| Home | Index | EStG | Neuzugang | Impressum  
       

 

 

 

 

 

 

BFH-Urteil vom 28.3.1985 (IV R 159/82) BStBl. 1986 II S. 120

1. Nachträglich bekanntwerdende Tatsachen, die zu einer niedrigeren Steuer führen, liegen nach einer voraufgegangenen Gewinnschätzung dann vor, wenn sich aus einer Gesamtwürdigung der Tatsachen eine niedrigere Steuer ergibt.

2. Ein unmittelbarer oder mittelbarer Zusammenhang zwischen Tatsachen, die zu einer höheren, und Tatsachen, die zu einer niedrigeren Steuer führen, liegt dann vor, wenn der steuererhöhende Vorgang nicht ohne den steuermindernden Vorgang denkbar ist.

AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 2.

Vorinstanz: FG Nürnberg

Sachverhalt

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist als angestellter Arzt und nebenher in eigener Praxis tätig. Für das Jahr 1974 gab er, wie schon für 1973, trotz erbetener Fristverlängerung keine Einkommensteuererklärung ab.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) schätzte daraufhin seine Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit, den Gewinn aus selbständiger Tätigkeit und die Einkünfte aus Kapitalvermögen und setzte danach im Jahre 1976 die Einkommensteuer für 1974 fest. Im Einspruchsverfahren reichte der Kläger seine Lohnsteuerkarte nach. Das FA änderte daraufhin den Einkommensteuerbescheid in diesem Punkte, hielt im übrigen aber an seinen Schätzungen fest. In der Folge nahm der Kläger seinen Einspruch zurück.

Im Jahre 1978 gab der Kläger Einkommensteuererklärungen für 1973 und 1974 ab. Daraufhin fand bei ihm eine Steuerfahndungsprüfung statt, die jedoch nicht zu wesentlichen Abweichungen von den Steuererklärungen führte. Das FA hatte für 1973 einen Gewinn von 20.000 DM geschätzt (Betriebseinnahmen 130.000 DM, Betriebsausgaben 110.000 DM); nach der Prüfung betrug der Gewinn 215.000 DM (Betriebseinnahmen 301.000 DM, Betriebsausgaben 86.000 DM). Für das Jahr 1974 betrug der Gewinn It. Schätzung 60.000 DM (Betriebseinnahmen 100.000 DM, Betriebsausgaben 40.000 DM); die Prüfung ergab einen Verlust von 32.594 DM (Betriebseinnahmen 60.000 DM, Betriebsausgaben 92.594 DM). Die Einkünfte aus Kapitalvermögen waren für 1973 auf 1.350 DM und für 1974 auf 1.650 DM geschätzt worden; die Prüfung ergab Einkünfte von 2.709 DM bzw. 985 DM. Zugunsten des Klägers wurden außerdem höhere Sonderausgaben, Freibeträge aus § 33 und § 33 a des Einkommensteuergesetzes (EStG) sowie höhere Kinderfreibeträge ermittelt. Das FA berichtigte daraufhin den Einkommensteuerbescheid 1973 zuungunsten des Klägers; eine Änderung der Einkommensteuerveranlagung 1974 zugunsten des Klägers lehnte es dagegen ab, weil die verspätete Abgabe der Einkommensteuererklärung ein grobes Verschulden beinhalte.

Hiergegen machte der Kläger mit seiner Klage geltend, er habe wegen einer bestehenden Dauerbelastung sowie wegen schwerer Erkrankungen und Erschöpfungszuständen seine steuerlichen Angelegenheiten nicht erledigen können. Er habe 1973 Honorarrechnungen für mehrere Jahre, 1974 dagegen fast keine Rechnungen erteilt; darauf beruhten die Unterschiede in den Betriebseinnahmen. Der zuständige Beamte des FA habe ihm die Berücksichtigung des tatsächlichen Ergebnisses 1974 zugesagt.

Das Finanzgericht (FG) verpflichtete das FA, die Einkommensteuerveranlagung 1974 zu ändern und hierbei die ermittelten geringeren Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit und Kapitalvermögen zugrunde zu legen. Das Gericht hielt zwar die vom Kläger behauptete Zusage für nicht bewiesen und sah in der verspäteten Abgabe der Steuererklärung ein grobes Verschulden des Steuerpflichtigen, da er wissentlich seiner Erklärungspflicht nicht nachgekommen sei. Dieses Verschulden sei nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 der Abgabenordnung (AO 1977) aber unbeachtlich, weil die für 1974 wirksamen steuermindernden Tatsachen im Zusammenhang mit steuererhöhenden Tatsachen des Jahres 1973 ständen. Nach der Steuererklärung hätten sich gegenüber der ursprünglichen Schätzung für 1973 höhere Betriebseinnahmen und geringere Betriebsausgaben, für 1974 aber geringere Betriebseinnahmen und höhere Betriebsausgaben ergeben. Der sachliche Zusammenhang zwischen den Einnahmen und Ausgaben dieser Jahre bestehe aufgrund der Steuererklärungen für denselben Tätigkeitsbereich; das Jahresergebnis hänge wesentlich von der Abgrenzung der Einnahmen und Ausgaben auf die Veranlagungszeiträume ab. Ein solcher Zusammenhang bestehe auch hinsichtlich der höheren Einkünfte aus Kapitalvermögen für 1973 und der niedrigeren Einkünfte im Jahre 1974.

Hiergegen richtet sich die Revision des FA. Die Behörde macht geltend, daß die Einnahmen und Ausgaben des Jahres 1974 nicht in einem sachlichen Zusammenhang mit den Einnahmen und Ausgaben des Jahres 1973 ständen. Die Abgabe der Steuererklärungen und die Durchführung der Außenprüfung stelle einen solchen Zusammenhang nicht her. Das FA hat die Auffassung vertreten, der Steuerbescheid 1974 könne aufgrund von § 174 Abs. 1 AO 1977 hinsichtlich der Betriebseinnahmen zugunsten des Klägers geändert werden; das FA sei von Betriebseinnahmen in Höhe von 100.000 DM ausgegangen, von denen jedoch nur rd. 60.000 DM in diesem Jahr, der Rest erst in den Folgejahren zugeflossen seien.

Das FA beantragt, das angefochtene Urteil teilweise aufzuheben.

Entscheidungsgründe

Auf die Revision ist das angefochtene Urteil in dem vom FA bezeichneten Umfang aufzuheben; der Einkommensteuerbescheid 1974 kann nicht nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AO 1977 zugunsten des Klägers geändert werden.

1. Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 sind Steuerbescheide zu ändern, soweit nachträglich Tatsachen oder Beweismittel bekanntwerden, die zu einer niedrigeren Steuer führen, und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, daß die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekanntwerden. Die Vorschrift ist auch auf die Abänderung von vor dem 1. Januar 1977 ergangenen Steuerbescheiden anwendbar (Art. 97 § 9 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung - EGAO 1977 -). Das FG hat angenommen, daß die nachträglich bekanntgewordenen Einnahmen und Ausgaben des Jahres 1974 jeweils Tatsachen im Sinne von § 173 Abs. 1 AO 1977 darstellen, die eine Berichtigung zugunsten des Klägers rechtfertigen, weil die festgestellten Betriebseinnahmen geringer und die festgestellten Betriebsausgaben höher gewesen seien als bei der Gewinnschätzung angenommen. Dem ist nur im Ergebnis zuzustimmen.

a) Tatsache im Sinne des § 173 AO 1977 ist, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestandes sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften materieller oder immaterieller Art. Keine Tatsachen im Sinne dieser Vorschrift sind Schlußfolgerungen aller Art, insbesondere juristische Subsumtionen (Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 6. September 1962 V 166/59 U, BFHE 75, 623, BStBl III 1962, 494; vom 31. März 1981 VII R 1/79, BFHE 133, 13, BStBl II 1981, 507; vom 13. Oktober 1983 I R 11/79, BFHE 140, 2, BStBl II 1984, 181, und vom 24. Juli 1984 VIII R 304/81, BFHE 141, 485, BStBl II 1984, 785). Zu den Schlußfolgerungen gehört auch eine Schätzung aufgrund von tatsächlichen Schätzungsgrundlagen.

b) Ob eine nachträglich bekanntwerdende Tatsache zu einer höheren oder geringeren Steuer führt, hängt davon ab, von welchen Tatsachen die Besteuerung bisher ausgegangen ist. Legt das FA seiner Veranlagung einen vom Steuerpflichtigen erklärten Gewinn zugrunde, so sind damit die Geschäftsvorfälle erfaßt, die der Steuerpflichtige bei seiner Berechnung berücksichtigt hat. Stellt sich später heraus, daß er einen Geschäftsvorfall nicht berücksichtigt hat, so liegt darin eine nachträglich bekanntgewordene Tatsache, die zu einer Berichtigung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 AO 1977 führt, je nachdem, ob sich die Steuer durch das Hinzutreten dieser Tatsache gegenüber dem bisherigen Zustand erhöht oder ermäßigt (BFH-Urteil vom 6. Oktober 1961 VI 220/60 U, BFHE 74, 106, BStBl III 1962, 41).

c) Besonderheiten ergeben sich, wenn die Steuerfestsetzung auf der Schätzung von Besteuerungsgrundlagen beruhte und wenn insbesondere ein Gewinn geschätzt worden war. Da der Besteuerung hier kein bestimmter Tatsachenstoff zugrunde lag, läßt sich nicht sagen, daß ein neu bekanntgewordener Vorgang zu den bisher berücksichtigten Besteuerungsgrundlagen hinzutrete und das steuerliche Ergebnis in bestimmter Weise verändere. Vielmehr kann erst nach Kenntnis aller den Veranlagungszeitraum berührenden Vorgänge und ihrer steuerlichen Auswirkungen gesagt werden, ob die bisher festgesetzte Steuer zu erhöhen oder zu ermäßigen ist. Diese Besonderheit zeigt sich auch, wenn nach dem Bekanntwerden weiterer Schätzungsgrundlagen die bisherige durch eine neue Schätzung ersetzt werden soll (BFH-Urteile vom 3. Oktober 1951 IV 40/51 U, BFHE 55, 494, BStBl III 1951, 202; vom 22. September 1960 IV 249/59 U, BFHE 71, 716, BStBl III 1960, 516); auch in diesem Fall bedarf es einer Gesamtwürdigung, um festzustellen, ob von der bisherigen Schätzung abgewichen werden soll.

Im Streitfall können daher die nachträglich getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht in solche zerlegt werden, die eine höhere Steuer zur Folge haben, und andere, die zu einer niedrigeren Besteuerung führen; dies gilt auch, soweit die festgestellten Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben von den früher angenommenen abweichen. Ob § 173 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 AO 1977 zur Anwendung kommt, ergibt sich vielmehr erst aus dem gemeinsamen Ergebnis von Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben, das vorliegend zu einem geringeren als dem ursprünglich geschätzten Gewinn und damit zu einer geringeren Steuer führt.

2. Das FG hat ein grobes Verschulden des Klägers darin gesehen, daß er seiner Pflicht zur Abgabe einer Einkommensteuererklärung trotz Verlängerung der Erklärungsfrist seitens des FA nicht nachgekommen ist und auch im Einspruchsverfahren eine solche Erklärung nicht abgegeben hat. Für das Streitjahr 1974 bestand eine Erklärungspflicht nach Maßgabe von § 167 Abs. 3 Satz 1 der Reichsabgabenordnung (AO) i. V. m. § 56 Abs. 3 Satz 1 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung - EStDV - (BFH-Urteil vom 29. April 1980 VII R 4/79, BFHE 131, 425, BStBl II 1981, 110). Als grobes Verschulden hat der Steuerpflichtige Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten. Grobe Fahrlässigkeit ist anzunehmen, wenn er die ihm nach seinen persönlichen Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt (BFH-Urteil vom 3. Februar 1983 IV R 153/80, BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324). Ein grobes Verschulden kann vorliegen, wenn der Steuerpflichtige seine Erklärungspflicht schlecht erfüllt, indem er unzutreffende oder unvollständige Erklärungen abgibt (Urteile in BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324; vom 28. Juni 1983 VIII R 37/81, BFHE 139, 8, BStBl II 1984, 2, und vom 29. Juni 1984 VI R 181/80, BFHE 141, 232, BStBl II 1984, 693). Es kann gleichermaßen auch bestehen, wenn der Steuerpflichtige seiner Erklärungspflicht überhaupt nicht nachkommt.

Ob der Steuerpflichtige unter den gegebenen Umständen grob schuldhaft gehandelt hat, ist im wesentlichen Tatfrage. Die hierzu getroffenen Feststellungen des FG können mangels durchgreifender Verfahrensrügen in der Revisionsinstanz nur darauf überprüft werden, ob der Rechtsbegriff des groben Verschuldens richtig erkannt ist und ob die Würdigung der Verhältnisse hinsichtlich des individuellen Verschuldens den Denkgesetzen und Erfahrungssätzen entspricht (Urteil in BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324). Insoweit bestehen gegen die Entscheidung des FG keine Bedenken. Das FG hat ausgeführt, daß der Kläger seiner Erklärungspflicht wissentlich nicht nachgekommen sei und daß es dafür auch bei Würdigung seiner persönlichen Verhältnisse keine hinreichenden Entschuldigungsgründe gegeben habe.

3. Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AO 1977 ist das grobe Verschulden des Steuerpflichtigen jedoch unschädlich, wenn die ihm günstigen Tatsachen in unmittelbarem oder mittelbarem Zusammenhang mit anderen Tatsachen stehen, die zu einer höheren Steuer führen. Das FG hat einen solchen Zusammenhang der für 1974 wirksamen steuermindernden Tatsachen mit das Vorjahr betreffenden steuererhöhenden Tatsachen bejaht. Es hat dabei in Übereinstimmung mit dem BFH-Urteil vom 2. August 1983 VIII R 190/80 (BFHE 139, 123, BStBl II 1984, 4) stillschweigend angenommen, daß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 nicht lediglich eine Kompensation der Steuererhöhung durch die dem Steuerpflichtigen günstigen Tatsachen herbeiführen will; dann wäre, weil es nicht zu einer für den Kläger nachteiligen Steuererhöhung kommt, für die Anwendung der Vorschrift im Streitfall kein Platz gewesen. Unausgesprochen hat das FG darüber hinaus angenommen, daß auch ein Zusammenhang zwischen in unterschiedlichen Steuerabschnitten wirksamen Tatsachen ausreicht. Auf beide Fragen braucht nicht eingegangen zu werden, weil es an dem vom FG angenommenen Zusammenhang fehlt.

Ein derartiger unmittelbarer oder mittelbarer Zusammenhang ist gegeben, wenn eine zur höheren Besteuerung führende Tatsache die zur Steuerermäßigung führende Tatsache ursächlich bedingt, so daß der steuererhöhende Vorgang nicht ohne den steuermindernden Vorgang denkbar ist. Dieser Sachzusammenhang wird nicht dadurch hergestellt, daß durch dieselbe Steuererklärung, durch mehrere gleichzeitig abgegebene Steuererklärungen oder durch eine Betriebsprüfung gleichzeitig steuererhöhende und steuermindernde Tatsachen offenbar werden. Er könnte jedoch bestehen, wenn der Mindergewinn des Jahres 1974 ursächlich auf den Mehrgewinn des Jahres 1973 zurückgeht. Das FG hat solche Zusammenhänge nicht festgestellt. Der Hinweis, daß das Jahresergebnis durch die zeitliche Abgrenzung von Einnahmen und Ausgaben aus einer kontinuierlichen Tätigkeit des Klägers gewonnen werde, genügt dafür nicht. Der Senat braucht deshalb nicht zu erörtern, wie zu entscheiden ist, wenn ein solcher Zusammenhang nur hinsichtlich einzelner Vorgänge der Jahre 1973 und 1974 bestanden hätte.

Auch für die Einkünfte aus Kapitalvermögen ergibt sich der vom FG angenommene Zusammenhang nicht.

4. Das FA ist der Auffassung, daß in der Steuerfestsetzung 1974 Einnahmen berücksichtigt worden seien, die richtigerweise in Folgejahren hätten berücksichtigt werden müssen, und daß insoweit eine Änderung des Bescheids nach § 174 Abs. 1 AO 1977 geboten sei. Der Senat braucht dieser Frage nicht nachzugehen. Denn das FA will insoweit das Urteil des FG bestehenlassen und hat deshalb nur hinsichtlich des weitergehenden Betrags seine Aufhebung beantragt. An diesen Antrag ist der Senat gebunden (§ 96 Abs. 1 Satz 2 FGO).

Bei der Klage auf Änderung eines Steuerbescheids handelt es sich um eine Verpflichtungsklage (Urteil in BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324), so daß das Gericht den Steuerbetrag nicht selbst festsetzen kann, sondern dem FA die entsprechende Festsetzung aufgeben muß.