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BFH-Urteil vom 18.3.1986 (VII R 146/81) BStBl. 1986 II S. 589

1. Zur Frage der Prozeßunterbrechung bei Löschung einer GmbH.

2. Eine Betriebsübereignung i. S. des § 75 Abs. 1 AO 1977 setzt bei Grundstücken, die zu den wesentlichen Grundlagen des Unternehmens gehören und im Eigentum des Betriebsinhabers stehen, voraus, daß sie nach den Vorschriften des BGB an den Erwerber übereignet werden. Die Vermietung oder Verpachtung eines solchen Grundstücks durch den früheren Betriebsinhaber an den fortführenden Unternehmer vermag die Haftung nicht zu begründen.

3. In den Fällen der Haftung des Betriebsübernehmers nach § 75 Abs. 1 AO 1977 bestimmt sich der Wert des Streitgegenstandes (§ 155 FGO, § 3 ZPO) nach dem Nennwert der mit dem Haftungsbescheid geltend gemachten Haftungssumme. Die Beschränkung der Haftung auf den Bestand des übernommenen Vermögens (§ 75 Abs. 1 Satz 2 AO 1977) bleibt für die Streitwertbemessung der Anfechtungsklage außer Betracht.

AO 1977 § 75 Abs. 1; ZPO §§ 3, 241, 246.

Vorinstanz: Niedersächsisches FG

Sachverhalt

I.

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist eine GmbH, die am 30. Dezember 1976 in das Handelsregister eingetragen und dort Ende 1984 von Amts wegen gelöscht worden ist. An ihr waren im Zeitpunkt der Gründung die Ehefrau ihres Geschäftsführers G und eine andere GmbH, die wiederum aus dem Geschäftsführer G und seiner Ehefrau bestand, beteiligt. Der Geschäftsführer G hatte bis zum 31. Dezember 1976 unter der Einzelfirma Wilhelm W einen Elektroinstallationsbetrieb und den Einzelhandel mit Elektrogeräten betrieben. Dieselbe gewerbliche Tätigkeit nahm die Klägerin nach der Einstellung des Einzelunternehmens des Kaufmanns G ab Januar 1977 auf. Die Klägerin betrieb ihr Unternehmen aufgrund eines abgeschlossenen Mietvertrags in denselben Räumen, in denen zuvor die Einzelfirma ihren Geschäftssitz hatte. Eigentümer des Gebäudes war bis zu dessen Veräußerung im Laufe des Jahres 1977 an einen Dritten der frühere Einzelunternehmer und spätere GmbH-Geschäftsführer G.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) nahm die Klägerin mit dem angefochtenen Haftungsbescheid als Betriebsübernehmerin für Steuerschulden der Einzelfirma in Anspruch.

Der Einspruch der Klägerin blieb erfolglos.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage unter Ausspruch der Beschränkung der Haftung der Klägerin auf den Bestand des übernommenen Vermögens (§ 75 Abs. 1 Satz 2 der Abgabenordnung - AO 1977 -) ab.

Mit der Revision rügt die Klägerin Verletzung formellen und materiellen Rechts. Sie macht geltend:

Sie habe kein lebendes Unternehmen fortführen können, da die frühere Einzelfirma wegen Überschuldung liquidiert worden sei. Es seien nicht die wesentlichen Betriebsgrundlagen, sondern nur nach und nach unbedeutende Vermögenswerte übernommen worden, so Werkzeuge und Büroeinrichtungen mit einem Wert von 2.500 DM und drei Kfz, von denen zwei auf 1 DM abgeschrieben und eines noch einen Buchwert von 1.307 DM gehabt habe. Andere den Wert eines Unternehmens bestimmende Grundlagen seien nicht mehr vorhanden gewesen und auch nicht auf sie übergegangen. Sie habe einen Teil der ehemaligen Betriebsräume der Einzelfirma vom Hauseigentümer lediglich gemietet. Das dem früheren Unternehmer unter Eigentumsvorbehalt gelieferte Warenlager sei ihr erst später aufgrund einer besonderen Vereinbarung von der Firma S, die die Kosten des Abtransports habe vermeiden wollen, unter Einräumung eines größeren Warenkredits ebenfalls unter Eigentumsvorbehalt zur Verfügung gestellt worden.

Die Klägerin beantragt, die Vorentscheidung, den Haftungsbescheid und die Einspruchsentscheidung des FA aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist zulässig und begründet.

1. Die Revision ist als Streitwertrevision statthaft, da der Wert des Streitgegenstandes 10.000 DM übersteigt (§ 115 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO - i. V. m. Art. 1 Nr. 5 Satz 1 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs - BFH-EntlG - in der bis zum 16. Juli 1985 geltenden Fassung). Die für die Zulässigkeit des Rechtsmittels maßgebliche Höhe des Streitwerts bestimmt sich nach § 155 FGO, § 3 der Zivilprozeßordnung (ZPO). Der Streitwert ist im Streitfall nach dem Nennwert der vom FA im angefochtenen Haftungsbescheid geltend gemachten Haftungssumme - hier: 53.690 DM - zu bewerten. Dabei bleibt außer Betracht, daß sich die Haftung des Betriebsübernehmers nach § 75 Abs. 1 Satz 2 AO 1977, wie das FG in seinem Urteil ausgesprochen hat, auf den Bestand des übernommenen Vermögens beschränkt. Denn diese Haftungsbeschränkung, die mit der beschränkten Haftung des Erben (§§ 1990, 1991, 1992 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -) des Vermögensübernehmers (§ 419 BGB) und der anderen in § 786 ZPO genannten Personengruppen vergleichbar ist, wird erst in der Zwangsvollstreckung und nur auf Einwendung hin relevant (§§ 781, 786 ZPO; vgl. auch Beschluß des Reichsgerichts - RG - vom 12. Mai 1903 III 136/03, RGZ 54, 411; Wieczorek, Zivilprozeßordnung und Nebengesetze, 2. Aufl., § 3 B I a 3 ZPO, am Ende; Schumann in Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 20. Aufl., § 6 Anm. 21). Der Senat brauchte deshalb für die Ermittlung des Streitwerts und die Entscheidung über die Zulässigkeit der Revision keine Feststellungen darüber zu treffen, ob der Wert der von der Klägerin übernommenen Vermögensgegenstände die für die Streitwertrevision maßgebliche Grenze von 10.000 DM übersteigt.

2. Die Tatsache, daß die Klägerin nach Einlegung der Revision am 5. Dezember 1984 aufgrund des § 2 des Löschungsgesetzes (LöschG) vom 9. Oktober 1934 (RGBl I, 914) von Amts wegen im Handelsregister gelöscht worden ist, hat auf die Fortführung des Revisionsverfahrens keinen Einfluß. Eine wegen Vermögenslosigkeit von Amts wegen gelöschte GmbH gilt gemäß § 2 Abs. 1 LöschG als aufgelöst; eine Liquidation findet nicht statt. Die Löschung im Handelsregister hat aber keine rechtsgestaltende, sondern nur deklaratorische Wirkung. Stellt sich nach der Löschung heraus, daß noch verteilbares Vermögen vorhanden ist, so lebt die Gesellschaft fort, und es findet eine Liquidation statt. Die Liquidatoren sind auf Antrag eines Beteiligten durch das Registergericht zu ernennen (§ 2 Abs. 3 LöschG). Steuerrechtlich wird eine gelöschte GmbH in jedem Falle als fortbestehend angesehen, solange sie noch steuerrechtliche Pflichten zu erfüllen hat und gegen sie ergangene Steuerbescheide oder Haftungsbescheide angreift. Ihre Beteiligtenfähigkeit wird durch die Löschung nicht berührt (vgl. Entscheidungen des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 31. Januar 1961 I 58/59 U, BFHE 72, 468, BStBl III 1961, 171; vom 18. Oktober 1967 I R 144-145/66, BFHE 90, 336, BStBl II 1968, 95; vom 2. Juli 1969 I R 190/67, BFHE 96, 335, BStBl II 1969, 656, und vom 26. März 1980 I R 111/79, BFHE 130, 447, BStBl II 1980, 587).

Die Löschung einer GmbH gemäß § 2 LöschG hat aber zur Folge, daß der bisherige gesetzliche Vertreter (Geschäftsführer, § 35 Abs. 1 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung - GmbHG -) seine Vertretungsbefugnis verliert und die GmbH mangels eines vertretungsberechtigten Organs prozeßunfähig wird. Das gerichtliche Verfahren wird deshalb in der Regel bis zur Bestellung eines Liquidators (§ 2 Abs. 3 LöschG, § 273 Abs. 4 des Aktiengesetzes - AktG - in entsprechender Anwendung) gemäß §§ 56, 241 Abs. 1 ZPO unterbrochen (vgl. die vorstehend zitierte BFH-Rechtsprechung). Allerdings tritt die Rechtsfolge der Unterbrechung des Verfahrens gemäß § 246 ZPO dann nicht ein, wenn die Gesellschaft durch einen Prozeßbevollmächtigten vertreten war (BFHE 90, 336, BStBl II 1968, 95).

Im Streitfall wird die Klägerin seit Beginn des Revisionsverfahrens durch ihren Prozeßbevollmächtigten vertreten. Die diesem von ihrem Geschäftsführer erteilte Prozeßvollmacht dauerte über den Zeitpunkt der Löschung der Klägerin und des Verlustes der gesetzlichen Vertretungsmacht ihres Geschäftsführers fort (§ 155 FGO, § 86 ZPO). Eine Unterbrechung des Verfahrens ist deshalb gemäß § 246 Abs. 1 ZPO nicht eingetreten.

3. Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung, der Einspruchsentscheidung und des angefochtenen Haftungsbescheids (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO). Die Voraussetzungen für eine Haftung der Klägerin als Betriebsübernehmerin nach § 75 Abs. 1 AO 1977 liegen nicht vor. Diese Vorschrift findet im Streitfall Anwendung, weil der vom FA und vom FG angenommene haftungsbegründende Tatbestand - Übereignung des Betriebs der Einzelfirma Wilhelm W - nach dem 31. Dezember 1976 verwirklicht worden sein soll (Art. 97 § 11 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung - EGAO 1977 -). Denn nach der Feststellung der Vorinstanz hat die Einzelfirma ihren Betrieb erst zu diesem Stichtag eingestellt und die Klägerin den Betrieb im Januar 1977 aufgenommen.

Die Haftung des Erwerbers für bestimmte Betriebssteuern und Steuerabzugsbeträge des Veräußerers nach § 75 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 setzt voraus, daß diesem ein Unternehmen oder ein in der Gliederung eines Unternehmens gesondert geführter Betrieb im ganzen übereignet worden ist. Die Übereignung eines Unternehmens im ganzen bedeutet den Übergang des gesamten lebenden Unternehmens, d. h. der durch das Unternehmen repräsentierten organischen Zusammenfassung von Einrichtungen und dauernden Maßnahmen, die dem Unternehmen dienen oder mindestens seine wesentlichen Grundlagen ausmachen, so daß der Erwerber das Unternehmen ohne nennenswerte finanzielle Aufwendungen fortführen kann. Sofern die für die Übertragung auf den Erwerber in Betracht kommenden grundlegenden Bestandteile des Unternehmens auch Wirtschaftsgüter umfassen, die nicht im bürgerlich-rechtlichen Sinne übereignet werden können (z. B. Erfahrungen und Geheimnisse, Beziehungen zu Kunden, Lieferern und Mitarbeitern), genügt es, daß die wesentlichen Grundlagen des Unternehmens nur im wirtschaftlichen Sinne übereignet werden, daß also ein eigentümerähnliches Herrschaftsverhältnis an den sachlichen Grundlagen des Unternehmens auf den Erwerber übergegangen ist (so zu der dem § 75 AO 1977 entsprechenden Vorschrift des § 116 der Reichsabgabenordnung - AO - die Urteile des erkennenden Senats vom 27. November 1979 VII R 12/79, BFHE 129, 293, BStBl II 1980, 258, und vom 16. März 1982 VII R 105/79, BFHE 135, 239, BStBl II 1982, 483, m. w. N.). Danach ist es, wenn z. B. die Betriebsräume des übereigneten Unternehmens angemietet oder angepachtet waren, für die Haftung des Erwerbers ausreichend, daß er mit dem Vermieter dieser Räume unter Mitwirkung des Veräußerers einen Mietvertrag abschließt (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl., § 75 AO 1977 Tz. 7 und die dort angegebene Rechtsprechung). Gehören aber zu den wesentlichen Grundlagen des Unternehmens des Steuerschuldners in dessen Eigentum stehende bewegliche Sachen oder Grundstücke, so müssen diese zur Erfüllung der haftungsbegründenden Voraussetzungen des § 75 AO 1977 nach den Vorschriften des BGB an den Erwerber übereignet werden (BFHE 135, 239, BStBl II 1982, 483, 485, und Urteil des Senats vom 6. August 1985 VII R 189/82, BFHE 144, 204, BStBl II 1985, 651). Die Vermietung oder Verpachtung der wesentlichen Grundlagen des Unternehmens durch den Eigentümer und früheren Betriebsinhaber an den fortführenden Unternehmer vermag hingegen die Haftung nach § 75 AO 1977 nicht zu begründen (BFHE 129, 293, BStBl II 1980, 258, 260).

Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den Streitfall kommt der Senat abweichend von der Auffassung des FG zu dem Ergebnis, daß nicht alle wesentlichen Grundlagen des Unternehmens des Steuerschuldners an die Klägerin übereignet worden sind. Zu den wesentlichen Grundlagen des Elektroinstallations- und Einzelhandelsbetriebs der Einzelfirma Wilhelm W gehörten die Betriebsräume (Geschäftslokal, Lager), in denen der Unternehmer seine Geschäftstätigkeit ausübte. Hiervon ist offensichtlich auch das FG ausgegangen, denn es hat im Rahmen seiner Subsumtion des Sachverhalts unter § 75 AO 1977 als auf die Klägerin übergegangene Betriebsgrundlagen der Einzelfirma zuerst die Betriebsräume genannt. Das Grundstück, in dem sich diese Räume befanden, stand im Eigentum des Inhabers der Einzelfirma. Dieses Eigentum ist nicht nach den Vorschriften des BGB auf die Klägerin übertragen worden, sondern im Laufe des Jahres 1977 auf einen Dritten. Die Klägerin war lediglich berechtigt, einen Teil der Betriebsräume des früheren Einzelunternehmens aufgrund eines abgeschlossenen Mietvertrags zu nutzen. Die Vermietung wesentlicher Betriebsgrundlagen des früheren Unternehmens an das Nachfolgeunternehmen stellt aber, wenn diese im Eigentum des früheren Unternehmers gestanden haben und darin verbleiben, nach den vorstehenden Ausführungen keine Übereignung i. S. des § 75 AO 1977 dar.

An dieser Beurteilung vermag auch die Tatsache, daß der Inhaber der Einzelfirma und Grundstückseigentümer nunmehr als Geschäftsführer der Klägerin mit dieser wirtschaftlich eng verbunden blieb, nichts zu ändern. Es besteht damit keine Identität zwischen dem Eigentümer des Betriebsgrundstücks und der als Erwerberin gemäß § 75 AO 1977 in Betracht kommenden Klägerin. Nach der Rechtsordnung handelt es sich vielmehr um verschiedene Rechtssubjekte. Auf die fortbestehende Nutzungsmöglichkeit der Räume kommt es nicht an, da diese bei der Einzelfirma und der Klägerin auf unterschiedlichen Rechtspositionen beruhte (vgl. BFHE 135, 239, BStBl II 1982, 483, 485).

Da somit entgegen der Auffassung der Vorinstanz die Betriebsräume als eine der wesentlichen Grundlagen des Unternehmens nicht an die Klägerin übertragen worden sind, scheidet eine Übereignung des Unternehmens der Einzelfirma im ganzen und damit eine Haftung für deren Steuerschulden gemäß § 75 Abs. 1 AO 1977 aus. Der Senat braucht nicht mehr zu prüfen, ob die anderen von der Klägerin übernommenen Vermögensgegenstände - Werkzeuge, Betriebseinrichtung, Kfz, Warenlager, Arbeitnehmer - zu den wesentlichen Grundlagen des Betriebs der Einzelfirma gehört haben und ob sie der Klägerin von dieser i. S. des § 75 AO 1977 übereignet worden sind.