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BFH-Urteil vom 11.12.1986 (IV R 184/84) BStBl. 1987 II S. 303

1. Eine unvorhersehbare, aber nur zeitweilige Verhinderung ist kein Grund für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, wenn ihr Ende noch in den Lauf der Rechtsmittelfrist fällt, die Fristwahrung zu diesem Zeitpunkt noch möglich ist und der Beteiligte bei der verbleibenden Zeitspanne damit rechnen darf, daß die Rechtsmittelschrift den Empfänger noch rechtzeitig erreicht.

2. Ein im Klageverfahren gestellter Antrag nach § 68 FGO ändert an der Unzulässigkeit der Klage wegen Fristversäumnis nichts. In diesem Falle gilt der gegen den Änderungsbescheid eingelegte Einspruch nicht als zurückgenommen (Abgrenzung zum BFH-Urteil vom 8. Oktober 1985 VIII R 78/82, BFHE 145, 106, BStBl II 1986, 302).

FGO §§ 56, 68.

Vorinstanz: FG Rheinland-Pfalz

Sachverhalt

Die Einspruchsentscheidung des Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) wurde dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) am 22. Juli 1983 mit Empfangsbekenntnis zugestellt. Die Klageschrift vom 19. August 1983 (einem Freitag) ging am Dienstag, dem 23. August 1983, beim Finanzgericht (FG) ein. Sie wurde durch die Post als einfacher Brief befördert. Der Briefumschlag trägt den Stempel des Postamts Koblenz (K) vom 21. August 1983 - 14.00 Uhr - (einem Sonntag).

Der Kläger begründete seinen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand mit Schriftsatz vom 5. September 1983 wie folgt: Sein Prozeßbevollmächtigter habe am 19. August 1983 die Klage gefertigt und versandfertig gemacht. Abends habe er sie zur Bahnpost bringen wollen. Am späten Nachmittag sei er von einer Magen- und Darmkolik befallen worden. Davon habe er sich erst am folgenden Tage (Samstag) erholt und den Brief mit der beigeschlossenen Klageschrift nachmittags zur Bahnpost gebracht. Dort habe er den Brief in einen Briefkasten mit der Aufschrift "Ständige Leerung" geworfen. Der Prozeßbevollmächtigte habe eine Einzelpraxis und beschäftige keine Angestellten, die er mit der Briefaufgabe hätte betrauen können.

Das Postamt K teilte auf Anfrage des FG mit, aufgrund des Betriebsablaufs müsse der Brief erst entweder am Samstag, dem 20. August 1983, nach 20.00 Uhr oder am 21. August 1983, also am Sonntag, in den Briefkasten eingeworfen worden sein. Beim Einwurf noch am Nachmittag des 20. August 1983 würde er nämlich den Stempel vom 20. August 1983 erhalten haben. Der Betriebsablauf gestalte sich wie folgt: Ein in den Briefkasten mit der Aufschrift "Ständige Leerung" eingeworfener Brief gelange über ein durch Lichtschranken und Gewicht gesteuertes Förderband in die Briefabgangsstelle. Diese arbeite samstags bis 20.00 Uhr. Danach sei wegen der für das Postamt K maßgeblichen Postverbindungen bis Sonntag 12.30 Uhr Betriebsruhe.

In der mündlichen Verhandlung trug der Prozeßbevollmächtigte ergänzend vor, er sei nach wie vor der Meinung, den Brief am Samstagnachmittag eingeworfen zu haben; es könne aber auch am Abend erst gegen 20.00 Uhr gewesen sein. Sein Zeitgefühl könne ihn getäuscht haben.

Während des Klageverfahrens hatte das FA den Einkommensteuerbescheid 1980 zuungunsten des Klägers nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) geändert. Er legte dagegen Einspruch ein; außerdem stellte er in der mündlichen Verhandlung den Antrag, den geänderten Bescheid gemäß § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zum Gegenstand des Verfahrens zu machen.

Das FG wies die Klage als unbegründet ab. Der Kläger habe die Klagefrist nicht ohne Verschulden versäumt. Der Kläger habe die Tatsachen zur Rechtzeitigkeit des Briefeinwurfs nicht glaubhaft gemacht. Der Antrag nach § 68 FGO bleibe wirkungslos, weil die Klage unzulässig sei und deshalb der Klagegegenstand nicht mehr geändert werden könne.

Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung des § 56 FGO. Er beantragt, unter Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet mit der Maßgabe, daß die Klage wegen Versäumung der Klagefrist nach § 47 Abs. 1 FGO unzulässig war.

1. Da die Rechtsbehelfsfrist (Zustellung der Einspruchsentscheidung am 22. Juli 1983) am Montag, dem 22. August 1983 abgelaufen war und die Klage erst am 23. August 1983 beim FG einging, war sie verspätet. Das FG hat die begehrte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu Recht versagt. Der Kläger hat nicht glaubhaft gemacht, daß seinen Prozeßbevollmächtigten, dessen Verschulden ihm nach § 155 FGO i. V. m. § 85 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung (ZPO) zuzurechnen ist, an der Versäumung der Klagefrist kein Verschulden trifft.

a) Zutreffend hat das FG bei der Beurteilung, ob der Kläger ohne Verschulden verhindert war, die Klagefrist einzuhalten, entscheidend auf die Geschehnisse des Samstagnachmittags und -abends (20. August 1983) abgestellt. Denn nach der vom FG eingeholten Auskunft des Postamts K durfte der Prozeßbevollmächtigte ohne Verschulden davon ausgehen, daß ein bis abends 20.00 Uhr dieses Tages in den Bahnpostbriefkasten in K mit der Aufschrift "Ständige Leerung" eingeworfener Brief noch rechtzeitig das FG erreichen werde.

Nicht entscheidungserheblich ist demgegenüber der Umstand, daß der Prozeßbevollmächtigte, der sich bereits zur Klageerhebung entschlossen hatte, kurzfristig (für etwa einen Tag) daran gehindert war, den Brief mit der bereits ausgefertigten Klageschrift noch am Freitagnachmittag, dem 19. August 1983, oder am Samstagvormittag der Postbeförderung zu übergeben. Eine solche unvorhersehbare, aber nur zeitweilige Verhinderung ist unerheblich, wenn ihr Ende noch in den Lauf der Rechtsmittelfrist fällt, die Fristwahrung zu diesem Zeitpunkt noch möglich ist und der Beteiligte bei der verbleibenden Zeitspanne damit rechnen darf, daß die Rechtsmittelschrift den Empfänger noch rechtzeitig erreicht (vgl. Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 21. Mai 1986 6 CB 33/85, Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts 310, § 60 VwGO Nr. 150). Aufgrund der eigenen Angaben des Prozeßbevollmächtigten war sein Gesundheitszustand am Samstagnachmittag jedenfalls soweit wiederhergestellt, daß er seine Wohnung, in der sich auch seine Kanzleiräume befinden, verlassen und den Brief in den Bahnpostbriefkasten einwerfen konnte. Hätte er ihn nachweislich noch am Nachmittag oder frühen Abend dieses Tages eingeworfen, hätte er davon ausgehen dürfen, daß die Klage auch bei Beförderung mit einfachem Brief rechtzeitig beim FG eintreffen würde. Um die Einhaltung der Klagefrist sicherzustellen, konnte und mußte er die ihm verbleibende Zeitspanne ausnutzen. Auf seine vorherige Verhinderung kommt es daher für die Frage der Wiedereinsetzung nicht mehr an.

b) Der Kläger hat nicht gemäß § 56 Abs. 2 Satz 2 FGO glaubhaft machen können, daß sein Prozeßbevollmächtigter den Brief noch am Samstagnachmittag oder jedenfalls vor 20.00 Uhr eingeworfen hat. Seine ursprüngliche Einlassung im Schriftsatz vom 5. September 1983, er habe die Klageschrift "ursprünglich am Nachmittag des 20.8.... zur Bahnpost gebracht", ist durch die Auskunft der Bundespost als widerlegt anzusehen, da der Brief in diesem Falle wegen der automatischen Postverarbeitung den Poststempel vom 20. August 1983 erhalten hätte. Die ergänzende Einlassung des Prozeßbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung, er "denke", er könne den Brief "auch abends erst gegen 20.00 Uhr" eingeworfen haben, genügt nicht den Anforderungen einer Glaubhaftmachung nach § 155 FGO i. V. m. § 294 ZPO. Denn aus dieser Darlegung ergibt sich nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 10. Juli 1974 I R 223/70, BFHE 113, 209, BStBl II 1974, 736, und Beschluß des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 10. Dezember 1985 VI ZB 20/85, Versicherungsrecht - VersR - 1986, 463; weitere Nachweise bei Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozeßordnung, 44. Aufl., § 294 Anm. 1), daß der Brief bis 20.00 Uhr in den Bahnpostbriefkasten eingeworfen wurde. Eher ist in Anbetracht der durch die Stellungnahme der Post veränderten Einlassung des Klägers davon auszugehen, daß der Prozeßbevollmächtigte einen Briefeinwurf zu einem Zeitpunkt vor 20.00 Uhr nicht mit hinreichender Überzeugungskraft vortragen kann. Die Bedeutung der Uhrzeit (20.00 Uhr) für die Rechtzeitigkeit der Postbeförderung ist erst durch die Stellungnahme der Post bekanntgeworden. Wegen des drohenden Fristablaufs war dem Prozeßbevollmächtigten eine gesteigerte Sorgfaltspflicht auferlegt. Zwar darf der Bürger eine Rechtsbehelfsfrist bis zu ihrem Ende nutzen, muß dann aber eine Beförderungsart wählen, die den rechtzeitigen Zugang des Rechtsbehelfsschreibens gewährleistet (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 56 FGO Tz. 4, m. w. N.). Der Kläger hat, wie dargelegt, nicht glaubhaft machen können, daß sein Prozeßbevollmächtigter unter den gegebenen Umständen die erforderlichen Vorkehrungen getroffen hat.

2. Das FG war durch den vom Kläger zu Beginn des Klageverfahrens gestellten Antrag nach § 68 FGO nicht an seiner getroffenen Entscheidung gehindert.

Die Vorschrift des § 68 FGO stellt einen gesetzlichen Fall der Klageänderung dar (§ 67 Abs. 1 Halbsatz 2, § 123 Satz 2 FGO; Beschluß des Großen Senats vom 8. November 1971 GrS 9/70, BFHE 103, 549, 551, BStBl II 1972, 219, 220; Gräber, Finanzgerichtsordnung, § 68 Anm. 5). Mit dem Antrag nach § 68 FGO kann zwar ein Änderungsbescheid zum Gegenstand des Verfahrens gemacht werden; aber auch für die geänderte Klage bleibt maßgeblich, ob sie ursprünglich fristgerecht erhoben worden ist. Die Unzulässigkeit einer Klage wegen Fristversäumnis kann nicht durch einen Antrag nach § 68 FGO behoben werden (vgl. Urteil des FG München vom 27. März 1973 II 82/72, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1973, 391, bestätigt durch den nicht veröffentlichten BFH-Beschluß vom 27. Februar 1975 IV R 169/73; Gräber, a. a. O.; Tipke/Kruse, a. a. O., § 68 FGO Tz. 2 a. E.; vgl. auch Urteil des Oberverwaltungsgerichts - OVG - Münster vom 8. März 1966 II A 295/60, Deutsches Verwaltungsblatt - DVBl - 1967, 116; a. A. Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 68 FGO Anm. 9). Der Antrag nach § 68 FGO wirkt nicht auf diese prozessuale Situation des Klägers ändernd im Sinne von heilend ein, sondern soll vielmehr - die vorgegebene Prozeßlage nicht berührend - den Gegenstand der Klage ändern.

Die Entscheidungen des BFH vom 13. November 1973 VII R 32/71 (BFHE 111, 10, BStBl II 1974, 111) und vom 20. November 1973 VII R 33/71 (BFHE 111, 13, BStBl II 1974, 113) behandeln demgegenüber besonders gelagerte Fallgestaltungen. Nach Abweisung der Untätigkeitsklage als unzulässig hatte der Kläger dort nach form- und fristgerecht eingelegter Revision beantragt, den nach Revisionseinlegung ergangenen, zunächst mit der Untätigkeitsklage angestrebten (Änderungs-)Bescheid zum Gegenstand des Verfahrens zu machen. Um den Übergang von einer Untätigkeitsklage zur Anfechtungsklage noch in der Revisionsinstanz geht es im vorliegenden Rechtsstreit nicht.

Das FA wird nunmehr über den rechtzeitig eingelegten Einspruch gegen den Änderungsbescheid zu befinden haben, allerdings nur in den Grenzen des § 351 Abs. 1 AO 1977 (hierzu Tipke/Kruse, a. a. O., § 351 AO 1977 Tz. 9). Das BFH-Urteil vom 8. Oktober 1985 VIII R 78/82 (BFHE 145, 106, BStBl II 1986, 302), demzufolge ein Antrag nach § 68 FGO die Rücknahme des zuvor eingelegten Einspruchs beinhaltet, steht dem nicht entgegen. Diese Entscheidung geht von der unausgesprochenen Voraussetzung aus, daß der Antrag gemäß § 68 FGO überhaupt Wirkung entfalten kann, denn an der Zulässigkeit der gegen den ursprünglichen Steuerbescheid erhobenen Klage bestand im Urteilsfall kein Zweifel.