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BFH-Urteil vom 2.10.1986 (IV R 39/83) BStBl. 1987 II S. 7

Die Gewährung oder Versagung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand durch die Finanzbehörde ist kein selbständig anfechtbarer Verwaltungsakt, sondern Bestandteil der Entscheidung über den Rechtsbehelf und daher vom FG uneingeschränkt überprüfbar.

AO 1977 § 110, § 358.

Vorinstanz: FG Köln

Sachverhalt

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute. Sie sind beide als Steuerberater tätig. Am 25. April 1977 sandte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) einen nach § 165 Abs. 2 Satz 2 der Abgabenordnung (AO 1977) endgültigen Einkommensteuerbescheid für das Jahr 1970 an die Kläger. Ihm lagen die Ergebnisse einer Außenprüfung zugrunde. Am 3. Juni 1977 ging beim FA ein Schreiben der Kläger vom 22. Mai 1977 ein, mit dem sie gegen den Einkommensteuerbescheid 1970, "zugestellt am 26. April 1977", Einspruch einlegten.

Mit Schreiben vom 23. September 1977 beantragten die Kläger "wegen des behaupteten Posteingangs des obigen Einspruchs - erst am 03.06.1977 -" Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 110 AO 1977.

Nach längerem Schriftwechsel über die Umstände, die zur Fristversäumung führten, wies das FA den Einspruch unter Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand als unbegründet zurück. In der Einspruchsentscheidung vom 17. März 1978 ist ausgeführt, das Einspruchsschreiben sei "infolge eines Büroversehens erst am 03.06.1977 beim FA" eingegangen.

Mit ihrer Klage begehrten die Kläger, den Einkommensteuerbescheid 1970 dahin abzuändern, daß bei den Einkünften aus selbständiger Arbeit ein Veräußerungsgewinn berücksichtigt und hierfür die Steuervergünstigung gemäß § 34 Abs. 1 und 2 i. V. m. § 18 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) 1970 gewährt wird.

Das Finanzgericht (FG) erhob auf Antrag der Kläger Beweis über die Art und Weise der Glaubhaftmachung der Wiedereinsetzungsgründe durch die Kläger durch Vernehmung des Rechtsbehelfsstellenleiters als Zeugen. Ferner wurde in der mündlichen Verhandlung der Kläger zu den Vorgängen, die für die Fristüberschreitung ursächlich waren, sowie zur Überwachung der Fristenkontrolle in seinem Büro einvernommen.

Das FG wies die Klage ab, weil das FA zu Unrecht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt habe. Die Kläger hätten im Verfahren über den Antrag auf Wiedereinsetzung nicht glaubhaft gemacht, daß die Einspruchsfrist durch ein von ihnen nicht zu vertretendes Versehen eines Büroangestellten versäumt worden sei.

Mit ihrer Revision rügen die Kläger unrichtige Anwendung des § 110 AO 1977. Die vom FA gewährte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unterliege nicht der Nachprüfbarkeit durch das FG. Zur Begründung ihrer Rechtsansicht zitieren sie die Ausführungen von Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler (Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 110 AO 1977 Anm. 158 bis 165) wörtlich und heben die für ihre Auffassung sprechenden Passagen der Kommentierung durch Unterstreichungen hervor.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet.

Zu Recht hat das FG die vom FA gewährte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand überprüft und sie versagt, weil die im Einspruchsverfahren vorgetragenen Wiedereinsetzungsgründe nicht ausreichend glaubhaft gemacht worden waren.

1. Nach ständiger BFH-Rechtsprechung zu § 86 der Reichsabgabenordnung (AO) war die Gewährung oder Versagung von "Nachsicht" kein selbständig anfechtbarer begünstigender oder belastender Verwaltungsakt, sondern eine Rechtsentscheidung in einem verwaltungsrechtlichen Zwischenverfahren, die von den Steuergerichten in vollem Umfang nachgeprüft werden kann (s. z. B. Urteile vom 23. November 1962 III 271/61 U, BFHE 76, 295, BStBl III 1963, 105; vom 17. Oktober 1972 VIII R 36-37/69, BFHE 108, 141, BStBl II 1973, 271; vom 29. September 1977 VIII R 144/74, BFHE 123, 395, BStBl II 1978, 45, 46, und vom 29. Juli 1981 I R 245/78, nicht veröffentlicht - nv -). Der BFH hat sich diese Rechtsauffassung auch für § 110 AO 1977, der insoweit gegenüber § 86 AO keine Unterschiede aufweist, zu eigen gemacht (Urteil vom 26. Januar 1982 VII R 34/81, nv); sie wird vom Schrifttum überwiegend geteilt (Koch, Abgabenordnung, 2. Aufl., § 110 Rdnrn. 74-76; Schwarz, Abgabenordnung, § 110 Anm. 16; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 110 AO 1977 Tz. 31; Ziemer/Haarmann/Lohse/Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen, Tz. 1961; Gräber, Finanzgerichtsordnung, § 56 Anm. 20; a. A. außer Hübschmann/Hepp/Spitaler, a. a. O., Kühn/Kutter/Hofmann, Abgabenordnung, 14. Aufl., § 110 Anm. 1, 6 f.). Auch der erkennende Senat sieht keine Veranlassung, von dieser gefestigten Rechtsprechung abzuweichen. Denn die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand oder ihre Versagung hängt mit der Entscheidung über die Frage, ob der Rechtsbehelf fristgerecht eingelegt wurde, untrennbar zusammen. Die rechtzeitige Rechtsbehelfseinlegung (§ 355 AO 1977) ist ihrerseits eine Zulässigkeitsvoraussetzung (Sachentscheidungsvoraussetzung) i. S. des § 358 Satz 1 AO 1977 und kann daher nur im Rahmen der Entscheidung über den Einspruch oder die Beschwerde bejaht oder verneint werden. Mit der Einspruchs- oder Beschwerdeentscheidung wird daher auch inzident über den Antrag auf Wiedereinsetzung entschieden. Die Gewährung oder Versagung der Wiedereinsetzung ist somit kein selbständig anfechtbarer Verwaltungsakt, der der Bestandskraft fähig wäre, sondern Bestandteil der Entscheidung über den in der Sache geltend gemachten Rechtsbehelf. Hieran ändert auch das Vorhandensein von Vorschriften über die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte (§ 44, § 130 II AO 1977, vorher § 96 AO) nichts, weil es sich bei der Gewährung von Wiedereinsetzung nicht um einen derartigen begünstigenden Verwaltungsakt handelt.

2. Das FG kam nach eingehender Beweisaufnahme zu dem revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden Ergebnis, daß die Kläger nicht hinreichend glaubhaft gemacht haben, sie träfe an der Versäumnis der Einspruchsfrist kein Verschulden. Insoweit haben die Kläger die Vorentscheidung auch nicht gerügt.