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BFH-Beschluß vom 7.5.1986 (VI R 172/82) BStBl. 1986 II S. 707

Der VI. Senat legt dem Großen Senat des BFH gemäß § 11 FGO folgende Rechtsfragen zur Entscheidung vor:

1. Muß ein Steuerbescheid auch dann wegen nachträglich bekanntgewordener Tatsachen oder Beweismittel zugunsten des Steuerpflichtigen aufgehoben oder geändert werden, wenn das Finanzamt bei ursprünglicher Kenntnis der Tatsachen oder Beweismittel gleichwohl nicht anders entschieden hätte?

2. Trifft den Steuerpflichtigen ein grobes Verschulden daran, daß Tatsachen oder Beweismittel, die zu einer niedrigeren Steuer führen, erst nachträglich bekanntwerden, wenn er die betreffenden Tatsachen oder Beweismittel bewußt nicht vorgebracht hat, weil sie nach der damaligen höchstrichterlichen Rechtsprechung unerheblich waren?

3. Sofern die Frage zu 2. grundsätzlich zu verneinen sein sollte: Gilt etwas anderes, wenn nach dem nachträglich bekanntgewordenen Sachverhalt im Steuererklärungsvordruck ausdrücklich gefragt worden ist?

AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 2.

Vorinstanz: FG München

Sachverhalt

I.

Der Anrufung des Großen Senats liegt der folgende Sachverhalt zugrunde.

Der ledige Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) wohnte in den Streitjahren 1975 bis 1977 in X. Er war bis Mitte September 1975 im öffentlichen Dienst in A und danach als Finanzanwärter tätig. Auf seine Anträge auf Lohnsteuer-Jahresausgleich wurden mit bestandskräftigen Bescheiden für die Zeit der Beschäftigung in A und des Besuchs der Finanzschule in B - dem Antrag des Klägers folgend - Aufwendungen für eine Familienheimfahrt monatlich als Werbungskosten berücksichtigt.

Mit Schreiben vom 15. Dezember 1980 trug der Kläger vor, über die bisher geltend gemachten Fahrten hinaus im Kalenderjahr (Kj.) 1975 an 36 Tagen, im Kj. 1976 an 22 Tagen und im Kj. 1977 an 21 Tagen von A bzw. B nach X gefahren zu sein. Gleichzeitig beantragte er, die Lohnsteuer-Jahresausgleichsbescheide gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) zu ändern und wegen der zusätzlichen Fahrten weitere Werbungskosten zum Abzug zuzulassen.

Auf der Rückseite des Schreibens vom 15. Dezember 1980 ist ein Aktenvermerk des Sachbearbeiters angebracht, demzufolge dem zuständigen Beamten aus den Angaben des Steuerpflichtigen bekanntgewesen sei, daß der Kläger allwöchentlich nach Hause gefahren sei. Die damalige Rechtslage habe eine Berücksichtigung der Fahrten jedoch nicht zugelassen.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) lehnte das Änderungsbegehren ab. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage nach vorangegangenem Vorverfahren statt.

Mit der Revision rügt das FA Verletzung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977. Es legt dar:

Die lediglich am Wortlaut orientierte Auslegung durch das FG führe zu einer vom Gesetzgeber nicht beabsichtigten Ausweitung der Vorschrift. Danach würde bei nachträglicher Bekanntgabe von Tatsachen eine Berichtigung in allen Fällen in Betracht kommen, in denen sich die einschlägige Rechtsprechung geändert habe. Dabei bestehe für vor dem 1. Januar 1977 entstandene Steuern keine zeitliche Berichtigungsbegrenzung, da die Festsetzungsverjährung gemäß Art. 97 § 10 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO 1977) nur für später entstandene Steuern gelte und für Erstattungsansprüche nunmehr eine Verjährung nicht vorgesehen sei. Dies führe zu einer nicht zu rechtfertigenden Benachteiligung derjenigen Steuerpflichtigen, die ihre tatsächlichen Verhältnisse umfassend dargelegt hätten und nach damaliger Rechtsauffassung eine Ablehnung hätten hinnehmen müssen. Dieses Ergebnis werde durch eine teleologische Auslegung vermieden, die solche Tatsachen nicht als nachträglich bekanntgeworden ansehe, die, sofern sie bei der ersten Entscheidung des FA bereits bekanntgewesen wären, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zu einer abweichenden Steuerfestsetzung geführt hätten.

Entscheidungsgründe

II.

Der vorlegende Senat möchte die Vorentscheidung aufheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen, da er die Auffassung des FG nicht teilt, daß auch Tatsachen, von denen das FA zwar vor seiner Entscheidung Kenntnis erlangt hatte, die aber nicht aktenkundig gemacht worden waren, i. S. von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 nachträglich bekanntwerden können. Es bedarf daher weiterer Feststellungen, ob der Kläger - etwa anläßlich einer persönlichen Vorsprache bei Abgabe der Anträge auf Lohnsteuer-Jahresausgleich - den Sachbearbeiter mündlich davon in Kenntnis gesetzt hatte, daß neben den in den Anträgen auf Lohnsteuer-Jahresausgleich geltend gemachten Fahrten weitere Heimfahrten vorgenommen worden seien.

Dagegen wäre die Klage unter Aufhebung der Vorentscheidung abzuweisen, wenn von den dem Großen Senat zur Entscheidung vorgelegten Rechtsfragen die Frage 1 zu verneinen und die Fragen 2 und 3 zu bejahen wären. Der VI. Senat bejaht die Frage 1 und verneint die Fragen 2 und 3.

1. Zu Frage 1

Die zusätzlichen Heimfahrten sind Tatsachen, die zu einer niedrigeren Steuer führen, da Aufwendungen für derartige Fahrten Werbungskosten sein können (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 10. November 1978 VI R 240/74, BFHE 126, 522, BStBl II 1979, 224).

Der Umstand, daß das FA die Fahrtkosten bei der Entscheidung über den Lohnsteuer-Jahresausgleich wegen der damaligen höchstrichterlichen Rechtsprechung (BFH-Urteile vom 17. Dezember 1971 VI R 315/70, BFHE 104, 212, BStBl II 1972, 245, und vom 15. November 1974 VI R 195/72, BFHE 114, 340, BStBl II 1975, 278) nicht hätte berücksichtigen können, ändert daran nichts.

a) Nach dem Wortlaut des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 ist zu berichtigen, wenn nachträglich bekanntgewordene Tatsachen zu einer niedrigeren Steuer führen. Das ist der Fall, wenn nach der bei Prüfung der Berichtigungsvoraussetzungen maßgebenden Rechtslage eine niedrigere Steuer festzusetzen ist. Darauf, wie das FA bei ursprünglicher Kenntnis entschieden hätte, stellt das Gesetz nicht ab. Insbesondere ist dem Wortlaut nicht zu entnehmen, daß eine Berichtigung ausgeschlossen ist, wenn das Bekanntwerden neuer Tatsachen durch eine geänderte Rechtsprechung ausgelöst worden ist. Es genügt vielmehr, daß der nunmehr unterbreitete Sachverhalt eine niedrigere Steuer zur Folge hat.

Ungeachtet dessen, daß das Gesetz eine auf den Zeitpunkt der ursprünglichen Entscheidung des FA vorzunehmende fiktive Erheblichkeitsprüfung nicht fordert, wäre diese auch schwierig durchzuführen und würde weitere Rechtsfragen aufwerfen: Selbst bei vermeintlicher eindeutiger Rechtslage könnte im steuerlichen Massenverfahren nicht ausgeschlossen werden, daß der zuständige Sachbearbeiter eine Tatsache übersehen oder in ihrer Bedeutung verkannt haben könnte bzw. daß ihm die Rechtsprechung oder eine Verwaltungsanweisung nicht geläufig gewesen sein könnte. Sodann wäre zu klären, ob auf die Kenntnisse und Fähigkeiten des zur Entscheidung berufenen oder eines durchschnittlichen Sachbearbeiters abzustellen wäre, wie bei uneinheitlichen Verwaltungserlassen bzw. uneinheitlicher Verwaltungspraxis zu verfahren und welche Bedeutung den einer Verwaltungsanweisung entgegenstehenden beachtlichen Gründen beizumessen wäre. Eine Auslegung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 unter Einbeziehung einer fiktiven Erheblichkeitsprüfung führte deshalb - zumal konkrete Tatbestandsmerkmale zur Bestimmung der Grenzen der Erheblichkeitsprüfung nicht herangezogen werden können - nicht zu einfachen und voraussehbaren Entscheidungen und diente insofern weder der Rechtssicherheit noch den Erfordernissen einfacher Verwaltungshandhabung.

b) Der durch den Wortlaut des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 vorgegebene Anwendungsbereich bedarf nach Sinn und Zweck der Vorschrift keiner Einschränkung.

§ 173 AO 1977 bezweckt einen sachgerechten Ausgleich des Widerstreits zwischen materieller Richtigkeit und der Sicherheit, auf das Bestehenbleiben einer einmal getroffenen Entscheidung vertrauen zu können. Dieser Konflikt wird bis zum Eintritt der Verjährung zunächst danach gelöst, welcher Sachverhalt dem FA bei seiner Entscheidung unterbreitet war, und sodann, welcher Seite das Bekanntwerden neuer Tatsachen anzulasten ist. Dementsprechend muß, soweit nachträglich bekanntgewordene Tatsachen zu einer höheren oder niedrigeren Steuer führen, eine Berichtigung erfolgen, es sei denn, die neuen Tatsachen bleiben unberücksichtigt, weil nach den im einzelnen geregelten gesetzlichen Voraussetzungen davon auszugehen war, daß die Tatsachen von der Seite, der sie günstig sind, bereits früher hätten eingeführt werden müssen.

Das Gesetz räumt, soweit nachträglich bekanntgewordene Tatsachen zu einer abweichenden Steuer führen, bis zum Eintritt der Verjährung prinzipiell der materiell-rechtlich richtigen und erst nach diesem Zeitpunkt der bestandskräftig festgesetzten Steuer Vorrang ein. Diesem Gesetzeszweck folgend, ist im Rahmen der Erheblichkeitsprüfung lediglich entscheidend, ob die neuen Tatsachen nunmehr zu einer abweichenden Steuer führen und nicht, ob sie ehemals zu einer solchen geführt hätten.

c) Dieses Ergebnis folgt auch aus folgenden Erwägungen.

§ 173 AO 1977 ist mittelbar zu entnehmen, daß das Risiko der fehlerhaften Beurteilung eines bekannten Sachverhalts in einem bestandskräftigen Bescheid, sofern nicht Sondervorschriften eingreifen, derjenige trägt, für den diese Beurteilung nachteilig ist. Da ein ergangener Bescheid hinsichtlich nachträglich bekanntgewordener Tatsachen, falls diese nicht ausnahmsweise unberücksichtigt bleiben müssen, keine Bindung schafft, müssen bei Beurteilung dieser Tatsachen zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse verwertet werden. Daß das Gesetz hiervon ausgeht, zeigt der andernfalls überflüssige § 176 AO 1977 (s. insbesondere Abs. 1 Satz 1 Nr. 3), der zugunsten des Steuerpflichtigen vorschreibt, daß in bestimmten Fällen die bislang beachtete Rechtspraxis als maßgebend zugrunde zu legen ist.

Aus dem Grundsatz, daß für nachträglich bekanntgewordene Tatsachen die nach letzten Erkenntnissen materiell-rechtlich richtige Steuer festzusetzen ist, und aus dem Fehlen einer dem § 176 AO 1977 entsprechenden Vorschrift zu Lasten des Steuerpflichtigen folgt insbesondere, daß eine Rechtsprechungsänderung zugunsten des Steuerpflichtigen in einem Änderungsbescheid beachtet werden muß. Hiervon ist die Verwaltung zunächst selbst ausgegangen (Schreiben des Bundesministers der Finanzen - BMF - vom 15. Oktober 1980 IV A 7 - S 0351 - 12/80, Steuererlasse in Karteiform - StEK -, Abgabenordnung, § 173 Nr. 17; sowie des Bayerischen Staatsministeriums der Finanzen vom 16. Oktober 1981 38 - S 0351 - 7/5 - 56939, StEK, Abgabenordnung, § 173 Nr. 20; anders nunmehr Erlaß des Bayerischen Staatsministeriums der Finanzen vom 20. Juli 1982 38 - S 0351 - 7/30 - 43084, StEK, Abgabenordnung, § 173 Nr. 23) und hat folgerichtig eine Änderung des Gesetzes betrieben. Der diesbezügliche Referentenentwurf vom 15. Oktober 1982 sah allerdings nur ein - nicht deckungsgleiches - Gegenstück zu § 176 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 2 AO 1977 vor. Nach der derzeitigen Rechtslage sind dem Gesetz derartige Einschränkungen nicht zu entnehmen. Wie der von § 176 AO 1977 abweichende Regelungsinhalt des Referentenentwurfs zeigt, muß auch die Festlegung des Umfangs entsprechender Ausnahmevorschriften dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben.

d) Die Entstehungsgeschichte des Gesetzes führt zu keiner abweichenden Beurteilung.

Allerdings hat der BFH zur Rechtslage vor Inkrafttreten der AO 1977 eine Berichtigung zu Lasten des Steuerpflichtigen abgelehnt, wenn das FA bei Kenntnis des Sachverhalts mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht anders entschieden hätte (Urteil vom 13. April 1972 IV R 27/70, BFHE 105, 445, BStBl II 1972, 648). Diese die Berichtigungsbefugnis des FA in Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben einschränkende Auslegung (BFH-Urteil vom 6. November 1973 VIII R 12/71, BFHE 110, 552, BStBl II 1974, 67) wurde bei der Berichtigungsverpflichtung zugunsten des Steuerpflichtigen nicht vorgenommen. Es wurde nämlich bei Prüfung der mutmaßlichen Entscheidung als selbstverständlich vorausgesetzt, daß das FA das Recht schon damals - auch unter Einbeziehung neuer Erkenntnisse - richtig angewendet haben würde (BFH-Urteil vom 6. September 1962 V 166/59 U, BFHE 75, 623, BStBl III 1962, 494; vgl. auch Urteil vom 12. Oktober 1971 VIII R 32/68, BFHE 104, 24, BStBl II 1972, 201).

Es kann dahinstehen, ob es entsprechend den im Urteil in BFHE 105, 445, BStBl II 1972, 648 zu § 222 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsabgabenordnung (AO) angestellten Überlegungen bei einer Berichtigung zu Lasten des Steuerpflichtigen einer einschränkenden Auslegung des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 bedarf, zumal die Berichtigung nicht mehr zu einer Gesamtaufrollung des Steuerfalles führt. Jedenfalls sind dem Gesetzgebungsverfahren keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, daß nunmehr auch eine Berichtigung zugunsten des Steuerpflichtigen davon abhängig gemacht werden soll, daß das FA bei anfänglicher Kenntnis der Tatsachen oder Beweismittel anders entschieden hätte.

e) Auch andere Einwendungen gegen das durch die vorstehende Auslegung gefundene Ergebnis greifen nicht durch.

Die Benachteiligung derjenigen Steuerpflichtigen, die Sachverhalte, die nach früherer Rechtsprechung unerheblich waren, gleichwohl dem FA unterbreitet haben und bei denen sich eine Rechtsprechungsänderung deswegen nicht zu ihren Gunsten auswirken kann, ist Folge davon, daß die Änderung eines Steuerbescheides an neue Tatsachen und nicht an neue Rechtserkenntnisse anknüpft. Abgesehen davon, daß eine unterschiedliche Besteuerung nach Änderung der Rechtsprechung auch auf anderen Umständen als dem Bekanntwerden neuer Tatsachen beruhen kann, z. B. darauf, daß zufälligerweise wegen einer anderen Rechtsfrage eine Rechtsstreit geführt worden war, oder daß sich die Steuerfestsetzung verzögert hatte, rechtfertigt die materiell unzutreffende Besteuerung gleicher Sachverhalte bei anderen Steuerpflichtigen nicht, denjenigen die richtige Besteuerung zu versagen, bei denen der Tatbestand des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 seinem Wortlaut nach erfüllt ist.

Auch das der Vorschrift des § 79 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) zugrunde liegende Prinzip kann nicht gegen die hier vertretene Auslegung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 herangezogen werden. Grundsätzlich führt nämlich die Änderung der höchstrichterlichen Finanzrechtsprechung ebenfalls nicht zu einer Durchbrechung der Bestandskraft. Nur dort, wo nachträglich bekanntgewordene Tatsachen eine Berichtigung zulassen, werden alle Rechtserkenntnisse, u. a. solche, die zu einer Änderung der Rechtsprechung geführt haben, berücksichtigt.

Ein Vergleich mit den Voraussetzungen, die eine Wiedereinsetzung wegen Versäumung einer Rechtsbehelfsfrist zulassen, ist schon deswegen nicht angebracht, weil die Wiedereinsetzung das Eintreten der Bestandskraft verhindert, während die Berichtigungsvorschriften im Rahmen ihrer tatbestandlichen Voraussetzungen die Bestandskraft durchbrechen. Dementsprechend wird bei gewährter Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - anders als bei der auf nachträglich bekanntgewordene Tatsachen beschränkten Änderungsbefugnis - eine umfassende Überprüfung des angefochtenen Bescheides in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht eröffnet.

Entgegen der Ansicht des FA ist eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 auch hinsichtlich solcher Steuern, die vor dem 1. Januar 1977 entstanden sind, nur bis zum Eintritt der Verjährung möglich (BFH-Urteile vom 3. Februar 1983 IV R 153/80, BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324, und vom 12. September 1985 VIII R 322/82, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des Bundesfinanzhofs - BFH/NV - 1986, 131).

2. Zu Frage 2

Den Kläger trifft kein grobes Verschulden daran, daß die zusätzlichen Fahrtkosten erst nachträglich bekanntgeworden sind, da derartige Aufwendungen nach der damaligen höchstrichterlichen Rechtsprechung (Urteile in BFHE 104, 212, BStBl II 1972, 245, und BFHE 114, 340, BStBl II 1975, 278) einkommensteuerrechtlich nicht berücksichtigt werden konnten.

a) Den Steuerpflichtigen trifft am nachträglichen Bekanntwerden von Tatsachen ein grobes Verschulden, wenn er die ihm zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt (Urteile in BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324; vom 28. Juni 1983 VIII R 37/81, BFHE 139, 8, BStBl II 1984, 2, und vom 29. Juni 1984 VI R 181/80, BFHE 141, 232, BStBl II 1984, 693). Danach ist grobes Verschulden nicht schon dann anzunehmen, wenn der Steuerpflichtige im Rahmen seiner Mitwirkung beim Zustandekommen des ursprünglichen Bescheides vom Vorhandensein bestimmter Tatsachen Kenntnis hatte und die Tatsachen gleichwohl nicht bekanntgegeben hat, sondern nur dann, wenn ihm daraus ein Vorwurf gemacht werden kann. Andernfalls käme eine Änderung bestandskräftiger Bescheide zugunsten des Steuerpflichtigen kaum noch in Betracht, und es würden vor allem steuerlich unerfahrene Steuerpflichtige benachteiligt, die aus Rechtsunkenntnis steuermindernde Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich geltend machen (BFH-Urteil vom 29. Juni 1984 VI R 34/82, BFHE 141, 234, BStBl II 1984, 694).

Wie oben unter II.1. zur Rechtserheblichkeit näher dargelegt wurde, zwingen weder der Wortlaut des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977, seine Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck dieser Vorschrift, noch rechtssystematische, verwaltungstechnische oder auf Billigkeitsüberlegungen beruhende Erwägungen zu einer restriktiven Auslegung. Aus denselben Gründen besteht keine Veranlassung, das Tatbestandsmerkmal des "groben Verschuldens am nachträglichen Bekanntwerden" auf ein davon abweichendes Tatbestandsmerkmal der "vorherigen Kenntnis der entscheidungserheblichen Tatsachen durch den Steuerpflichtigen" zu verkürzen.

b) Nach § 90 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 ist der Steuerpflichtige u. a. verpflichtet, die für die Besteuerung "erheblichen" Tatsachen anzugeben, wobei sich der Umfang der Verpflichtung nach den Umständen des Einzelfalles richtet (§ 90 Abs. 1 Satz 3 AO 1977; vgl. auch § 93 Abs. 1 Satz 1 sowie § 99 Abs. 1 Satz 1 und § 100 Abs. 1 Satz 1 AO 1977, jeweils a. E.). Es kann dahinstehen, in welchem Maße es danach dem Steuerpflichtigen obliegt, Tatsachen, die zu einer niedrigeren Steuer führen, dem FA auch dann zu unterbreiten, wenn er sie selbst nicht für erheblich hält. Jedenfalls ist § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 zu entnehmen, daß das nachträgliche Bekanntmachen von Tatsachen nicht schon im Falle jeglicher Obliegenheitsverletzung zum Ausschluß der Berichtigungsmöglichkeit führt, sondern nur dann, wenn der Steuerpflichtige die zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt.

Letzteres ist dann nicht der Fall, wenn er solche Tatsachen und Beweismittel nicht vorbringt, die nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung für nicht relevant zu halten sind (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl., § 173 AO 1977 Tz. 31; Klein/Orlopp, Abgabenordnung, 3. Aufl., § 173 Anm. 14 b; Frotscher in Schwarz, Kommentar zur Abgabenordnung, § 173 Anm. 13).

Etwas anderes mag gelten, wenn zu einem Fragenkomplex oder Teilaspekten gesicherte Rechtserkenntnisse noch nicht vorliegen.

Der Befürchtung, ein Steuerpflichtiger könnte ihm günstige Tatsachen, die nach der derzeitigen Rechtsprechung nicht zu berücksichtigen sind, bewußt in der Hoffnung zurückhalten, so ohne eigenes Prozeßrisiko in den Genuß einer etwaigen Rechtsprechungsänderung zu kommen, ist entgegenzuhalten, daß das FA eine abschließende Entscheidung durch Steuerfestsetzung unter Nachprüfungsvorbehalt (§ 164 AO 1977) offenhalten kann, während der Steuerpflichtige zur Durchsetzung einer abweichenden Rechtsauffassung den Rechtsweg beschreiten muß. Sofern der geschilderten Befürchtung reale Bedeutung überhaupt zukommt, führt das Zurückhalten von Tatsachen, die nach der Rechtsprechung unerheblich sind, weder zu nicht gerechtfertigten Vorteilen noch zu unzumutbarer Mehrbelastung für die Verwaltungsbehörden. Das FA muß einen unterbreiteten Sachverhalt - gleichgültig, ob er von Anfang an oder nachträglich bekanntgeworden ist - einmal auf seine steuerrechtliche Erheblichkeit untersuchen. Daß sich das FA nochmals mit einem durch bestandskräftigen Bescheid an sich abgeschlossenen Steuerabschnitt eines Steuerpflichtigen befassen muß, ist Folge der im Gesetz vorgesehenen Berichtigungsmöglichkeiten. Speziell im Falle der Rechtsprechungsänderung wird sich dabei die behördliche Mehrbelastung regelmäßig in erträglichen Grenzen halten, da die zu beurteilenden Rechtsfragen im allgemeinen geklärt sein werden. Ausdrücklich dahingestellt bleiben soll, ob § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 auch dazu dienen kann, mittels nachträglich bekanntgewordener Tatsachen, die nach der bisherigen Rechtsprechung unerheblich waren, eine Änderung der Rechtsprechung zu betreiben.

3. Zu Frage 3

Die Berücksichtigung der nachträglich bekanntgewordenen Fahrtkosten hat nicht deswegen zu unterbleiben, weil in den vom Kläger benutzten Antragsvordrucken auf Lohnsteuer-Jahresausgleich nach Heimfahrten unter dem Gesichtspunkt "Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte" (§ 9 Abs. 1 Nr. 4 des Einkommensteuergesetzes - EStG -) und "Mehraufwendungen für doppelte Haushaltsführung - Fahrtkosten für Heimfahrten -" (§ 9 Abs. 1 Nr. 5 EStG) ausdrücklich gefragt worden war.

Ob ein Beteiligter grob fahrlässig gehandelt hat, ist im wesentlichen Tatfrage. Revisionsrechtlich nachprüfbar ist hingegen, ob die aus dem Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit abzuleitenden Sorgfaltspflichten richtig erkannt worden sind. Nach der Rechtsprechung handelt jemand regelmäßig dann grob fahrlässig i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977, wenn er das Steuereklärungsformular nicht gewissenhaft durchliest und deshalb eine im Formular ausdrücklich gestellte, auf einen ganz bestimmten Vorgang bezogene Frage nicht beachtet (BFHE 141, 232, BStBl II 1984, 693).

Amtlich vorgeschriebene Vordrucke für Steuererklärungen dienen neben verwaltungstechnischen Erfordernissen der Ermittlung steuerlicher und außersteuerlicher (vgl. § 150 Abs. 5 AO 1977) Verhältnisse. Die im Vordruck enthaltenen Fragen nach steuerlichen Verhältnissen sind nicht erst deswegen zu beantworten, weil sie in den Vordruck aufgenommen worden sind, sondern weil der Beteiligte bei der Ermittlung des Sachverhaltes zur Mitwirkung verpflichtet ist. Durch die Einführung eines Vordrucks werden nicht zusätzliche steuerliche Auskunftspflichten begründet. Vielmehr hat der Beteiligte vorgegebenen Pflichten lediglich in der vorgeschriebenen Form zu entsprechen.

Deshalb erhöht sich die inhaltliche Mitwirkungspflicht nicht dadurch, daß im Vordruck eine Frage ausdrücklich gestellt worden ist. Allerdings wird ein Beteiligter durch die Aufnahme konkreter Fragen in den Vordruck augenfällig darauf hingewiesen, daß Veranlassung bestehen kann, sich hierzu zu äußern. Daher trifft einen Steuerpflichtigen am nachträglichen Bekanntwerden von Tatsachen auch regelmäßig der Vorwurf groben Verschuldens, wenn ihm die Erheblichkeit dieser Tatsachen verborgen geblieben ist, weil er sich nur oberflächlich mit dem Vordruck befaßt hatte.

Anders verhält es sich dagegen, wenn - wie im Streitfall - bestimmte Tatsachen nur deswegen nicht erklärt worden sind, weil sie nach der damaligen höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht erheblich waren. Der Umstand, daß der Kläger zu Fahrtkosten sowohl unter dem Gesichtspunkt der Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte als auch der Heimfahrten im Rahmen der doppelten Haushaltsführung tatsächlich Angaben gemacht hatte, zeigt, daß die nachträglich bekanntgewordenen Fahrten nicht auf einem flüchtigen und deshalb vorwerfbaren Ausfüllen des Erklärungsvordrucks beruhten, sondern darauf, daß der Kläger diese zusätzlichen Fahrten nicht für erheblich hielt. Da sich diese Auffassung mit der damaligen höchstrichterlichen Rechtsprechung deckte, kann dem Kläger wegen der insofern unterbliebenen Erklärung nicht der Vorwurf groben Verschuldens gemacht werden.

III.

Insbesondere die zu 1. vorgelegte Rechtsfrage wird von den FG und in der Literatur unterschiedlich beantwortet (vgl. einerseits Urteile des FG Berlin vom 22. Juli 1980 V 93/80, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1981, 269, und vom 12. November 1980 VI 14 u. 22/80, EFG 1981, 217; des FG Köln vom 14. Dezember 1983 XI 118-119/81 GE, EFG 1984, 363; des Hessischen FG vom 14. November 1984 10 K 107/84, EFG 1985, 154; des FG München vom 15. November 1985 I 321/82 E, EFG 1986, 156; Kühn/Kutter/Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., § 173 AO 1977 Anm. 2 c; Woerner/Grube, Die Aufhebung und Änderung von Steuerverwaltungsakten, 7. Aufl., S. 88; Buciek, Deutsche Steuer-Zeitung 1985, 580, und andererseits Urteile des Niedersächsischen FG vom 13. August 1985 VIII 277/82, EFG 1986, 155; des FG Köln vom 13. November 1985 XI 446/82 L, EFG 1986, 103; Tipke/Kruse, a. a. O., § 173 AO 1977 Tz. 13; Frotscher in Schwarz, a. a. O., § 173 Anm. 13; Huxol, Deutsches Steuerrecht - DStR - 1982, 220, 225; Beck, DStR 1984, 671). Die aufgeworfenen Fragen können in mehreren beim BFH anhängigen Verfahren (V R 30/81; IX R 24/85; I R 12/86) entscheidungserheblich sein. Im Hinblick auf die weitreichenden Folgen hält der vorlegende Senat eine Entscheidung des Großen Senats für angebracht. Die Vorlage wird auf § 11 Abs. 4 der Finanzgerichtsordnung (FGO), hilfsweise für den Fall einer nicht erkannten Divergenz auf § 11 Abs. 3 FGO gestützt.