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BFH-Urteil vom 10.9.1986 (II R 175/84) BStBl. 1986 II S. 908

1. Hebt das FG eine den Einspruch verwerfende Einspruchsentscheidung deshalb auf, weil das FA den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu Unrecht abgelehnt habe, so ist die Anfechtung dieser Entscheidung im Wege der Revision nicht ausgeschlossen.

2. Der erforderliche ursächliche Zusammenhang zwischen einer unterlassenen Anhörung und der Versäumung einer Einspruchsfrist besteht dann nicht, wenn die Versäumung der Einspruchsfrist darauf zurückzuführen ist, daß der Steuerpflichtige einen den Steuerbescheid enthaltenden Brief schuldhaft nicht öffnet und dies die Versäumung der Einspruchsfrist zur Folge hat.

FGO § 56; AO 1977 § 91 Abs. 1, § 126 Abs. 3.

Vorinstanz: FG Rheinland-Pfalz

Sachverhalt

Der Kläger kaufte durch notariell beurkundeten Vertrag vom 13. Mai 1982 ein Einfamilienhaus, das er zum damaligen Zeitpunkt bereits als Mieter bewohnte. In dem notariell beurkundeten Kaufvertrag hatte der Kläger erklärt, daß er Grunderwerbsteuervergünstigung gemäß § 1 des Gesetzes zur Grunderwerbsteuerbefreiung beim Erwerb von Einfamilienhäusern, Zweifamilienhäusern und Eigentumswohnungen (GrESt-EigWoG) vom 11. Juli 1977 geltend mache.

In den Steuerakten befindet sich ein Vermerk des beklagten Finanzamts (FA) vom 18. Juni 1982, wonach dem Kläger ein Vordruck "GrESt 46" mit Rückgabefrist 5. Juli 1982 übersandt worden sei. Ein weiterer Vermerk vom 13. September 1982 könnte die Anmahnung der Rückgabe des ausgefüllten Vordrucks beinhalten. Ein ausgefüllter Vordruck befindet sich jedoch nicht in den Steuerakten.

Das FA setzte durch Steuerbescheid vom 14. Juni 1983 gegen den Kläger Grunderwerbsteuer fest, ohne einen Freibetrag zu gewähren. Der Kläger legte erst am 29. September 1983 Einspruch ein und beantragte wegen der Versäumung der Einspruchsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Im einzelnen hat er vorgetragen:

Er habe noch am Tage der Verbriefung des Kaufvertrages einen ausgefüllten Antrag auf Steuervergünstigung einem Bediensteten des FA, der sich im Eingangsbereich des FA aufgehalten habe, zur Weiterleitung übergeben. Unter diesen Umständen sei er davon ausgegangen, daß er nicht zur Grunderwerbsteuer herangezogen werde.

Als er am 16. Juni 1983 unmittelbar vor Antritt seines Urlaubs ein Schreiben des FA erhalten habe, habe er nicht damit gerechnet, daß der Brief einen Steuerbescheid enthalten könne. Er habe den Brief deshalb ungeöffnet in seine Jackentasche gesteckt und sei zu seiner Mutter nach Österreich gefahren. Da er die Jacke während des Urlaubs nicht getragen habe und auch ohne diese Jacke nach Deutschland zurückgekehrt sei, habe er den Brief vergessen. Erst bei einem weiteren Besuch bei seiner Mutter vom 5. bis 19. September 1983 habe er die Jacke wieder abgeholt und den ungeöffneten Brief entdeckt, als er die Jacke zur Reinigung habe geben wollen.

Das FA verwarf den Einspruch unter Ablehnung des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand als unzulässig.

Mit seiner Klage hat der Kläger beantragt, ihm wegen der Versäumung der Einspruchsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren und den Grunderwerbsteuerbescheid aufzuheben.

Das Finanzgericht (FG) hat sowohl den Grunderwerbsteuerbescheid als auch die Einspruchsentscheidung aufgehoben.

In der Begründung des Urteils hat das FG die Auffassung vertreten, daß das FA dem Kläger wegen der Versäumung der Einspruchsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hätte gewähren müssen. Denn er sei unverschuldet an der Einhaltung dieser Frist verhindert gewesen. Dies folge aus § 126 Abs. 3 i. V. m. § 91 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977). Danach gelte die Versäumung einer Rechtsbehelfsfrist als nicht verschuldet, wenn vor Erlaß eines Verwaltungsaktes die erforderliche Anhörung unterblieben und dadurch die rechtzeitige Anfechtung des Verwaltungsaktes versäumt worden sei. Diese Voraussetzungen seien erfüllt. Das FA hätte dem Kläger vor Erlaß des Steuerbescheides eine weitere Gelegenheit zur Tatsachenäußerung geben müssen. Die Zusendung des Vordruckes und die Anmahnung der Rücksendung reichten unter den besonderen Umständen des Falles nicht aus. Es bestehe auch ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der unterlassenen Anhörung und der Versäumung der Einspruchsfrist. Denn der Kläger habe nicht mit dem Erlaß eines Steuerbescheides rechnen müssen. Es erscheine nach der Lebenserfahrung glaubhaft, daß der Kläger dem Brief des FA deshalb keine besondere Bedeutung beigemessen und den Brief deshalb ungeöffnet eingesteckt habe.

Das FA hat Revision eingelegt und beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen. Seiner Auffassung nach habe das FG die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Einspruchsfrist zu Unrecht gewährt.

Entscheidungsgründe

1. Die Revision ist zulässig. Denn das FA war berechtigt, die Entscheidung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand anzufechten.

Die Anfechtungsmöglichkeit wird nicht durch § 56 Abs. 5 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ausgeschlossen. Diese Vorschrift betrifft nur die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand durch das FG in den Fällen, in denen eine im finanzgerichtlichen Verfahren zu beachtende gesetzliche Frist versäumt wird.

Auch eine entsprechende Anwendung des § 56 Abs. 5 FGO auf die Fälle, in denen das FG eine Einspruchsentscheidung, durch die unter Ablehnung eines Wiedereinsetzungsantrags ein Einspruch als unzulässig verworfen wird, aufgehoben hat, kommt nicht in Betracht. Dieser Fall ist nicht mit dem in § 56 Abs. 5 FGO geregelten Fall vergleichbar. In den Fällen des § 56 FGO entscheidet das FG über einen bei ihm gestellten Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Im vorliegenden Fall jedoch hat es u. a. über die Anfechtung der den Wiedereinsetzungsantrag betreffenden Einspruchsentscheidung des FA und somit über die Rechtmäßigkeit der Einspruchsentscheidung entschieden. Es gibt keine Anhaltspunkte, daß es dem objektiven Willen des Gesetzes entspräche, auch in diesen Fällen die Entscheidung des FG als unanfechtbar zu behandeln.

Der Senat hat sich bei seiner Entscheidung auch davon leiten lassen, daß der Bundesfinanzhof (BFH) bisher in ständiger Rechtsprechung die Anfechtung einer der Klage stattgebenden Entscheidung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Einspruchsfrist im Revisionswege zugelassen hat (vgl. die Urteile vom 29. September 1977 VIII R 144/74, BFHE 123, 395, BStBl II 1978, 45, und vom 30. Januar 1981 III R 18/79, BFHE 132, 396, BStBl II 1981, 390).

2. Das FG hat zu Unrecht die Auffassung vertreten, daß wegen der Versäumung der Einspruchsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren sei. Der Senat läßt es offen, ob nach der Übersendung des amtlichen Vordruckes und der Anmahnung seiner Rückgabe noch ein weiterer Anhörungsversuch seitens des FA erforderlich gewesen wäre. Denn jedenfalls sind die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, wie sie § 126 Abs. 3 AO 1977 fordert, nicht sämtlich erfüllt. Die unterbliebene zusätzliche Anhörung des Klägers war nicht ursächlich (vgl. das BFH-Urteil vom 13. Dezember 1984 VIII R 19/81, BFHE 143, 106, BStBl II 1985, 601) für das Versäumen der Einspruchsfrist.

Der Kläger hat es an der erforderlichen Sorgfalt dadurch fehlen lassen, daß er nach seinem Vortrag den den Steuerbescheid des FA enthaltenden Brief ungeöffnet in die Jackentasche gesteckt hat. Auch wer keinen belastenden Verwaltungsakt erwartet, muß ein amtliches Schreiben zur Kenntnis nehmen. Hätte der Kläger den Brief geöffnet, wie es seine Pflicht gewesen wäre, so wäre es nicht zur Versäumung der Einspruchsfrist wegen der unterbliebenen Anhörung gekommen. Denn der Kläger hätte dem Steuerbescheid ohne weiteres entnehmen können, daß das FA ihn nicht von der Steuer freigestellt hat, wie er dies erwartete.

Ist für die Versäumung der Einspruchsfrist nicht die unterlassene zusätzliche Anhörung, sondern das schuldhafte Nichtöffnen des den Steuerbescheid enthaltenden Briefes ursächlich, so sind die Voraussetzungen des § 126 Abs. 3 AO 1977 nicht erfüllt.