berichtigungsfähigen Bilanz entsprechend den Grundsätzen des Bilanzzusammenhangs zu berichtigen (vgl. BFH-Urteil vom 13. Januar 1977 IV R 9/73, BFHE 121, 355, BStBl II 1977, 472, m. w. N.).

Was die Verjährung bedingter Steueransprüche anbelangt, so enthalten die §§ 145 Abs. 2 Nr. 4 und 171 Abs. 8 AO 1977 Sondervorschriften, die gerade in Fällen der hier interessierenden Art eine An- bzw. Ablaufhemmung der Verjährung vorsehen. Auch die Regelung des § 175 Abs. 2 AO 1977 wäre unverständlich, würde die Auffassung des FG zutreffen. Soweit das FG Zweifel an der Anwendbarkeit des § 100 Abs. 1 AO unter Hinweis auf Tipke/Kruse (Reichsabgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 4 StAnpG, Anm. 1) äußert, ist darauf hinzuweisen, daß die von Tipke/Kruse zitierte Entscheidung RFHE 7, 136 deren Auffassung nicht trägt. Es kommt hinzu, daß § 145 AO durch das Gesetz zur Änderung der Reichsabgabenordnung und anderer Gesetze (AOÄG) vom 15. September 1965 (BGBl I 1965, 1356) fast gänzlich neu gefaßt wurde, was bei der Auslegung auch des § 100 Abs. 1 AO zu beachten ist. Im übrigen wird auf die BFH-Urteile vom 18. Dezember 1979 VII R 75-76/77 (BFHE 129, 530) und vom 1. Oktober 1980 II R 37/78 (BFHE 131, 527, BStBl II 1981, 105) hingewiesen.

5. Der Senat sieht keine Notwendigkeit, in diesem Verfahren über die Verfassungsmäßigkeit der rückwirkenden Änderung des § 82f EStDV 1969 zum Nachteil der Kläger zu befinden, weil insoweit gemäß § 182 AO 1977 Bindungswirkung an den gegenüber der OHG erlassenen Feststellungsbescheid 1969 besteht.

6. Verjährte die Einkommensteuer 1969 am 31. Dezember 1976, so war der Steuerfestsetzung vom 8. Mai 1979 die Rechtsgrundlage entzogen. Ein Steuerbescheid durfte nicht ergehen. Soweit er dennoch ergangen ist, ist er gemäß § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO aufzuheben.