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BFH-Urteil vom 18.7.1985 (VI R 53/82) BStBl. 1986 II S. 14

Infolge der Legaldefinition des § 15 Abs. 1 Nr. 8 AO 1977 kommt es jedenfalls ab 1977 auch einkommensteuerrechtlich für die Annahme eines Pflegekindschaftsverhältnisses nicht darauf an, ob und inwieweit die Pflegeeltern für den Unterhalt des Kindes aufkommen. Maßgebend ist vielmehr, daß die genannten Personen durch ein auf längere Dauer angelegtes Pflegeverhältnis mit häuslicher Gemeinschaft wie Eltern und Kind miteinander verbunden sind (Änderung der Rechtsprechung als Folge einer Gesetzesänderung).

EStG 1977 § 32 Abs. 4 Nr. 3; AO 1977 § 15 Abs. 1 Nr. 8.

Vorinstanz: FG Berlin

Sachverhalt

Die Prozeßbeteiligten streiten darüber, ob bei den Klägern die von ihnen aufgenommenen Kinder N und H einkommensteuerrechtlich als Pflegekinder anzuerkennen sind.

Die Kläger hatten im Jahre 1977 zu ihrem dauernd pflegebedürftigen leiblichen Kind die am 12. August 1975 geborene N in ihren Haushalt aufgenommen. Das Kind wurde mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspaltung geboren, die auch nach mehreren Operationen eine sprachliche Behinderung darstellt und eine logopädische und kieferorthopädische Behandlung notwendig gemacht hatte. Außerdem hat das Kind einen Herzfehler. Eine Nierenmißbildung muß bis zu einer erst später möglichen Operation medikamentös behandelt und ständig überwacht werden. Das Kind ist ohne Behandlung schwerhörig. Die leiblichen Eltern haben N nach der Geburt in eine Klinik gegeben und danach nicht mehr zu sich geholt. N ist im ersten Lebensjahr in Kliniken aufgewachsen. Anschließend ist N in ein Heim für körperbehinderte Kinder eingewiesen worden. Danach haben es die Kläger in ihren Haushalt aufgenommen.

Am 2. Januar 1978 nahmen die Kläger das am 22. März 1974 geborene Kind H zu sich auf, weil die leiblichen Eltern nicht in der Lage waren, die aufgrund einer schweren Stoffwechselerkrankung für H erforderliche Diät einzuhalten. H ist mehrmals in lebensbedrohlichem Zustand in die Klinik gebracht worden. Die behandelnden Ärzte hatten deshalb ein Verfahren zur Entziehung des Sorgerechts für die leiblichen Eltern eingeleitet. Die Kläger hatten sich entschlossen, H in ihren Haushalt aufzunehmen, weil kein Heim am Ort in der Lage gewesen war, H diätisch korrekt zu ernähren. Das Kind ist in seiner Erwerbsfähigkeit zu 90 % gemindert und - unstreitig - ständig pflegebedürftig.

Der Senator für Jugend und Sport hat anerkannt, daß beide Kinder im Rahmen einer heilpädagogischen Pflegestelle von den Klägern betreut werden. Die Kläger erhalten je Kind monatlich ein steuerfreies Pflegegeld und zusätzlich monatlich ein Erziehungsgeld. Das Erziehungsgeld wird als Entgelt für eine Leistung nach § 18 Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes 1977 (EStG) versteuert.

In ihrer gemeinsamen Einkommensteuererklärung für das Kalenderjahr 1978 - Streitjahr -, mit der sie die Zusammenveranlagung beantragt hatten, begehrten die Kläger darüber hinaus die Berücksichtigung der Kinder N und H als Pflegekinder i. S. des § 32 Abs. 4 Nr. 3 EStG. Sie machten für die zu 70 % in ihrer Erwerbsfähigkeit geminderte N einen Pauschbetrag für Körperbehinderte nach § 33b Abs. 3 EStG von 1.740 DM und für H einen Pauschbetrag für Körperbehinderte nach § 33b Abs. 3 Satz 2 EStG von 7.200 DM als außergewöhnliche Belastung geltend. Das Finanzamt - FA - hatte dies in dem Einkommensteuerbescheid 1978 und in seiner Einspruchsentscheidung abgelehnt, weil die Kläger weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht hätten, daß sie in dem notwendigen Umfang überwiegend die Kosten des Unterhalts der Kinder getragen hätten. Das Jugendamt habe nicht nur die Pflegekosten in voller Höhe übernommen, sondern auch ein steuerpflichtiges Erziehungsgeld für jedes Kind gezahlt. Eine Pflegekindschaft setze jedoch Uneigennützigkeit der Pflegeeltern voraus.

Mit ihrer dagegen erhobenen Klage hatten die Kläger vor dem Finanzgericht (FG) Erfolg. Das FG führte in seinem in den Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1982, 519 veröffentlichten Urteil aus, daß die Kinder N und H den Klägern als Pflegekinder i. S. von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zuzuordnen seien. Dadurch seien die Kläger in der Lage, ihre abziehbaren Vorsorgeaufwendungen nach § 10 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. § 10 Abs. 3 Nrn. 1 und 2 EStG erhöht als Sonderausgaben und die auf sie zu übertragenden Pauschbeträge wegen der Körperbehinderung dieser Kinder als außergewöhnliche Belastungen nach § 33b Abs. 5 i. V. m. § 33 b Abs. 3 EStG abzusetzen.

Die Kinder N und H - so fährt das FG fort - seien Pflegekinder i. S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG. Sie erfüllten darüber hinaus die in § 15 Abs. 1 Nr. 8 der Abgabenordnung (AO 1977) für Pflegekinder aufgestellten Voraussetzungen. Denn die Kläger seien mit den Kindern durch ein auf längere Dauer angelegtes Pflegeverhältnis mit häuslicher Gemeinschaft wie Eltern und Kinder miteinander verbunden. ...

Hiergegen richtet sich die Revision des FA. Es rügt den Ansatz eines erhöhten Sonderausgabenbetrages und die Anerkennung der Pauschbeträge nach § 33 b Abs. 5 i. V. m. § 33 b Abs. 3 EStG. Im einzelnen macht das FA geltend, daß das FG den Pflegekindschaftsbegriff des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG bzw. des § 15 Abs. 1 Nr. 8 AO 1977 verkannt habe. Das FG habe zu Unrecht die Frage, wer den Unterhalt der Pflegekinder trage, bei der Feststellung eines Pflegekindschaftsverhältnisses für unerheblich gehalten. Es verkenne, daß nur bei sog. Kostkindern die Verpflegung und Erziehung vertraglich gegen Entgelt übernommen würden. Ein Pflegekindschaftsverhältnis i. S. des § 15 Abs. 1 Nr. 8 AO 1977 liege dagegen vor, wenn die sittliche und wirtschaftliche Last für das Wohl des Kindes bei den Pflegeeltern liege. Gerade das sei aber hier nicht der Fall, wie sich aus den von der öffentlichen Hand gezahlten Zuschüssen ergebe.

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA ist unbegründet.

Die Kinder N und H sind Pflegekinder der Kläger i. S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG. Sie erfüllen darüber hinaus die in § 15 Abs. 1 Nr. 8 AO 1977 für Pflegekinder aufgestellten Voraussetzungen. Denn die Kläger haben die Kinder N und H in ihre eigene Obhut aufgenommen und nicht anders als ihr leibliches Kind aufgezogen (vgl. dazu Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 28. Juni 1984 IV R 49/83, BFHE 141, 154, BStBl II 1984, 571). Damit sind die Kläger berechtigt, ihre abziehbaren Vorsorgeaufwendungen nach § 10 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. § 10 Abs. 3 Nrn. 1 und 2 EStG unter Berücksichtigung der genannten Pflegekinder als Sonderausgaben geltend zu machen. Ebenso sind sie berechtigt, die auf sie zu übertragenden Pauschbeträge wegen der Körperbehinderung dieser Kinder als außergewöhnliche Belastungen nach § 33 b Abs. 5 i. V. m. § 33 b Abs. 3 EStG abzusetzen, wie ihnen das vom FG zugebilligt worden ist.

Das FA sieht zu Unrecht die Pflegekindeigenschaft der Kinder N und H im Verhältnis zu den Klägern in Frage gestellt. Die seitens des Senats der Stadt Berlin (West) gezahlten Pflege- und Erziehungsgelder für diese Kinder vermögen jedenfalls im Streitfalle nicht deren Pflegekindeigenschaft zu beeinträchtigen. Der Begriff des Pflegekindes ist im Einkommensteuerrecht nicht definiert (vgl. Schmidt/Seeger, Einkommensteuergesetz, 4. Aufl., § 32 Anm. 5 c). Das Pflegekindschaftsverhältnis muß aber den in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 EStG genannten Kindschaftsverhältnissen (betreffend leibliche Kinder) ähnlich sein. Voraussetzung ist daher ein tatsächlich bestehendes, auf Dauer angelegtes Eltern-Kind-Verhältnis zwischen Pflegekind und seinen Pflegeeltern (vgl. Schmidt/Seeger, a. a. O.), wie das hier die Vorinstanz mit für den BFH als Revisionsgericht bindender Wirkung festgestellt hat (vgl. § 118 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

Zwar hat die Rechtsprechung des BFH mit Rücksicht auf frühere Gesetzesfassungen zu der Gewährung von Kinderfreibeträgen, die Eltern in bezug auf ihre leiblichen Kinder, die das 18., aber noch nicht das 27. Lebensjahr vollendet haben, u. a. nur dann zustanden, wenn diese von ihnen - bis einschließlich 1961 - "im wesentlichen" und ab 1962 "überwiegend" (vgl. § 32 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a, aa EStG a. F.) unterhalten wurden, Entsprechendes auch für die Eltern von Pflegekindern gefordert, auch wenn die Kinder das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten (vgl. Urteil vom 21. Juli 1970 VI R 71/68, BFHE 100, 86, BStBl II 1970, 782). Die nunmehr maßgebende Legaldefinition des Pflegekindschaftsbegriffs in § 15 Abs. 1 Nr. 8 AO 1977 stellt indessen ebensowenig auf die Unterhaltsgewährung ab wie der § 32 Abs. 4 Nr. 3 EStG 1977. Das beruht offensichtlich auf der zutreffenden Erwägung, daß die Unterhaltsgewährung nicht Merkmal des Pflegekindbegriffs ist (vgl. dazu auch den Einführungserlaß zu § 15 AO 1977). Deshalb hat das FG zu Recht außer Betracht gelassen, daß die Kläger je Kind monatlich ein Pflegegeld und ebenfalls monatlich ein Erziehungsgeld vom Senat der Stadt Berlin (West) erhalten haben, sondern seine Entscheidung mit dem auf längere Dauer angelegten Pflegeverhältnis, der Aufnahme in die häusliche Gemeinschaft und der Verbindung gleichsam wie Eltern und Kinder begründet. Hinzu kommt, daß der zuständige Senator für Schulwesen, Jugend und Sport hier bestätigt hat, daß alle Formen des sog. Erziehungsgeldes nicht als leistungsgerechte Bezahlung der Pflegeeltern anzusehen seien. Das FG ist dieser Äußerung gefolgt, auch der BFH tritt ihr bei. Denn angesichts der Tatsache, daß es sich bei den Kindern N und H um physisch und psychisch schwer geschädigte Kinder handelt, erscheint es glaubhaft, daß diese einer besonderen Obhut und Pflege bedürfen, die in einem öffentlichen Heim nur unter Aufwendung größerer Mittel, als sie jedenfalls den Klägern gewährt worden sind, möglich ist. Die Kläger haben somit - wie das FG ferner festgestellt hat - nicht im Interesse der Gewinnung finanzieller Vorteile gehandelt. Im Hinblick hierauf darf ihre eigene Obhutsleistung gegenüber den Kindern nicht außer Betracht bleiben oder unterbewertet werden. Zum Unterhalt eines Kindes gehört nicht nur dessen materielle Versorgung, vielmehr gerade auch das Eingehen auf seine seelischen und körperlichen Gegebenheiten, dem die Kläger - wie hier unstreitig ist - nachgekommen sind.

Die Revision war daher mit der Kostenfolge aus § 135 Abs. 2 FGO - wie geschehen - als unbegründet zurückzuweisen.

Die Tatsache, daß das FA zu Unrecht die Erziehungsgelder der Einkommensteuer unterworfen und nicht nach § 3 Nr. 11 EStG davon freigestellt hat (vgl. Urteil in BFHE 141, 154, BStBl II 1984, 571), vermochte der Senat nicht richtigzustellen, da die Kläger insoweit nicht Anschlußrevision eingelegt haben.