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BFH-Urteil vom 27.11.1985 (II R 90/83) BStBl. 1986 II S. 243

Ein Einspruch gegen einen belastenden Steuerbescheid ist auch dann zulässig, wenn er nicht begründet wird und deshalb das konkrete Ziel des Einspruchsführers nicht erkennbar ist (Anschluß an BFH-Urteil vom 8. November 1972 I R 257/71, BFHE 107, 275, BStBl II 1973, 120).

AO i.d.F. ab 1966 § 231; AO 1977 § 350.

Vorinstanz: FG Düsseldorf

Sachverhalt

Der Kläger erwarb durch notariell beurkundeten Vertrag vom 6. April 1967 von dem Kaufmann B dessen Einzelhandelsgeschäft einschließlich eines Grundstücks mit allen Aktiven und Passiven. In § 2 des Vertrages hatten die Vertragspartner erklärt, daß der Vertrag mit dem Tode des Kaufmanns B (23. Januar 1968) wirksam werden solle und außerdem davon abhängig sei, daß der Kläger im Zeitpunkt des Todes des Kaufmanns B noch als Geschäftsführer in dessen Geschäft tätig sei.

Zusätzlich hatte sich der Kläger zur Übernahme sämtlicher Grundstücksverpflichtungen und zur Zahlung von Renten an drei Personen verpflichtet, u. a. an Frau H. Letzterer sollte zusätzlich ein lebenslängliches unentgeltliches Wohnrecht an einer Wohnung eingeräumt werden.

Durch vorläufigen Erbschaftsteuerbescheid vom 2. Januar 1969 setzte das beklagte Finanzamt (FA) gegen den Kläger eine Erbschaftsteuer fest. Dabei setzte es das Betriebsvermögen einschließlich des Betriebsgrundstücks an und zog neben Bestattungskosten und anderen Kosten die Rentenverpflichtungen einschließlich des Wohnrechts mit zusammen 138.600 DM ab. In diesem Betrag war das Wohnrecht mit 15.000 DM enthalten.

Durch Bescheid vom 13. Dezember 1973 erklärte das FA den vorläufigen Bescheid vom 2. Januar 1969 für endgültig. Gegen diesen Bescheid legte der Kläger vorsorglich Einspruch ein, ohne ihn zu begründen.

Das FA verwarf den Einspruch durch Einspruchsentscheidung vom 10. November 1977 als unzulässig, weil der Kläger keine Beschwer geltend gemacht habe.

Mit seiner Klage hat der Kläger geltend gemacht, das FA habe das Wohnrecht von Frau H mit einem zu geringen Betrag abgesetzt. Es sei zutreffend mit 43.200 DM (2.880 DM Jahreswert 15) zu bewerten. Außerdem habe das FA die für die Übertragung des Grundstücks entrichtete Grunderwerbsteuer zu Unrecht nicht als Verbindlichkeit abgezogen.

Der Kläger hat beantragt, die Erbschaftsteuer auf den Betrag herabzusetzen, der sich bei Zugrundelegen eines Jahreswerts für das Wohnrecht in Höhe von 2.880 DM und beim Abzug der Grunderwerbsteuer ergebe.

Das FA hat Klagabweisung beantragt und daran festgehalten, daß der Einspruch mangels Geltendmachung einer Beschwer unzulässig gewesen sei.

Das Finanzgericht (FG) hat der Klage teilweise stattgegeben. Es hat den Abzug des Wohnrechts mit dem höheren Wert zugestanden, den Abzug der Grunderwerbsteuer aber abgelehnt. Es ist davon ausgegangen, daß der Einspruch zulässig sei.

Das FA hat nach Zulassung der Revision durch den erkennenden Senat Revision eingelegt und beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage mit der Begründung abzuweisen, daß der Einspruch unzulässig gewesen sei.

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.

1. Dem FG ist darin zu folgen, daß der Einspruch zulässig war, weil die Voraussetzungen des § 231 der Reichsabgabenordnung in der ab 1. Januar 1966 geltenden Fassung (AO) erfüllt worden sind.

§ 231 AO (vgl. jetzt § 350 der Abgabenordnung - AO 1977 -) regelt die Frage, wer befugt ist, einen außergerichtlichen Rechtsbehelf einzulegen. Er dient (ähnlich wie § 40 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -) der Abwehr von sog. Popularrechtsbehelfen (vgl. hierzu z. B. Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 23 Tz. 87 ff. S. 525; Weides, Verwaltungsverfahren und Widerspruchsverfahren, 2. Aufl., S. 238 f.). Anders als § 40 Abs. 2 FGO verwendet § 231 AO den prozessualen Begriff der Beschwer, der vor allem durch die Rechtsprechung für den Bereich der prozessualen Rechtsmittel entwickelt worden ist (vgl. Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 20. Aufl., allgemeine Einleitung vor § 511 Tz. 46).

Gemäß § 231 AO ist zu prüfen, ob eine Beschwer vorliegt und ob sie geltend gemacht worden ist.

Eine Beschwer liegt immer dann vor, wenn der angefochtene Verwaltungsakt zuungunsten desjenigen ergangen ist, der den außergerichtlichen Rechtsbehelf einlegt. Ob der angefochtene Verwaltungsakt unrichtig ist oder nicht, ist dabei ohne Bedeutung. Mangelnde Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs beeinträchtigen die Beschwer nicht (vgl. Stein/Jonas, a. a. O., Tz. 47); Ohndorf, Die Beschwer und die Geltendmachung der Beschwer als Rechtsmittelvoraussetzungen im deutschen Zivilprozeß, S. 41).

Daß der Kläger durch den angefochtenen Steuerbescheid beschwert ist, steht außer Frage; denn die Endgültigkeitserklärung beinhaltet die endgültige Festsetzung der Erbschaftsteuer gegen den Kläger.

Wann eine Beschwer in ausreichendem Umfang geltend gemacht worden ist, läßt sich nicht für alle Rechtsbehelfe einheitlich beantworten.

Für die Rechtsmittel im gerichtlichen Verfahren wird unter Hinweis auf den Begründungszwang gefordert, daß sich das Ziel des Rechtsmittels, die Bezeichnung einer Beschwer, aus der vorgeschriebenen Rechtsmittelbegründung ergeben müsse (vgl. den Beschluß des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 29. September 1982 IV b ZB 866/81, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht 1982, 1196). Für die Anfechtungsklage hat der Große Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) gefordert, daß das Ziel der Klage durch die vorgeschriebene Bezeichnung des Streitgegenstands hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht werden müsse (Beschluß vom 26. November 1979 GrS 1/78, BFHE 129, 117, BStBl II 1980, 99). Er hat sich dabei vor allem auf § 65 Abs. 1 i. V. m. § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO berufen.

Vergleichbare Vorschriften, aus denen die Pflicht zur Substantiierung des Rechtsbehelfsbegehrens abgeleitet werden könnte, bestehen für das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren nicht. § 238 Abs. 3 AO (jetzt § 357 Abs. 3 AO 1977) regelt nur den Sollinhalt der Rechtsbehelfsschrift, ohne mehr als die bloße Einlegung des außergerichtlichen Rechtsbehelfs zwingend vorzuschreiben. Gemäß § 248 Abs. 2 AO hat die Einlegung des Einspruchs zur Folge, daß die Finanzbehörde die Sache in vollem Umfang erneut zu prüfen hat, ohne hierbei an einen Antrag des Einspruchsführers gebunden zu sein. Anders als im Klageverfahren wird danach das Ausmaß der Prüfung nicht durch das Begehren des Rechtsbehelfsführers beschränkt. Deshalb besteht dann keine Notwendigkeit zur Substantiierung des Rechtsbehelfsbegehrens im außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren, wenn der Adressat eines ihn belastenden Verwaltungsakts einen außergerichtlichen Rechtsbehelf einlegt und dadurch zu erkennen gibt, daß er eine Überprüfung des angefochtenen Verwaltungsakts begehrt.

Der Senat folgt damit im Bereich der Anfechtung belastender Verwaltungsakte durch den Adressaten der sog. Adressatentheorie (vgl. hierzu Achterberg, a. a. O., § 23 Tz. 88; derselbe in Fälle und Lösungen nach höchstrichterlichen Entscheidungen, S. 10; Weides, a. a. O., 2. Aufl., S. 238 ff.). Eine zusätzliche Substantiierung des Rechtsbehelfsbegehrens ist hiernach vor allem nur dann erforderlich, wenn die Beschwer des Rechtsbehelfsführers anhand des angefochtenen Verwaltungsakts nicht ohne weiteres erkennbar ist. Eine andere Frage ist es, inwieweit der Aufklärungspflicht der Rechtsbehelfsbehörde bei Fehlen der Begründung dadurch Grenzen gesetzt sind, daß sie ihrer Ermittlungspflicht in der Regel genügt, wenn sie anhand der Akten den Verwaltungsakt überprüft (vgl. das BFH-Urteil vom 30. April 1965 III 25/65 U, BFHE 82, 603, BStBl III 1965, 464).

Die Auffassung des erkennenden Senats steht im Ergebnis im Einklang mit dem Urteil des I. Senats vom 8. November 1972 I R 257/71 (BFHE 107, 275, BStBl II 1973, 120). Eine zur Vorlage an den Großen Senat verpflichtende Abweichung von den Urteilen des IV. und des VIII. Senats vom 4. April 1974 IV R 7/71 (BFHE 112, 331, BStBl II 1974, 522) und vom 26. November 1974 VIII R 258/72 (BFHE 114, 226, BStBl II 1975, 206) liegt nicht vor. Die dort entschiedenen Fälle sind mit dem vorliegenden Fall nicht vergleichbar. Dort war über die Frage zu entscheiden, ob eine Beschwer auch beim Streit über Bilanzierungsfragen vorliegt, die im Streitjahr gewinneutral sind.

2. Das FG hat zu Recht den angefochtenen Steuerbescheid auf seine Rechtmäßigkeit überprüft. Die Sachurteilsvoraussetzungen des § 44 Abs. 1 FGO lagen vor. Sie sind auch dann erfüllt, wenn das Vorverfahren über den außergerichtlichen Rechtsbehelf mit der Verwerfung des Einspruchs als unzulässig endet (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 44 FGO Tz. 4). Anders wäre die Rechtslage nur dann zu beurteilen, wenn der Kläger seinen Klagantrag auf die Aufhebung der Einspruchsentscheidung beschränkt hätte (vgl. hierzu die BFH-Urteile vom 18. Oktober 1972 II R 110/69, BFHE 107, 409, BStBl II 1973, 187, und vom 7. Juli 1976 I R 66/75, BFHE 119, 368, BStBl II 1976, 680). Dies aber ist nicht der Fall. Denn der Klagantrag geht auf die Änderung des angefochtenen Steuerbescheids.

3. Das angefochtene Urteil unterliegt aber deshalb der Aufhebung, weil das FG bei der Bewertung des Wohnrechts § 16 des Bewertungsgesetzes unbeachtet gelassen hat.