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BFH-Urteil vom 5.3.1987 (VII R 29/84) BStBl. 1987 II S. 413

Das HZA ist nicht befugt, zugunsten des Steuerpflichtigen Bescheide über Verbrauchsteuern zu ändern, für die die Festsetzungsfrist abgelaufen ist.

AO 1977 § 172 Abs. 1 Nr. 1, § 169 Abs. 1 Satz 1; AO § 146a Abs. 1.

Vorinstanz: FG Düsseldorf

Sachverhalt

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) führt seit 1968 laufend Vollbier belgischen Ursprungs ein. Zwischen ihr und dem Beklagten und Revisionsbeklagten (Hauptzollamt - HZA -) wurde streitig, welcher Biersteuersatz bei der Steuerfestsetzung zu berücksichtigen sei. Die Klägerin erhob deshalb Anfechtungsklage. Daraufhin berichtigte das ZA nach § 94 der Reichsabgabenordnung (AO) die Steuerfestsetzung für die Einfuhren vom 25. November 1968 bis 9. März 1976, soweit gegen die jeweiligen Steuerbescheide Einspruch eingelegt worden war. Dagegen lehnte es das ZA mit Bescheid vom 16. September 1976 ab, auch die 596 in der Zeit vom 2. Januar 1968 bis 6. Juli 1971 ergangenen und unanfechtbar gewordenen Steuerbescheide zu berichtigen. Gegen diese Ablehnung legte die Klägerin Einspruch ein, den das HZA mit Entscheidung vom 2. April 1979 zurückwies. Dagegen erhob die Klägerin Klage mit dem Antrag, unter Abänderung der Einspruchsentscheidung und der ihr zugrunde liegenden Steuerbescheide die Steuer anderweit auf den Betrag festzusetzen, der sich ergibt, wenn bei der Steuerfestsetzung ein Biersteuersatz von 12 DM/hl angewendet wird.

Das FG wies die Klage als unbegründet ab.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Das FG hat zu Recht entschieden, daß die Klägerin keinen Rechtsanspruch auf Berichtigung der in Frage stehenden Steuerbescheide hat.

Das FG ist ohne Rechtsirrtum davon ausgegangen, daß die Frage, ob der Klägerin der behauptete Rechtsanspruch auf Abänderung der streitbefangenen Steuerbescheide zusteht, aufgrund der Vorschriften der AO 1977 über die Änderung bestandskräftiger Bescheide zu entscheiden ist. Diese Vorschriften finden trotz des Umstandes Anwendung, daß die zu berichtigenden Bescheide vor Inkrafttreten der AO 1977 ergangen sind. Das ergibt sich aus Art. 97 § 9 EGAO 1977. Danach entscheidet sich die Frage, ob ein vor dem 1. Januar 1977 erlassener Steuerbescheid aufzuheben oder zu ändern ist, jedenfalls dann nach dem Recht der AO 1977, wenn wie hier die ablehnende Verwaltungsentscheidung nach dem genannten Stichtag liegt (vgl. auch Senatsurteil vom 27. Mai 1982 VII R 30/80, BFHE 136, 433, 435).

Nach § 172 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 können die HZÄ bestandskräftige Bescheide über Zölle oder Verbrauchsteuern auch zugunsten des Steuerpflichtigen ändern. Dies gilt aber nicht für Bescheide, für die die Festsetzungsfrist abgelaufen ist. Das besagt ausdrücklich § 169 Abs. 1 Satz 1 AO 1977. Diese Vorschrift gehört systematisch zu den Vorschriften der AO 1977 über die Festsetzungsverjährung, die im vorliegenden Fall nach Art. 97 § 10 EGAO 1977 nicht anwendbar sind (vgl. die Ausführungen im nächsten Absatz). Es kann unentschieden bleiben, ob § 169 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 hier dennoch anwendbar bleibt, weil er materiell-rechtlich eine Vorschrift über die Aufhebung oder Änderung von Verwaltungsakten ist (vgl. Art. 97 § 9 EGAO 1977). Denn jedenfalls galt bereits vor Inkrafttreten der AO 1977 nach allgemeiner Ansicht der ungeschriebene Grundsatz, daß verjährte Abgabenfestsetzungen nicht mehr geändert werden dürfen (vgl. BFH-Urteile vom 6. Februar 1958 V z 175/55 und vom 14. März 1962 VII 63/61, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Reichsabgabenordnung, § 94, Rechtsspruch 10 und 31, sowie vom 10. Dezember 1968 VII 157/65, BFHE 94, 315; Tipke/Kruse, Reichsabgabenordnung, Kommentar, 7. Aufl., § 94 AO Anm. 18; v. Wallis in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 1.-6. Aufl., § 94 AO Anm. 27 e).

Zu Recht hat das FG entschieden, daß im vorliegenden Fall die Festsetzungsfrist abgelaufen ist. Da die hier in Betracht kommenden Abgabenansprüche vor dem 1. Januar 1977 entstanden sind (vgl. § 6 a des Biersteuergesetzes - BierStG - in Verbindung mit den Vorschriften des Zollgesetzes - ZG -), gelten für die Entscheidung der Frage über den Ablauf der Festsetzungsfrist die Vorschriften der AO über die Verjährung weiter, soweit sie für die Festsetzung einer Steuer von Bedeutung sind (vgl. Art. 97 § 10 Abs. 1 EGAO 1977). Das sind die §§ 143 ff. AO. Nach § 144 Abs. 1 AO beträgt die Verjährungsfrist bei Verbrauchsteuern ein Jahr. Die Frist beginnt mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Anspruch entstanden ist (§ 145 Abs. 1 AO). Danach ist die Festsetzungsfrist für die hier streitbefangenen Steueransprüche, die zwischen dem 2. Januar 1968 und dem 6. Juli 1971 entstanden sind, spätestens am 31. Dezember 1972 abgelaufen. Denn der Ablauf der Verjährungsfrist (Festsetzungsfrist) ist weder gehemmt noch unterbrochen worden.

Eine Hemmung ist nicht durch eine Betriebsprüfung eingetreten (§ 146 a Abs. 3 AO). Das FG hat - für den Senat bindend (§ 118 Abs. 2 FGO) - festgestellt, daß vor Ablauf der Festsetzungsfrist Betriebsprüfungen nicht begonnen und ihr Beginn auch nicht hinausgeschoben worden ist. Die Revision hat dagegen keine Einwendungen erhoben.

Der Ablauf der Verjährungsfrist ist auch nicht gehemmt worden (§ 146 a Abs. 1 AO). Die streitbefangenen Steuerbescheide sind nicht angefochten worden. Das FG hat in der Vorentscheidung ausgeführt, es sei unbewiesen geblieben, ob die Klägerin tatsächlich - wie von ihr behauptet - Einspruch eingelegt habe. Das FG hat zu Recht die Unerweislichkeit der Anfechtung der Klägerin angelastet.

Die Klägerin beruft sich zu Unrecht darauf, sie habe eine große Anzahl anderer ähnlicher Steuerbescheide angefochten, die auch zu einer entsprechenden Berichtigung der Steuerforderungen durch das HZA geführt hätten. Dieser Umstand vermag nicht die Anfechtung der Bescheide zu ersetzen, die Gegenstand des vorliegenden Verfahrens sind. Der Rechtsbehelf gegen einen Steuerbescheid ist formgebunden, d. h. er muß schriftlich eingereicht oder zur Niederschrift erklärt werden (§ 238 Abs. 1 AO, § 357 Abs. 1 AO 1977). Das gilt auch dann, wenn die Steuerbescheide nur mündlich ergangen sind. Im Interesse der Rechtssicherheit und der prozessualen Klarheit soll die Nachprüfung eines Steuerbescheides im Rahmen eines Rechtsbehelfsverfahrens nur dann erfolgen, wenn Rechtsbehelfe des Steuerpflichtigen vorliegen, die so eindeutig sind, daß Mißverständnisse und Schwierigkeiten in der Auslegung ausgeschlossen sind (vgl. BFH-Urteil vom 10. Juli 1964 III 120/61 U, BFHE 80, 325, BStBl III 1964, 590).

Die allgemeinen Vorschriften der AO über das Rechtsbehelfsverfahren lassen keine Zweifel darüber offen, daß es auf die ausdrückliche Anfechtung jedes einzelnen in Betracht kommenden Steuerbescheides ankommt. Nach § 238 Abs. 3 AO (§ 357 Abs. 3 AO 1977) soll bei der Einlegung des Rechtsbehelfs der Verwaltungsakt bezeichnet werden, gegen den dieser gerichtet ist. Nach § 231 AO (§ 350 AO 1977) muß der Rechtsbehelfsführer geltend machen, durch einen bestimmten Verwaltungsakt oder dessen Unterlassung beschwert zu sein. Der formell richtigen Anfechtung kann also nicht die Wirkung einer Anfechtung sämtlicher Bescheide beigemessen werden, die zwar gleichartig, aber nicht unter Beachtung der genannten Förmlichkeiten angefochten worden sind.

Das ist nicht anders in Fällen wie dem vorliegenden, in denen laufend gleichartige Einfuhren durchgeführt und gleichartige Steuerbescheide erlassen worden sind. Auch die Einheitlichkeit dieses Lebensvorgangs ermöglicht nach den eindeutigen Vorschriften der AO über das Rechtsbehelfsverfahren dem Steuerpflichtigen nicht, mit der Anfechtung eines oder mehrerer der in einem solchen Rahmen erlassenen Steuerbescheide zu verhindern, daß die nicht angefochtenen Bescheide bestandskräftig werden. Ein Steuerbescheid wird nur dann nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist nicht bestandskräftig, wenn er als Einzelbescheid eindeutig schriftlich oder zur Niederschrift angefochten worden ist.

Diese Regelung muß entgegen der Auffassung der Klägerin nicht zu einer besonderen Belastung der FG führen, da die Verwaltung die Befugnis hat, während des Laufes eines Musterprozesses die übrigen betroffenen Verfahren ruhen zu lassen (§ 244 AO, § 363 Abs. 1 AO 1977). Die Regelung über das Rechtsbehelfsverfahren verstößt entgegen der Auffassung der Klägerin auch nicht deswegen gegen den Gleichheitssatz oder das gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbot, weil inländische Brauereien im Gegensatz zu Bierimporteuren es mit nur wenigen Steuerbescheiden zu tun haben. Die Vorschriften der AO über das Rechtsbehelfsverfahren behandeln inländische und ausländische Unternehmen gleich. Deren Lage ist hinsichtlich ihrer Möglichkeiten, ergangene Steuerbescheide anzufechten, nicht so ungleich, daß der Gesetzgeber willkürlich gehandelt hätte, indem er dafür unterschiedliche Regelungen nicht vorgesehen hat.

Der Hinweis der Revision darauf, daß die Einfuhren im Rahmen eines Sammelzollverfahrens mit vereinfachter Zollanmeldung und Sammelzollanmeldung durchgeführt worden sind, ist schon deswegen unbeachtlich, weil die Vorentscheidung eine entsprechende Feststellung nicht enthält und die Revision den Mangel dieser Feststellung mit Verfahrensrügen nicht angegriffen hat. Überdies beruht auch dieses Verfahren auf dem Abfertigungsprinzip, d. h. es entsteht die jeweilige Eingangsabgabenschuld mit der jeweiligen Abfertigung getrennt in jedem Einzelfall. Für die Einlegung von Rechtsbehelfen in solchen Fällen gibt es keine Sonderregelung. Der Umstand, daß der Klägerin durch die Behörde zugestanden worden ist, vollständige Zollanmeldungen erst nachträglich zusammengefaßt abzugeben, bedeutet also nicht, daß damit der Klägerin auch das - gesetzlich gar nicht vorgesehene - Recht zugestanden worden wäre, Einsprüche global einzulegen oder gar einzelne Steuerbescheide ohne einen auf diesen bezogenen Rechtsbehelf als im Sinne des § 146 a Abs. 1 AO angefochten zu betrachten.

Es kann dahingestellt bleiben, ob rechtspolitisch eine andere Regelung denkbar oder gar wünschbar wäre. Die Gerichte sind jedenfalls an das gegenwärtig geltende Recht gebunden (Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes - GG -). Auch die von der Klägerin in Anspruch genommene "wirtschaftliche Betrachtungsweise" ermöglicht es dem Senat nicht, die positive gesetzliche Regelung über die Einlegung von Rechtsbehelfen unangewendet zu lassen. Daran änderte sich auch dann nichts, wenn die Klägerin die Anfechtung der streitbefangenen Steuerbescheide nicht "aus Bequemlichkeit" unterlassen hätte, wie das FG offenbar für möglich hält, sondern, wie die Klägerin vorträgt, im Vertrauen darauf, es genüge die Anstrengung eines Rechtsbehelfsverfahrens in einem Musterfall, um den Eintritt der Bestandskraft auch aller parallelen Steuerbescheide zu verhindern. Auf den Grundsatz von Treu und Glauben kann sich die Klägerin nicht mit Erfolg berufen. Ihr Vertrauen beruhte auf einer unrichtigen Gesetzesauslegung, nicht aber auf einem nachhaltigen Verhalten des HZA.

Die Klägerin kann sich nicht mit Erfolg auf das Urteil des BFH vom 21. November 1968 VII 3/65 (BFHE 94, 306) berufen. Der Senat hat in diesem Urteil zu der im vorliegenden Verfahren zu entscheidenden Frage nicht Stellung genommen, ob das HZA nach § 94 Abs. 1 Nr. 1 AO bzw. § 172 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 zur Änderung von Bescheiden über Zölle oder Verbrauchsteuern nach Eintritt der Festsetzungsverjährung befugt ist. Den Gründen dieses Urteils kann auch nicht mittelbar entnommen werden, der Senat habe im Gegensatz zu seiner früheren oben zitierten Rechtsprechung die Ansicht vertreten, die Berichtigungsmöglichkeit des § 94 Abs. 1 Satz 1 AO werde vom Eintritt der Verjährung nicht berührt. Das gleiche gilt in bezug auf das Urteil des Senats vom 25. Februar 1986 VII R 14/83 (BFHE 146, 18). Dieses Urteil ist zwar bereits zu § 172 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 ergangen, ist aber ebenfalls auf die Frage der Berichtigung verjährter Steuerbescheide nicht eingegangen.

Dagegen hat der Senat mit Urteil vom 24. April 1979 VII R 82/75 (BFHE 127, 559) entschieden, daß in bestimmten Fällen das HZA die Berichtigung bestandskräftiger Zollbescheide auch dann nicht ablehnen kann, wenn die Abgabenansprüche im Zeitpunkt, zu dem der Berichtigungsantrag gestellt wird, bereits verjährt waren. Der Senat hat aber in diesem Urteil ausdrücklich klargestellt (BFHE 127, 565), daß er so nur mit Rücksicht auf den zu entscheidenden Einzelfall und die besondere Bindung durch eine verbindliche Zolltarifauskunft - die einem Grundlagenbescheid ähnlich sei - entschieden habe. Der vorliegende Sachverhalt ist damit nicht vergleichbar. Der Senat braucht daher nicht zu entscheiden, ob er an diesem Urteil festhalten würde.

Ob die streitbefangenen Steuerbescheide materiell richtig sind, ist ohne Bedeutung für die Entscheidung darüber, ob nach § 172 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 ein Rechtsanspruch auf Berichtigung besteht. Es kommt daher auch nicht darauf an, ob die Bescheide gegen nationales Recht oder gegen Gemeinschaftsrecht verstoßen. Ob mit Gemeinschaftsrecht materiell-rechtlich nicht vereinbare, aber bereits verjährte Steuerbescheide berichtigt werden können, ist eine Frage, die allein das nationale Recht regelt (Urteil des EuGH vom 16. Dezember 1976 Rs. 33/76, EuGHE 1976, 1989, 1997; vgl. auch Urteil des Senats vom 31. März 1981 VII R 1/79, BFHE 133, 13, 18).