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BFH-Urteil vom 11.7.1986 (VI R 105/83) BStBl. 1986 II S. 775

Hebt das FA im Einspruchsverfahren einen angefochtenen Bescheid über Rückforderung von Arbeitnehmer-Sparzulagen wegen Nichtigkeit nach § 125 Abs. 1 AO 1977 auf und erklärt den Einspruch für erledigt, so ist es in der Regel nicht gehindert, diesen Rückforderungsanspruch durch Erlaß eines neuen Bescheids geltend zu machen, ohne daß die Voraussetzungen der §§ 172 ff. AO 1977 erfüllt sein müssen.

AO 1977 § 125 Abs. 1, §§ 172 ff.

Vorinstanz: FG Nürnberg

Sachverhalt

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) hatte in den Jahren 1973 und 1974 mit der Landesbausparkasse X drei Bausparverträge abgeschlossen und hierfür in den Jahren 1973 bis 1976 jeweils Arbeitnehmer-Sparzulagen erhalten. Am 30. Juni 1977 schloß er mit der Bausparkasse Y einen weiteren Bausparvertrag ab. Die Sparguthaben aus den Verträgen mit der Landesbausparkasse X wurden im Januar 1978 auf Veranlassung des Klägers auf sein Bausparkonto bei der Bausparkasse Y überwiesen. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) sah in dieser Überweisung eine schädliche Verfügung i. S. des § 13 Abs. 4 Buchst. b des Dritten Vermögensbildungsgesetzes (3. VermBG). Das FA forderte daher mit Bescheid vom 3. Februar 1978 die für die Jahre 1973 bis 1976 gewährten Arbeitnehmer-Sparzulagen zurück. In dem Bescheid waren die zurückzuzahlenden Arbeitnehmer-Sparzulagen 1973 bis 1976 mit einem Gesamtbetrag ausgewiesen.

Gegen diesen Rückforderungsbescheid erhob der Kläger Einspruch mit der Begründung, die Überweisung der Bausparguthaben sei nicht schädlich gewesen. Mit Bescheid vom 26. Juni 1978 teilte das FA dem Kläger mit, daß der o. a. Rückforderungsbescheid nach § 125 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) nichtig sei und aufgehoben werde. Damit sei sein Einspruch erledigt.

Später wurden mit Einzelbescheiden vom 7. August 1978 die Arbeitnehmer-Sparzulagen der Kalenderjahre 1973 bis 1976 erneut zurückgefordert. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt. Es führte aus:

Bei Rückforderungs-Sammelbescheiden müßten die auf die einzelnen Kalenderjahre entfallenden Arbeitnehmer-Sparzulagen betragsmäßig gesondert ausgewiesen sein. Diesen Anforderungen habe der ursprüngliche Rückforderungsbescheid vom 3. Februar 1978 nicht entsprochen. Wegen Verstoßes gegen den Bestimmtheitsgrundsatz i. S. des § 119 Abs. 1 i. V. m. § 157 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 sei der Bescheid vom 3. Februar 1978 fehlerhaft, nicht aber - wie das FA meint - nichtig und gemäß § 124 Abs. 3 AO 1977 von Anfang an unwirksam gewesen. Durch den Bescheid vom 26. Juni 1978 sei demnach nicht der Rechtsschein eines nach § 125 Abs. 1 AO 1977 nichtigen Bescheids beseitigt, sondern ein wirksamer Bescheid aufgehoben worden. Durch den Hinweis des FA, damit seien die Einsprüche erledigt, habe die Behörde zum Ausdruck gebracht, daß der Abhilfebescheid dem Einspruchsbegehren nach § 172 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AO 1977 voll entsprochen habe. Da dieser Bescheid bestandskräftig geworden sei, hätte er durch die angefochtenen Rückforderungsbescheide vom 7. August 1978 nur aufgehoben werden können, wenn ein Berichtigungstatbestand nach §§ 172 ff. AO 1977 vorgelegen hätte. Das sei nicht der Fall. Die Rückforderungsbescheide vom 7. August 1978 seien mithin aus verfahrensrechtlichen Gründen aufzuheben, ohne daß es darauf ankomme, ob die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die Rückforderung der Arbeitnehmer-Sparzulagen erfüllt seien.

Gegen diese Entscheidung hat das FA Revision eingelegt. Es ist der Ansicht, die Vorentscheidung verletze § 172 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a, § 125 Abs. 1, § 119 Abs. 1, § 157 Abs. 1 AO 1977, § 13 Abs. 3 3. VermBG und § 76 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO).

Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG. Denn das FG hat dem bestandskräftig gewordenen Abhilfebescheid vom 26. Juni 1978 zu Unrecht die Bedeutung beigelegt, daß das FA durch ihn auf die Rückforderung zu Unrecht gewährter Arbeitnehmer-Sparzulagen für die Jahre 1973 bis 1976 verzichtet habe.

Es kann im Streitfall dahingestellt bleiben, ob im Bescheid über die Rückforderung von Arbeitnehmer-Sparzulagen für mehrere Kalenderjahre die zurückgeforderten Beträge auf die einzelnen Jahre aufzugliedern sind, und ob ein Bescheid, in dem Rückforderungsbeträge für mehrere Jahre in einem Gesamtbetrag ausgewiesen sind, nichtig oder nur anfechtbar ist. Denn in jedem Fall kann in dem Aufhebungsbescheid des FA vom 26. Juni 1978 kein Verzicht des FA auf erneute Geltendmachung des Anspruchs auf Rückforderung der Arbeitnehmer-Sparzulagen für die Jahre 1973 bis 1976 erblickt werden.

Wie jeder Verwaltungsakt, so ist auch der Abhilfebescheid des FA vom 26. Juni 1978 nach seinem Sinn und Zweck auszulegen. Dabei sind alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen.

Im vorgenannten Bescheid hatte das FA erklärt, der Rückforderungsbescheid vom 3. Februar 1978 sei nichtig und werde daher aufgehoben. Es hatte allerdings nicht angegeben, aus welchen Gründen es den Rückforderungsbescheid für nichtig hält und aufhebt. Seine Vorstellungen waren auch aus dem vorangegangenen Schriftwechsel nicht erkennbar. Denn die Beteiligten hatten sich nur darüber gestritten, ob die Übertragung der Guthaben der drei Bausparverträge von der Landesbausparkasse X auf den neu abgeschlossenen Bausparvertrag bei der Bausparkasse Y für die gewährten Arbeitnehmer-Sparzulagen schädlich gewesen sei.

Der Kläger konnte jedoch den Bescheid vom 26. Juni 1978 trotz mangelnder Angabe der Nichtigkeitsgründe nicht dahin verstehen, daß das FA sich nunmehr seinen materiell-rechtlichen Einwendungen angeschlossen habe. Dann hätte das FA den Rückforderungsbescheid vom 3. Februar 1978 nämlich nicht wegen Nichtigkeit, sondern wegen Rechtswidrigkeit aufheben müssen. Da das FA seinen Abhilfebescheid vom 26. Juni 1978 jedoch mit der Nichtigkeit des Bescheids vom 3. Februar 1978 nach § 125 Abs. 1 AO 1977 begründet hatte, mußte der Kläger davon ausgehen, daß das FA den Bescheid vom 3. Februar 1978 deshalb aufgehoben hat, weil es einen besonders schwerwiegenden Mangel angenommen hat. Denn nach § 125 Abs. 1 AO 1977 kann ein Verwaltungsakt nur nichtig sein, wenn es sich um einen Mangel handelt, der eine unerträgliche Rechtsverletzung darstellt und der mit der rechtsstaatlichen Ordnung schlechthin unvereinbar ist (vgl. auch die Ausführungen von Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl., § 125 AO 1977 Tz. 2 Abs. 1).

Daß das FA hier einen so schwerwiegenden Mangel angenommen hat und deshalb den Bescheid vom 3. Februar 1978 hat aufheben wollen, wird durch den Inhalt der finanzamtlichen Akten bestätigt. Hiernach hatte die Rechtsbehelfsstelle des FA den zuständigen Sachgebietsleiter mit Vorgang vom 28. April 1978 aufgefordert, den Einspruch gegen den Rückforderungsbescheid bezüglich der Arbeitnehmer-Sparzulagen 1973 bis 1976 nach § 125 Abs. 5 AO 1977 durch Aufhebung des Bescheids zu erledigen, da dieser wegen eines Verstoßes gegen den Bestimmtheitsgrundsatz des § 119 Abs. 1 AO 1977 (fehlende Aufteilung der zurückzufordernden Arbeitnehmer-Sparzulagen nach Jahren) gemäß § 125 Abs. 1 AO 1977 nichtig sei. Zugleich wurde von der Rechtsbehelfsstelle darauf hingewiesen, daß beim Erlaß neuer Bescheide § 8 der Durchführungsverordnung zum Dritten Vermögensbildungsgesetz zu beachten sei und die Arbeitnehmer-Sparzulagen in getrennten Bescheiden erneut zurückzufordern seien.

Das FA hatte im Änderungsbescheid vom 26. Juni 1978 hervorgehoben, durch die Aufhebung des Rückforderungsbescheids erledige sich der Einspruch des Klägers. Hieraus konnte dieser nicht entnehmen, daß das FA damit auf den Erlaß neuer Rückforderungsbescheide verzichtet hat oder hat verzichten wollen. Eine im Bescheid vom 26. Juni 1978 angenommene Nichtigkeit des Rückforderungsbescheids vom 3. Februar 1978 nach § 125 Abs. 1 AO 1977 schließt nicht die Möglichkeit aus, daß das FA neue Rückforderungsbescheide in einer Form erläßt, die (nach seiner Ansicht) nicht mehr gegen die rechtsstaatliche Ordnung verstoßen. Der Ausspruch im Bescheid vom 26. Juni 1978, der Einspruch des Klägers habe sich durch Aufhebung des angefochtenen Bescheids vom 3. Februar 1978 erledigt, besagt insoweit nichts Rechtsbegründendes, sondern etwas Selbstverständliches, nämlich daß ein eingelegtes Rechtsmittel keine Wirkung mehr entfalten kann, wenn der Bescheid, gegen den es sich richtet, aufgehoben wird. Da ein Beteiligter gegen neue Bescheide neue Rechtsmittel einlegen muß, kann sich die Erledigungserklärung mithin in der Regel nicht auf künftige Rechtsmittel gegen ggf. neu zu erlassende Bescheide beziehen.

Von gleichen Grundsätzen ist die Rechtsprechung auch bisher in Fällen ausgegangen, in denen das FA während eines Einspruchs- oder Klageverfahrens den angefochtenen Steuerbescheid wegen Rechtswidrigkeit aufhebt und den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt. Nach den Ausführungen z. B. des VIII. Senats des Bundesfinanzhofs (BFH) im Urteil vom 27. November 1984 VIII R 376/83 (Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des Bundesfinanzhofs - BFH/NV - 1985, 13) ist das FA zum Erlaß neuer Steuerbescheide bei Rücknahme der ursprünglichen Steuerbescheide lediglich dann nicht berechtigt, wenn in dieser Rücknahme ein Freistellungsbescheid i. S. des § 155 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 zu sehen ist oder wenn durch die Aufhebung der ursprünglichen Bescheide für die Klägerin ein Vertrauensschutz entstanden ist, der dem Erlaß der neuen Steuerbescheide entgegenstehen würde. Ein Freistellungsbescheid in diesem Sinne sei ein Bescheid, durch den das FA zum Ausdruck bringe, daß keine Steuer mehr geschuldet werde. Einen Vertrauensschutz, durch den das FA auch ohne Erlaß von Freistellungsbescheiden gehindert werde, neue Bescheide zu erlassen, hat der VIII. Senat nur angenommen, wenn man aus Umständen im Zusammenhang mit der Aufhebung der ursprünglichen Bescheide hätte schließen können, das FA werde für die Streitjahre keine Gewinne mehr feststellen bzw. festsetzen.

Entsprechend diesen Grundsätzen war das FA auch im Streitfall zum Erlaß neuer Rückforderungsbescheide berechtigt, ohne daß die Voraussetzungen zum Erlaß von Berichtigungsbescheiden nach §§ 172 ff. AO 1977 erfüllt sein mußten. Es hatte - wie ausgeführt - im Abhilfebescheid vom 26. Juni 1978 nicht zum Ausdruck gebracht, es werde auf eine Rückforderung von Arbeitnehmer-Sparzulagen für die Jahre 1973 bis 1976 verzichten. Aus den Umständen, die zur Aufhebung des ursprünglichen Rückforderungsbescheids vom 3. Februar 1978 geführt haben, konnte der Kläger auch keinen Verzicht des FA auf Rückforderung der Arbeitnehmer-Sparzulagen für die Jahre 1973 bis 1976 entnehmen.

Die Vorentscheidung ist aufzuheben, da das FG von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen ist. Die nicht entscheidungsreife Sache ist an das FG zurückzuverweisen. Das FG wird nunmehr die Frage prüfen müssen, ob das FA die Arbeitnehmer-Sparzulagen für die Jahre 1973 bis 1976 zu Recht von dem Kläger zurückgefordert hat.