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BFH-Urteil vom 17.5.1985 (III R 213/82) BStBl. 1985 II S. 521

Wird vor Abschluß des Einspruchsverfahrens Klage gegen einen Steuerbescheid erhoben, so wird die Klage mit der Entscheidung über den Einspruch zulässig.

FGO § 44 Abs. 1.

Vorinstanz: FG Düsseldorf

Sachverhalt

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) betreibt als Einzelunternehmerin einen Großhandel.

Nach einer Betriebsprüfung erließ der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) Einkommensteuer- und Umsatzsteueränderungsbescheide für die Jahre 1969 bis 1972 sowie erstmalige Einkommensteuer- und Umsatzsteuerbescheide für das Jahr 1973. Dagegen legte die Klägerin mit Schreiben vom 29. Dezember 1976 Einspruch ein. Nach einem Schriftwechsel teilte das FA am 3. Mai 1977 der Klägerin mit, daß ihr Vorbringen im Einspruchsverfahren zu keiner anderen Beurteilung führe und die Einspruchsentscheidung demnächst ergehen werde.

Vor Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung erhob die Klägerin mit Schriftsatz vom 13. Mai 1977 Klage. Sie führte darin u. a. aus, daß das FA ihr mitgeteilt habe, es werde den bisherigen Standpunkt nicht aufgeben. Nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung am 23. Mai 1977 erklärte die Klägerin gegenüber dem Finanzgericht (FG), die nunmehr vorliegende Einspruchsentscheidung werde zum Gegenstand des Klageverfahrens gemacht.

Das FG wies die Klage ab und führte dazu im wesentlichen aus:

Die Klage sei unzulässig, weil sie vor Abschluß des außergerichtlichen Vorverfahrens erhoben worden sei und die Voraussetzungen einer Untätigkeitsklage nach § 46 der Finanzgerichtsordnung (FGO) nicht vorgelegen hätten. Über den Einspruch sei erst nach Rechtshängigkeit der Klage entschieden worden. Damit fehle die für eine Klage nach § 44 Abs. 1 FGO erforderliche Zulässigkeitsvoraussetzung eines ganz oder teilweise erfolglosen Vorverfahrens. Die für eine Untätigkeitsklage nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FGO zu beachtende Frist von sechs Monaten sei nicht gewahrt. Besondere Umstände, die eine Klage vor Ablauf der Frist von sechs Monaten hätten rechtfertigen können, seien weder vorgetragen noch ersichtlich. Der Mangel der verfrühten Klageerhebung sei auch nicht durch das nachträgliche Ergehen der Einspruchsentscheidung geheilt worden. Der ganz oder teilweise erfolglose Abschluß eines Vorverfahrens gehöre zu den formalen Mindesterfordernissen einer Klage, die spätestens mit Ablauf der Klagefrist erfüllt sein müßten.

Mit der Revision rügt die Klägerin, ihre Klage sei zu Unrecht als unzulässig abgewiesen worden. Das FG habe nicht ausreichend gewürdigt, daß die Einspruchsentscheidung bereits fünf Tage nach Einreichung der Klage ergangen und von der Klägerin alsbald zum Gegenstand der Klage gemacht worden sei. Hiervon abgesehen sei die Klage auch in die Zulässigkeit hineingewachsen.

Die Klägerin beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil aufzuheben und der Klage stattzugeben.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.

Die Klage gegen Einkommensteuer- und Umsatzsteuerbescheide ist nach § 44 Abs. 1 FGO - abgesehen von den Fällen der §§ 45 und 46 FGO - nur zulässig, wenn das Vorverfahren über den außergerichtlichen Rechtsbehelf ganz oder teilweise abgeschlossen ist. Im Streitfall war die Einspruchsentscheidung im Zeitpunkt der Klageerhebung noch nicht ergangen. Entgegen der Auffassung des FG kann dieser Mangel jedoch dadurch geheilt werden, daß das FA während des gerichtlichen Verfahrens über den Einspruch entscheidet und die Klage vom Kläger aufrechterhalten wird (ebenso Urteil des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 13. Dezember 1956 1 C 36.56, BVerwGE 4, 203; v. Wallis in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 44 FGO Anm. 26; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl., § 44 FGO Anm. 5; Ziemer/Haarmann/Lohse/Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen, Tz. 5950; Gräber, Finanzgerichtsordnung, § 44 Anm. 3; Ziemer/Birkholz, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 44 Anm. 29).

Die Notwendigkeit des Abschlusses eines Vorverfahrens nach § 44 FGO ist eine Sachurteilsvoraussetzung (Sachentscheidungsvoraussetzung). Diese ist ein Erfordernis, das vorliegen muß, damit ein Sachurteil ergehen kann (Tipke/Kruse, a. a. O., 11. Aufl., vor § 40 FGO Anm. 1); die Zulässigkeit der Klage ist auch dann gegeben, wenn die Sachurteilsvoraussetzung erst während des gerichtlichen Verfahrens verwirklicht wird. Im Gegensatz dazu müssen Zugangsvoraussetzungen schon im Zeitpunkt der Klageerhebung erfüllt sein; eine Heilung durch Eintritt der Voraussetzungen während des gerichtlichen Verfahrens ist nicht möglich. Der BFH hat im Falle des Antrags auf Aussetzung der Vollziehung nach Art. 3 § 7 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 1 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit (VGFG-EntlG) eine Zugangsvoraussetzung darin gesehen, daß das FA vor Anrufung des FG den Antrag ganz oder teilweise ablehnt oder daß es zu erkennen gibt, daß es die Vollziehung nicht aussetzen werde (Beschluß vom 11. Oktober 1979 IV B 61/79, BFHE 129, 8, BStBl II 1980, 49). Dagegen steht die Rechtsprechung des BFH im Falle des § 46 Abs. 1 FGO auf dem Standpunkt, daß eine vor Ablauf der Sechsmonatsfrist erhobene und damit unzulässige Klage mit Ablauf dieser Frist in die Zulässigkeit hineinwächst (Urteile in BFHE 129, 8, BStBl II 1980, 49, und vom 13. Oktober 1977 V R 57/74, BFHE 124, 2, BStBl II 1978, 154), weil der Zweck des § 46 Abs. 1 FGO, der darin bestehe, der Finanzbehörde mindestens eine Zeitspanne von sechs Monaten für ihre Entscheidung zu gewähren, auch dann erfüllt sei, wenn der Ablauf der Frist während des gerichtlichen Verfahrens eintrete. Nicht anders ist die Rechtslage im Falle des § 44 Abs. 1 FGO zu beurteilen.

Diese Vorschrift dient nicht nur dem Zweck, dem Staatsbürger Rechtsschutz zu gewähren; sie soll auch der Finanzverwaltung Gelegenheit geben, die Sach- und Rechtslage nochmals zu überprüfen, um auf diese Weise zu vermeiden, daß die FG mit unnötigen oder nicht hinreichend vorbereiteten Sachen belastet werden (BFH-Urteil vom 8. Februar 1974 III R 140/70, BFHE 112, 6, BStBl II 1974, 41; BT-Drucks. 3/127 S. 39, IV/1446 S. 47). Dazu ist erforderlich, daß das Vorverfahren durch die Einspruchsentscheidung seinen Abschluß gefunden hat. Die Erreichung des mit § 44 Abs. 1 FGO verfolgten Zwecks setzt jedoch nicht voraus, daß das Vorverfahren schon im Zeitpunkt der Klageerhebung abgeschlossen war; vielmehr genügt es, daß die Einspruchsentscheidung noch während des gerichtlichen Verfahrens ergangen ist. Es wäre eine unnötige Förmelei, wenn in der Zulässigkeitsvoraussetzung des § 44 Abs. 1 FGO eine Zugangsvoraussetzung gesehen würde mit der Folge, daß trotz Ergehens der Einspruchsentscheidung während des gerichtlichen Verfahrens die Klage abgewiesen werden müßte und der Kläger gezwungen wäre, erneut Klage zu erheben.

Demgegenüber kann auch nicht mit Erfolg eingewandt werden, daß bei einer solchen Auslegung des § 44 Abs. 1 FGO der mit dieser Vorschrift verfolgte Zweck der Entlastung der FG nicht erreicht werden könne. Denn durch die nachträglich ergangene Einspruchsentscheidung wird diesem Gesichtspunkt hinreichend Rechnung getragen (so auch BVerwG-Urteil in BVerwGE 4, 203). Auch der Umstand, daß sich das FG möglicherweise schon vor Abschluß des Vorverfahrens mit der Sache befaßt, kann zu keiner anderen rechtlichen Beurteilung führen.

Das FG ist bei seiner Entscheidung von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen. Sie konnte daher keinen Bestand haben. Die Zurückverweisung war geboten, damit das FG nunmehr zur Sache entscheiden kann.