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BFH-Beschluß vom 18.2.1986 (VII S 39/85) BStBl. 1986 II S. 357

1. Einen gerichtsinternen Streit darüber, welcher Senat des FG nach dem Geschäftsverteilungsplan zuständig ist (negativer Kompetenzkonflikt), entscheidet das Präsidium des FG.

2. Der BFH ist nicht befugt, auf Antrag eines der beteiligten Senate des FG, der die Entscheidung des Präsidiums (1.) nicht als bindend ansieht, den zuständigen Spruchkörper zu bestimmen.

GG Art. 30, Art. 101 Abs. 1 Satz 2; FGO § 4, § 39 Abs. 1 Nrn. 1 und 4; GVG § 16 Satz 2, § 21e Abs. 1 Satz 1 und 2; ZPO § 36 Nr. 6.

Sachverhalt

I.

Das Präsidium des Finanzgerichts (FG) wies dem anrufenden Senat des FG eine Klagesache wegen Lohnsteuerhaftung zu, nachdem sich ein anderer Senat für unzuständig erklärt hatte. Der anrufende Senat hält sich gleichfalls für unzuständig. Er ist der Ansicht, daß der Beschluß des Präsidiums vom 27. November 1984 wegen Verstoßes gegen den Geschäftsverteilungsplan nicht wirksam sei. Da eine erneute Entscheidung des Präsidiums nicht in Betracht komme, könne der entstandene negative Kompetenzkonflikt nur dadurch gelöst werden, daß der Bundesfinanzhof (BFH) in entsprechender Anwendung von § 155 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i. V. m. § 36 Nr. 6 der Zivilprozeßordnung (ZPO) den für den Streitfall zuständigen Spruchkörper des FG bestimme.

Der anrufende Senat legte mit Beschluß vom 19. November 1985 dem BFH den Zuständigkeitsstreit zur Entscheidung vor.

Entscheidungsgründe

II.

Dem Ersuchen kann nicht entsprochen werden. Der BFH ist nicht befugt, den zur Entscheidung berufenen Spruchkörper des FG zu bestimmen.

1. Es sind weder die Voraussetzungen von § 39 FGO, einer im Ersten Teil, Abschnitt V Unterabschnitt 3 - Örtliche Zuständigkeit - des Gesetzes enthaltenen Vorschrift, noch die des § 36 ZPO (i. V. m. § 155 FGO) erfüllt.

a) Insbesondere ist ein Fall von § 39 Abs. 1 Nr. 1 FGO nicht gegeben. Denn das FG als gesetzlich vorgesehenes Gericht ist nicht in einem einzelnen Falle an der Ausübung der Gerichtsbarkeit rechtlich oder tatsächlich gehindert. Dem ersuchenden Senat geht es nur um die Entscheidung der Frage, welcher Spruchkörper des FG zur Entscheidung des Rechtsstreits ... berufen ist. Eine analoge Anwendung von § 39 Abs. 1 Nr. 1 FGO auf einen solchen Fall ist, wie auch der ersuchende Senat erkannt hat, nicht möglich. Diese Vorschrift enthält eine auf Ausnahmen abgestellte Regelung zur Ausfüllung von Zuständigkeitslücken, die keine Grundlage für die Wahrnehmung von Aufgaben der allgemeinen Gerichtsorganisation durch den BFH bietet (vgl. BFH-Beschluß vom 18. Juli 1968 I S 7/68, BFHE 93, 214f., BStBl II 1968, 744f., für die Fälle mangelhafter Konstituierung eines FG; ebenso Beschluß des erkennenden Senats vom 16. Januar 1969 VII S 1/69, n. v.). Auch § 39 Abs. 1 Nr. 4 FGO - negativer Kompetenzkonflikt zwischen mehreren FG, von denen eines zuständig ist - ist bei Meinungsverschiedenheiten darüber, welcher Spruchkörper des zuständigen FG zur Entscheidung berufen ist, nicht - jedenfalls nicht unmittelbar - anwendbar.

b) § 39 FGO regelt abschließend die Fälle, in denen das zuständige FG durch den BFH bestimmt wird, und verbietet damit eine entsprechende Anwendung von § 36 ZPO im finanzgerichtlichen Verfahren (v. Wallis in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 39 FGO Anm. 1; Gräber, FGO, 1977, § 155 Anm. 5 C). Es erscheint indessen nicht ausgeschlossen, § 39 Abs. 1 Nr. 4 FGO in gleicher Weise wie den praktisch wortgleichen § 36 Nr. 6 ZPO auszulegen (ähnlich - zu § 53 der Verwaltungsgerichtsordnung - auch Bundesverwaltungsgericht - BVerwG -, Beschluß vom 18. Juli 1961 VI ER 400.61/1, BVerwGE 12, 363, 365). Soweit ein negativer Kompetenzkonflikt zwischen Spruchkörpern eines Gerichts besteht, deren Zuständigkeiten durch Gesetz geregelt sind, wird eine entsprechende Anwendung von § 36 Nr. 6 ZPO für zulässig gehalten (Bundesgerichtshof - BGH -, Beschluß vom 3. Mai 1978 IV ARZ 26/78, BGHZ 71, 264, 266, 270 = Neue Juristische Wochenschrift 1978, 1531 - Konflikt zwischen einem Familiensenat und einem allgemeinen Berufungssenat eines Oberlandesgerichts -; vgl. auch, mit weiteren Beispielen, Stein/Jonas/Schumann, ZPO, 20. Aufl., 1984, § 36 Rdnr. 20; Zöller/Vollkommer, ZPO, 14. Aufl., 1984, § 36 Anm. 29; Müller, Deutsche Richterzeitung - DRiZ - 1978, 14f.). Diese Auffassung wird nicht nur auf Zweckmäßigkeitserwägungen, sondern vor allem darauf gestützt, daß das Präsidium eines Gerichts zwar - grundsätzlich - bei einer den Geschäftsverteilungsplan betreffenden Meinungsverschiedenheit zwischen mehreren Spruchkörpern eingreifen kann, nicht aber bei einem Kompetenzstreit durch Anwendung einer gesetzlichen Zuständigkeitsnorm entscheiden darf (BGHZ 71, 264, 270; vgl. auch - für die auf Gesetz beruhende Aufgabenabgrenzung zwischen Jugendkammer und Schwurgericht als Kammern eines Landgerichts - BGH, Urteil vom 25. August 1975 2 StR 309/75, BGHSt 26, 191, 200). Würde dieser Auffassung für die FGO gefolgt, so könnte - was indessen nicht entschieden zu werden braucht - eine Zuständigkeitsbestimmung durch den BFH bei einem negativen Kompetenzkonflikt zwischen dem Senat, bei dem gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 FGO Zoll-, Verbrauchsteuer- und Finanzmonopolsachen zusammengefaßt sind, und einem anderen Senat desselben FG in entsprechender Anwendung von § 39 Abs. 1 Nr. 4 FGO in Betracht kommen. Bei lediglich auf unterschiedlicher Auslegung des Geschäftsverteilungsplans beruhenden negativen Kompetenzkonflikten zwischen Spruchkörpern eines Gerichts ließe sich eine entsprechende Anwendung von § 36 Nr. 6 ZPO jedenfalls nicht mit dem Hauptgrund rechtfertigen - gesetzliche Zuständigkeitsverteilung zwischen Spruchkörpern eines Gerichts -, auf den eine Analogie zu stützen wäre.

2. Im vorliegenden Falle geht es um die Frage, welcher Senat des FG nach der für dieses Gericht geltenden Geschäftsverteilung die Streitsache ... zu entscheiden hat. Hierüber kann der BFH nicht in der Weise befinden, daß der nach seiner Auffassung geschäftsplanmäßig zuständige Senat mit bindender Wirkung bestimmt wird.

a) Die Verteilung der Geschäfte, damit die Konkretisierung des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes - GG -, § 16 Satz 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes - GVG -; vgl. auch Kissel, GVG, 1981, § 21 e Rdnr. 4), gehört zu den Aufgaben des Präsidiums, das seine diesbezüglichen, vor Beginn des Geschäftsjahres getroffenen Anordnungen im Laufe des Geschäftsjahres nur unter bestimmten Voraussetzungen ändern darf (§ 4 FGO, § 21 e Abs. 1 Satz 1 und 2, Abs. 3 GVG). Gerichtsinterne Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung und Anwendung des Geschäftsverteilungsplans regelt mit bindender Wirkung für die beteiligten Spruchkörper das Präsidium (Kissel, a. a. O., Rdnr. 105f.; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl., § 4 FGO Tz. 18; BGH - Dienstgericht -, Urteil vom 21. April 1978 RiZ 5/77, DRiZ 1978, 249; BGHSt 26, 191, 200; BGH, Beschluß vom 30. Oktober 1973 5 StR 496/73, BGHSt 25, 242, 244). Dies ist hinsichtlich der (authentischen) Auslegung, die auch ausdehnender Art sein kann (Kissel, a. a. O., Rdnr. 104, im Anschluß an BGH, Urteil vom 26. November 1979 II ZR 31/79, DRiZ 1980, 147f.), und der Lückenfüllung durch allgemeingültige, gegebenenfalls auch durch einen Einzelfall veranlaßte Regelungen, soweit ersichtlich, unstreitig. Umstritten ist dagegen, ob die Entscheidungszuständigkeit des Präsidiums die Möglichkeit einer "Einzelfallzuweisung" einschließt (bejahend Kissel, a. a. O., Rdnr. 106, der eine entsprechende Feststellung durch das Präsidium als im Grunde nur deklaratorisch ansieht; dort weitere Nachweise, auch zum Streitstand; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 25. November 1964 V C 60.63, BVerwGE 20, 39, 41). Das Bundesverfassungsgericht - BVerfG - hat in seinem vom ersuchenden Senat angeführten - nicht veröffentlichten - Beschluß vom 4. November 1974 2 BvR 225/74 (zu ihm vgl. BGHSt 26, 191, 200; Müller, a. a. O., S. 16; derselbe, Juristenzeitung 1976, 587; Heintzmann, DRiZ 1975, 320, 321 f.) ausgesprochen, die Entscheidung eines negativen Kompetenzkonflikts zwischen zwei Strafkammern eines Landgerichts durch eine eigene materiell-rechtliche Entscheidung sei nicht Aufgabe des Landgerichtspräsidiums. Der ersuchende Senat wertet den Beschluß des Präsidiums vom 27. November 1984 als eine hiernach unzulässige materiell-rechtliche Entscheidung - konstitutive Änderung der Zuständigkeitskriterien - und meint, unter den gegebenen Umständen komme eine Lösung des negativen Kompetenzkonflikts nur dadurch in Betracht, daß der BFH den für die Entscheidung zuständigen Spruchkörper bestimme. Der ersuchende Senat folgt damit der Auffassung von Weitl (DRiZ 1977, 112), der im Falle eines negativen Kompetenzkonflikts zwischen mehreren Richtern des zuständigen Gerichts eine konstitutiv wirkende Zuständigkeitsbestimmung durch das Obergericht in entsprechender Anwendung von § 36 ZPO befürwortet. Im finanzgerichtlichen Verfahren kommt, wenn überhaupt, allenfalls eine entsprechende Anwendung von § 39 Abs. 1 Nr. 4 FGO in Frage. Nach Ansicht des Senats ist eine solche Analogie jedoch nicht zulässig. Eine durch Analogie zu schließende Regelungslücke des Gesetzes liegt nicht vor. Vielmehr ist es Sache des Präsidiums, den Zuständigkeitsstreit zu entscheiden.

Eine gesetzlich nicht vorgesehene obergerichtliche Zuständigkeitsbestimmung würde demgegenüber einen Eingriff in die Befugnisse des Präsidiums darstellen, dem allein es obliegt, die Geschäftsverteilung zu regeln (§ 21 e Abs. 1 Satz 1 GVG); dies gilt unabhängig davon, ob dem Präsidium außer der Aufstellung des Geschäftsverteilungsplans, seiner Auslegung und der generellen und für die Zukunft wirkenden Lückenfüllung (vgl. insoweit Kissel, a. a. O., Rdnr. 97) noch die Entscheidungsbefugnis im Falle des Kompetenzkonflikts wegen geschäftsplanmäßiger Zuständigkeit zukommt oder nicht.

Überdies könnte eine "Kompetenzkonflikteinzelfallentscheidung des Obergerichts" (Weitl) von dem auf diese Weise bestimmten Spruchkörper des zuständigen Gerichts als nicht bindend angesehen werden; der Zuständigkeitsstreit würde dadurch nicht nur nicht beendet, sondern mit zusätzlichen Schwierigkeiten belastet.

Eine auf unrichtiger Auslegung des Geschäftsverteilungsplans beruhende obergerichtliche Zuständigkeitsbestimmung würde unter diesen Umständen sogar den Streitfall seinem gesetzlichen Richter entziehen und damit gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, § 16 Satz 2 GVG verstoßen (vgl. in diesem Zusammenhang auch Hamann/Lenz, Grundgesetz, 3. Aufl., 1970, Art. 101 Anm. B 2c = S. 628, die die vom BVerfG - Beschluß vom 25. Oktober 1966 2 BvR 291, 656/64, BVerfGE 20, 336, 345 - für zulässig gehaltene Zurückverweisung an einen iudex tertius im Revisionsverfahren sowie die Zuständigkeitsbestimmung nach § 36 Nr. 1 ZPO als verfassungswidrig ansehen). Ein solches Vorgehen müßte erst recht den Bedenken begegnen, die schon gegen eine aus Anlaß eines Kompetenzkonflikts getroffene "Einzelfallzuweisung" durch das für die Geschäftsverteilung zuständige Präsidium bestehen mögen. Zweckmäßigkeitserwägungen, wie sie die Rechtsprechung zur Rechtfertigung einer analogen Anwendung von § 36 Nr. 6 ZPO in Fällen von Kompetenzkonflikten zwischen Spruchkörpern eines Gerichts bei gesetzlich geregelter Zuständigkeit - rein unterstützend - herangezogen hat (vgl. BGHZ 71, 264, 270f.; s. oben Nr. 1 b), sind nicht geeignet, diese Bedenken, die der Senat für durchgreifend hält, zu entkräften.

b) Eine Besonderheit des vorliegenden Verfahrens liegt darin, daß eine Entscheidung des BFH als eines Bundesgerichtes in einem internen Zuständigkeitsstreit des FG als eines Landesgerichtes begehrt wird. Nach der in Art. 30 GG enthaltenen Grundregel für die Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern kann eine Bundeskompetenz nur angenommen werden, soweit die Verfassung sie regelt oder zuläßt. Die Vorschriften der FGO (Art. 108 Abs. 6 GG) in Verbindung mit dem GVG und der ZPO (§ 155 FGO) sehen, wie dargelegt, eine Entscheidungskompetenz des BFH nicht vor. Eine solche käme deshalb nur nach ungeschriebenem Verfassungsrecht unter Gesichtspunkten des Sachzusammenhanges oder der Natur der Sache in Betracht. Indes sind auch diese Voraussetzungen nicht erfüllt. Zwar kann der BFH im Rahmen eines bei ihm anhängigen Rechtsstreits in die Lage kommen zu prüfen, ob die angefochtene Entscheidung des FG von dem zuständigen Senat erlassen wurde (§ 119 Nr. 1 FGO). Er kann aber nicht mit bindender Wirkung darüber befinden, welcher Senat des FG zuständig gewesen wäre. Denn diese Bestimmung hat, wie ausgeführt, das Präsidium des FG zu treffen. Eine Zuständigkeit aus der "Natur der Sache" könnte nur angenommen werden, wenn jede andere Möglichkeit einer sachgerechten Lösung ausgeschlossen wäre (vgl. Urteil des BVerfG vom 28. Februar 1961 2 BvG 1,2/60, BVerfGE 12, 205, 251; Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Kommentar zum GG, Rdnr. 25 zu Art. 30; Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum GG, 6. Aufl. 1983, Anm. 7 zu Art. 30). Insbesondere vermag die von dem anrufenden Senat des FG behauptete Zweckmäßigkeit einer Entscheidung des Zuständigkeitsstreites durch den BFH keine sog. Annexkompetenz des BFH zu begründen (vgl. Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, a. a. O., mit weiteren Nachweisen).

3. Da der Streitfall seinen gesetzlichen Richter hat, aber noch Unklarheit über den nach der maßgebenden Geschäftsverteilungsregelung zur Entscheidung berufenen Spruchkörper besteht, kommt es auf die Auslegung des Geschäftsverteilungsplans durch das dafür zuständige Präsidium an. Es wird Sache des ersuchenden Senats sein, seine gegen den Präsidiumsbeschluß vom 27. November 1984 etwa fortbestehenden Zweifel erneut dem Präsidium des FG vorzutragen, das gemäß dem Geschäftsverteilungsplan auch in solchen Fällen zu entscheiden hat, in denen sich aus diesem für eine Streitsache eine Zuständigkeit nicht ergibt oder Meinungsverschiedenheiten zwischen den Senaten über die Zuständigkeit bestehen (vgl. hierzu Kissel, a. a. O., Rdnr. 105).