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BFH-Urteil vom 12.6.1986 (VII R 192/83) BStBl. 1986 II S. 657

Zur Berechnung der Höhe des Haftungsbetrages für nicht an das FA entrichtete Umsatzsteuer, wenn die dem Geschäftsführer während des Haftungszeitraums zur Verfügung stehenden Mittel zur Tilgung sämtlicher Verbindlichkeiten nicht ausreichten.

AO §§ 109, 103.

Vorinstanz: FG Münster

Sachverhalt

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) war Geschäftsführer einer KG. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) nahm ihn wegen nicht angemeldeter und entrichteter Umsatzsteuer der KG für die Jahre 1974 und 1975 gemäß §§ 105 Abs. 1, 103, 109 Abs. 1 der Reichsabgabenordnung (AO) als Haftungsschuldner in Anspruch. Auf die Klage des Klägers setzte das Finanzgericht (FG) die Haftungssumme auf 80 v. H. der rückständigen Steuerbeträge herab. Es ging davon aus, daß der Kläger nach den ihm während des Haftungszeitraums zur Verfügung stehenden Mitteln in Höhe dieses Vomhundertsatzes sämtliche Gläubiger gleichmäßig hätte befriedigen können. Mit der Revision begehrt der Kläger die Aufhebung des Haftungsbescheids bzw. die weitere Herabsetzung des Haftungsbetrages.

Die Vorentscheidung ist hinsichtlich der Höhe des von ihr festgesetzten Haftungsbetrages nicht zu beanstanden.

Entscheidungsgründe

Nach den Feststellungen des FG ist die Höhe der Umsatzsteuer, die von der KG nicht angemeldet und entrichtet worden ist, unstreitig. Hierfür haftet der Kläger wegen schuldhafter Pflichtverletzung aber nur, soweit er aus den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln die Steuerschulden hätte tilgen können. Seine volle oder teilweise Haftung setzt deshalb die Feststellung voraus, daß die KG - ungeachtet sonstiger Verbindlichkeiten - bei Fälligkeit der Steuerschulden oder später über hinreichende Mittel zu deren Begleichung verfügte oder daß der Kläger - wenn diese Lage nicht gegeben war - die vorhandenen Mittel zu einer nicht in etwa anteiligen Befriedigung der privaten Gläubiger und des FA verwendet hat (Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 8. Juli 1982 V R 7/76, BFHE 137, 1, BStBl II 1983, 249, und vom 26. April 1984 V R 128/79, BFHE 141, 443, BStBl II 1984, 776).

Von diesen in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen ist auch das FG ausgegangen. Wenn das FA, wie der Kläger rügt, die hierfür notwendigen Feststellungen nicht selbst getroffen und es keine "Mittelverwendungsrechnung" erstellt hat, so ist das unerheblich, weil die erforderlichen Feststellungen auch noch vom FG als Tatsacheninstanz getroffen werden konnten und hierbei der Kläger zur Mitwirkung herangezogen werden konnte (§ 76 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Die in der Entscheidung in BFHE 137, 1, BStBl II 1983, 249 angesprochene objektive Beweislast des FA für die Nichtverwendung vorhandener Mittel zur vollen oder anteiligen Befriedigung des Fiskus, auf die sich der Kläger beruft, greift jedenfalls nur ein im Falle der Unerweislichkeit einer für die Entscheidung maßgeblichen Tatsache (non liquet; vgl. Gräber, Finanzgerichtsordnung, § 96 Anm. 3 B). Im Streitfall reichten aber die Feststellungen der Vorinstanz über die vorhandenen Mittel und den Umfang einer möglichen anteiligen Befriedigung des FA und der anderen Gläubiger zur Entscheidung über den Haftungsumfang aus. Das FG hat auf Grund der vom Kläger vorgelegten Gegenüberstellung der im Haftungszeitraum (Juli 1974 bis Ende 1975) insgesamt bestehenden Verbindlichkeiten und der in diesem Zeitraum vorhandenen Mittel der KG festgestellt, daß die KG bzw. der Kläger in der Lage gewesen wären, 81,36 v. H. der gesamten Verbindlichkeiten zu bezahlen. Es hat daraus im Hinblick auf die Verpflichtung des Geschäftsführers zur etwa gleichmäßigen Befriedigung aller Gläubiger den Schluß gezogen, daß der Kläger das FA hinsichtlich der streitbefangenen Umsatzsteuer zu 80 v. H. hätte befriedigen können und deshalb in Höhe dieses Betrages hafte. Der Senat ist an diese Feststellung des FG und an die auf tatsächlichem Gebiet liegende Schlußfolgerung gebunden (§ 118 Abs. 2 FGO), da sie verfahrensrechtlich einwandfrei zustande gekommen, nicht durch Denkfehler oder Verletzung von Erfahrungssätzen beeinflußt und, wenn auch nicht zwingend, so doch möglich ist (Gräber, a. a. O., § 118 Anm. 10, mit weiteren Nachweisen). Der Kläger hat dagegen lediglich vorgebracht, daß seine Aufstellung als "Mittelverwendungsrechnung" nicht geeignet sei, da sie die Verpflichtungen im Bereich der Löhne und Gehälter sowie die Höhe der Kreditlinien nicht enthalte. Darin liegt jedenfalls keine Verfahrensrüge. Ob der Kläger mit seinem Vorbringen einen Verstoß gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze rügt, kann dahinstehen; denn seine Behauptungen treffen nicht zu. In den "Schuldzuführungen 1.8.1974 - 10.1.1976" sind die in diesem Zeitraum ausgezahlten Löhne und die Lohnnebenkosten enthalten, und die Aufstellung der Geldmittel berücksichtigt auch die Kreditrahmen, soweit sie noch nicht ausgeschöpft waren.

Zutreffend hat das FG für seine Feststellungen über den möglichen Umfang gleichmäßiger Gläubigerbefriedigung auf die Verpflichtungen und die vorhandenen Geldmittel während des gesamten Haftungszeitraums abgestellt. Zwar bemißt sich der Umfang einer dem Geschäftsführer vorwerfbaren Pflichtverletzung und damit die Höhe seiner Haftung nach § 109 Abs. 1 AO grundsätzlich nach den Mitteln, die ihm im Zeitpunkt der Fälligkeit der Steuerschulden zur Verfügung standen (vgl. BFHE 137, 1, BStBl II 1983, 249, und BFHE 141, 443, BStBl II 1984, 776, 778). Werden aber - wie im Streitfalle - während eines längeren Zeitraums mit mehreren Fälligkeitszeitpunkten die Steuern nicht oder nicht vollständig entrichtet, so ist hinsichtlich der Feststellung, ob und inwieweit der Vertreter des Steuerpflichtigen seine Verpflichtung zur in etwa gleichmäßigen Befriedigung aller Gläubiger gegenüber dem FA verletzt hat, einer Betrachtung nach dem Gesamtzeitraum der Vorzug zu geben gegenüber der Berechnung des Prozentsatzes einer möglichen Gläubigerbefriedigung für jeden einzelnen Zahlungs- oder Fälligkeitszeitpunkt. Demgemäß hat der erkennende Senat bereits in seinem Urteil vom 26. März 1985 VII R 139/81 (BFHE 143, 488, BStBl II 1985, 539) die Höhe der Haftung eines Bevollmächtigten (§§ 108, 109 Abs. 1 AO) danach ermittelt, in welchem Umfang dieser bei Berücksichtigung der während des gesamten Haftungszeitraums bestehenden und aufgelaufenen Verbindlichkeiten und Steuerschulden und der ihm während dieses Zeitraums zur Verfügung stehenden Geldmittel die privaten Gläubiger und das FA gleichmäßig hätte befriedigen können.

Der Senat weicht mit dieser zeitraumbezogenen Ermittlung der Haftungssumme nicht von dem Verschuldensbegriff des § 109 Abs. 1 AO ab. Er ist vielmehr der Meinung, daß sich das Maß des Verschuldens des Haftungsschuldners nur aus den Verhältnissen und dem Verhalten während des gesamten Haftungszeitraums erschließt, und daß die zeitraumbezogene Berechnung gegenüber einer Ermittlung nach den jeweiligen Zahlungs- oder Fälligkeitszeitpunkten aus Gründen der Praktikabilität und wegen des unternehmerischen Ermessensspielraums, der auch dem Geschäftsführer eines in Liquiditätsschwierigkeiten befindlichen Unternehmens noch zugebilligt werden muß, den Vorzug verdient.

Bei einer auf bestimmte Zeitpunkte abstellenden Beurteilung müßten nicht nur die zu dem jeweiligen Zeitpunkt bestehenden Gesamtverbindlichkeiten, Steuerschulden, vorhandenen Geldmittel und Kreditmöglichkeiten berücksichtigt werden. Das Maß der vorwerfbaren Pflichtverletzung des Geschäftsführers hinge vielmehr auch davon ab, inwieweit dieser zu den jeweiligen Zeitpunkten mit kurzfristigem Eingang von Außenständen rechnen konnte. Ferner müßten in die Beurteilung nicht nur die fälligen, sondern auch die demnächst fällig werdenden Steuerschulden einbezogen werden, wie der V. Senat des BFH im Urteil in BFHE 141, 443, BStBl II 1984, 776, 779 entschieden hat. Dem Senat erscheint aber die nachträgliche Aufstellung eines Liquiditätsstatus für jeden einzelnen Zeitpunkt, zu dem der Geschäftsführer Verbindlichkeiten getilgt hat oder er Steuerzahlungen zu leisten hatte, aus praktischen Gründen nicht möglich. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, daß die Geschäftsführerhaftung in zahlreichen Fällen erst zum Zuge kommt, nachdem über das Vermögen des vertretenen Unternehmens das Konkursverfahren eröffnet worden ist und die Geschäftsunterlagen nur noch eingeschränkt oder schwer zugänglich sind. Bei der Beurteilung des Verschuldens nach dem Gesamtzeitraum des steuerlichen Fehlverhaltens des Geschäftsführers gleichen sich hingegen die angeführten Merkmale weitgehend aus.

Der Senat hält es ferner nicht für gerechtfertigt, schon aus einer nicht genau anteilmäßigen Befriedigung des FA gegenüber anderen Gläubigern in den einzelnen maßgebenden Zeitpunkten ein Verschulden i. S. des § 109 AO herzuleiten. Von einem Geschäftsführer kann im laufenden Geschäftsverkehr nicht verlangt werden, daß er bei jeder Zahlung an einen Gläubiger für gleichmäßige Befriedigung sämtlicher Kreditoren nach Maßgabe der vorhandenen Mittel sorgt. Es muß seiner unternehmerischen Entscheidung überlassen bleiben, bestimmte Gläubiger kurzfristig zu bevorzugen und alsdann bei späteren Zahlungen einen Ausgleich in dem Umfang der gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung herbeizuführen, wobei er mit dem Haftungsrisiko belastet ist, wenn ihm dies im Verhältnis zu dem FA nicht mehr gelingt. Inwieweit der Geschäftsführer bei insgesamt nicht ausreichenden Mitteln das FA gegenüber den privaten Gläubigern benachteiligt hat und ihm somit hinsichtlich der steuerlichen Verpflichtungen ein unternehmerisches Fehlverhalten vorgeworfen werden kann, ergibt sich erst aus einer Betrachtung der Verhältnisse während des gesamten Haftungszeitraums.

Mit dieser Entscheidung weicht der Senat nicht von dem Urteil des I. Senats des BFH vom 17. Juli 1985 I R 205/80 (BFHE 144, 329, BStBl II 1985, 702) ab. Der I. Senat hat in Kenntnis des Wortlauts dieser Entscheidung auf Anfrage mitgeteilt, daß seine Ausführungen zur zeitraumbezogenen Ermittlung der Haftungssumme mit den Besonderheiten des Sachverhalts in Zusammenhang stünden, über den er in dem angeführten Urteilsfalle zu entscheiden hatte.