| Home | Index | EStG | Neuzugang | Impressum  
       

 

 

 

 

 

 

BFH-Urteil vom 15.7.1986 (VII R 178/83) BStBl. 1986 II S. 735

Bei einem Mißbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des öffentlichen Rechts entstand die Steuer mit dem Inkrafttreten des § 42 AO 1977, wenn die mißbräuchliche Gestaltung bereits vor diesem Zeitpunkt bestand (Kraftfahrzeugsteuer für das Halten vor dem 1. Januar 1977 zugelassener "Berlin-Anhänger" - Anschluß an BFH-Urteil vom 13. August 1985 VII R 172/83, BFHE 144, 176, BStBl II 1985, 636).

AO 1977 § 42; StAnpG § 6 Abs. 1 und 2.

Vorinstanz: Niedersächsisches FG

Sachverhalt

I.

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), die ihren Sitz in Br hat, unterhielt in Berlin (West) eine unselbständige Zweigniederlassung, über die für sie in der Zeit von April 1975 bis September 1976 15 Kraftfahrzeug-Anhänger in Berlin zugelassen wurden. Die Anhänger wurden von Br nach Berlin gezogen und dort regelmäßig zum Ent- bzw. Beladen auf dem Betriebsgelände der Kunden der Klägerin abgestellt. Die Klägerin verfügte in dem maßgebenden Zeitraum über keine eigenen Abstellplätze in Berlin. Der Einsatz der Anhänger - ausschließlich, mindestens überwiegend zur Warenbeförderung zwischen Br und Berlin - wurde von der Geschäftsleitung in Br bestimmt. Dort wurden die Anhänger auch gewartet und hatten sie ihre Abstellplätze. Kraftfahrzeugsteuer wurde aufgrund von Sondervorschriften des Berliner Landesrechts zunächst nicht, dann aber, für die Zeit von der jeweiligen Zulassung bis zu verschiedenen Zeitpunkten Ende 1976/Anfang 1977, gegen die Klägerin durch Bescheide des Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) festgesetzt.

Einspruch und Anfechtungsklage blieben erfolglos. Das Finanzgericht (FG) entschied, Steuerbefreiung nach Berliner Landesrecht bestehe nur für in Berlin zugelassene Anhänger mit regelmäßigem Standort in Berlin. Die Anhänger der Klägerin seien indessen ausschließlich in Br stationiert gewesen. Auf den Mangel der örtlichen Zuständigkeit des FA könne die Klägerin sich nicht berufen.

Mit der Revision trägt die Klägerin vor, der überwiegende bzw. ausschließliche Einsatz der Anhänger im Verkehr von und nach Berlin sei das entscheidende Kriterium für die Inanspruchnahme der Kraftfahrzeugsteuerbefreiung. Überdies habe sie - die Klägerin - einen Standort in Berlin vorgehalten. Ein "Ruhen" der Fahrzeuge habe es wegen deren ständigen Einsatzes nicht gegeben.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und der angefochtenen Steuerbescheide, soweit durch diese Kraftfahrzeugsteuer für Zeiträume bis zum 31. Dezember 1976 festgesetzt worden ist (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -), im übrigen zur Zurückverweisung der Sache an das FG.

1. Wie der Senat entschieden hat (Urteil vom 13. August 1985 VII R 172/83, BFHE 144, 176, 179, BStBl II 1985, 636, 638), war nach dem bis zum 30. April 1978 geltenden Berliner Landesrecht das Halten in Berlin (West) zugelassener Kraftfahrzeuganhänger schlechthin, ohne Rücksicht auf ihren tatsächlichen Standort, von der Kraftfahrzeugsteuer befreit. Allerdings entstand gegen den Zulassungsinhaber ein Kraftfahrzeugsteueranspruch nach § 42 der Abgabenordnung (AO 1977) i. V. m. den kraftfahrzeugsteuerrechtlichen Vorschriften, wenn die zur Steuerbefreiung führende "Berlin-Zulassung" rechtsmißbräuchlich, nämlich unter unrichtiger Angabe von Berlin als voraussichtlichem regelmäßigen Standort, erwirkt wurde, dann mit der Folge der örtlichen Zuständigkeit der Finanzbehörde, in deren Bezirk das Fahrzeug bei Beachtung der verkehrsrechtlichen Vorschriften zuzulassen gewesen wäre (BFHE 144, 176, 181, 184, BStBl II 1985, 636, 639, 641). Die vom FG getroffenen Feststellungen, die nicht mit Verfahrensrügen angegriffen, mithin für den Senat verbindlich sind (§ 118 Abs. 2 FGO), rechtfertigen die Folgerung, daß sich der regelmäßige Standort der Anhänger, der "Schwerpunkt der Ruhevorgänge" (vgl. Jagusch-Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 28. Aufl., 1985, § 23 StVZO Rz. 16) - Abstellplätze und Wartung - nicht in Berlin, sondern in Br, im Bezirk des FA, befunden hatte. Daraus ergibt sich, daß die Klägerin im Zusammenhang mit den bei der Zulassungsstelle in Berlin gestellten Anträgen auf (Erst-)Zuteilung amtlicher Kennzeichen bzw. mit den dort gestellten Anträgen auf Ausstellung neuer Fahrzeugpapiere unrichtige Angaben über den regelmäßigen Standort der Fahrzeuge gemacht und damit gegen § 23 Abs. 1 Nr. 1, § 27 Abs. 4 Satz 1, Abs. 2 der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung verstoßen hat. Dieser Gestaltungsmißbrauch begründete indessen für die Zeiträume bis zum 31. Dezember 1976 keine Kraftfahrzeugsteuerpflicht der Klägerin, weil nach dem damals maßgebenden Recht (§ 6 Abs. 1 und 2 des Steueranpassungsgesetzes) nur der Mißbrauch von Formen und Gestaltungsmöglichkeiten des bürgerlichen Rechts steuerrechtlich erheblich war, ein Mißbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des öffentlichen Rechts, wie er hier vorliegt, dagegen noch nicht dazu führte, daß die Steuer so wie bei einer den wirtschaftlichen Vorgängen angemessenen Gestaltung entstand. Zur näheren Begründung verweist der Senat auf sein Urteil vom 18. Februar 1986 VII R 98/85 (BFHE 146, 279, BStBl II 1986, 571).

2. Anders verhält es sich für die Zeit ab Inkrafttreten der AO 1977 mit ihrem § 42, der auch den Mißbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des öffentlichen Rechts umfaßt (BFHE 144, 176, 182, BStBl II 1985, 636, 640). Insoweit ist der Steuertatbestand (für Besteuerungszeiträume ab 1. Januar 1977) erfüllt, denn der regelmäßige Standort der Fahrzeuge lag nicht in Berlin, sondern in Br, wo ihre Zulassung hätte betrieben werden müssen. Ihr Einsatz im Berlin-Verkehr war weder erforderlich noch ausreichend, um eine Kraftfahrzeugsteuerfreiheit nach dem früher geltenden Berliner Landesrecht zu rechtfertigen.

Liegt ein Mißbrauch vor - hier in der Form der in Berlin gestellten Zulassungsanträge (Erstzulassungen und weitere Zulassungen) -, so entsteht der Steueranspruch wie bei einer den wirtschaftlichen Vorgängen angemessenen rechtlichen Gestaltung (§ 42 Satz 2 AO 1977). § 42 AO 1977 fordert nicht, daß von einer Gestaltungsmöglichkeit vom 1. Januar 1977 an Gebrauch gemacht wird, sondern läßt das "Vorliegen" eines schon früher verwirklichten Gestaltungsmißbrauchs genügen, auch wenn dieser im Zeitpunkt seiner Vornahme - im Streitfalle in der Zeit von April 1975 bis September 1976 - noch nicht steuerlich erheblich war. Der hypothetischen angemessenen Gestaltung, nach der sich der entstandene Steueranspruch bestimmt, steht - nur - eine rechtsmißbräuchliche Gestaltung gegenüber, ohne daß es darauf ankäme, zu welchem Zeitpunkt - nach Inkrafttreten der Abgabenordnung am 1. Januar 1977 (§ 415 Abs. 1 AO 1977) oder davor - diese getroffen worden ist. Ob das Gesetz, soweit es den Steueranspruch angeknüpft an das bloße "Vorliegen" eines Mißbrauchs entstehen läßt, der durch Ausnutzung einer Gestaltungsmöglichkeit vor dem 1. Januar 1977 herbeigeführt worden ist, als rückbezogen anzusehen ist, bedarf keiner Entscheidung. Denn selbst wenn von dieser Annahme auszugehen wäre, würde es sich um eine bloße unechte, auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte oder Rechtsbeziehungen - hier: die von der Zulassung an für unbestimmte Zeit dauernde Steuerpflicht nach § 5 Nr. 1 des Kraftfahrzeugsteuergesetzes (KraftStG) 1972 - für die Zukunft einwirkende Rückbeziehung handeln. Eine derartige Rückwirkung auch von Steuergesetzen ist grundsätzlich zulässig (vgl. Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Kommentar, 6. Aufl., Art. 20 Anm. 46, mit Rechtsprechungsnachweisen). Die Grenzen einer zulässigen unechten Rückwirkung sind jedenfalls dann nicht überschritten, wenn das Vertrauen auf eine bestehende günstige Rechtslage, auf bestimmte steuerliche Vergünstigungen, sachlich nicht gerechtfertigt ist (Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Juli 1964 2 BvL 22 u. 23/63, BVerfGE 18, 135, 144, BStBl I 1964, 539). Sollte die Klägerin auf den Fortbestand der von ihr erreichten Steuerbefreiung vertraut haben, so wäre dieses Vertrauen auf den Fortbestand der Steuerfreiheit nicht anzuerkennen, weil die Klägerin diese nur durch mißbräuchliche Gestaltung erreicht hat.

Das Ergebnis - Steuerpflicht ab 1. Januar 1977 -, zu dem der Senat gelangt, entspricht auch dem Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Denn es wäre nicht einzusehen, daß die Steuerpflicht unter den gleichen Voraussetzungen zwar bei Stellen des Zulassungsantrags in Berlin ab 1. Januar 1977 beginnt, sie dagegen für die Zeit von diesem Tage an nicht im Falle früherer Antragstellung einträte.

3. Hiernach waren außer der Vorentscheidung alle angefochtenen Bescheide aufzuheben, die sich nur auf Besteuerungszeiträume bis zum 31. Dezember 1976 erstrecken. Die übrigen angegriffenen Bescheide, die sich auch auf Besteuerungszeiträume ab 1. Januar 1977 erstrecken, sind insoweit rechtswidrig, als die darin festgesetzte Kraftfahrzeugsteuer auf Zeiträume vor dem 1. Januar 1977 entfällt.