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BFH-Urteil vom 31.3.1987 (VIII R 46/83) BStBl. 1987 II S. 588

Für die Berichtigung nach § 129 AO 1977 ist es nicht erforderlich, daß die offenbare Unrichtigkeit aus dem Bescheid erkennbar ist.

AO 1977 § 129, § 124.

Vorinstanz: FG Bremen

Sachverhalt

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist persönlich haftender Gesellschafter einer KG. Eine bei dieser Gesellschaft durchgeführte Betriebsprüfung führte zu einer Erhöhung der steuerlichen Gewinne. Aufgrund der entsprechenden Mitteilung über die geänderte gesonderte und einheitliche Feststellung der Einkünfte aus Gewerbebetrieb der KG änderte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) den Einkommensteuerbescheid des Klägers für 1977 gemäß § 175 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) mit Bescheid vom 10. September 1979. Der geänderte Einkommensteuerbescheid 1977 wies einen Verlustabzug gemäß § 10 d des Einkommensteuergesetzes (EStG) von 129.677 DM aus.

Nach der Bestandskraft des Bescheids vom 10. September 1979 stellte sich anläßlich der Durchführung der Einkommensteuerveranlagung 1978 heraus, daß dem zuständigen Beamten des FA bei der Berechnung des für 1977 verbleibenden Verlustabzugs ein Fehler unterlaufen war. Das FA erließ deshalb einen auf § 129 AO 1977 gestützten Berichtigungsbescheid für 1977, in dem der nach § 10 d EStG zu berücksichtigende Verlustabzug nur noch 83.848 DM betrug, also um 45.829 DM ermäßigt war. Der gegen den Bescheid vom 29. Oktober 1980 eingelegte Einspruch blieb erfolglos.

Hiergegen hat der Kläger Klage erhoben und geltend gemacht, daß er eine Berichtigung des Einkommensteuerbescheids vom 10. September 1979 gemäß § 129 AO 1977 nicht für zulässig halte.

Das Finanzgericht (FG) hat die Klage als unbegründet abgewiesen.

Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts durch Aushöhlung der Bestimmung des § 124 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 mittels zu weitgehender Anwendung des § 129 AO 1977. Die Unrichtigkeit des Bescheids sei aus ihm selbst nicht zu ersehen gewesen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

Zutreffend hat das FG die Rechtmäßigkeit des Berichtigungsbescheids vom 29. Oktober 1980 im Hinblick auf die Voraussetzungen der Vorschrift des § 129 AO 1977 bejaht.

1. Nach § 129 AO 1977 kann die Finanzbehörde Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlaß eines Verwaltungsakts unterlaufen sind, jederzeit berichtigen. Bei berechtigter Interesse des Beteiligten ist zu berichtigen.

Ähnliche offenbare Unrichtigkeiten in diesem Sinn sind mechanische Versehen, die beispielsweise in einem unbeabsichtigten, unrichtigen Ausfüllen des Eingabewertbogens oder einer unrichtigen Übertragung bestehen können. Fehler bei der Auslegung oder Nichtanwendung einer Rechtsnorm, unrichtige Tatsachenwürdigung, unzutreffende Annahme eines in Wirklichkeit nicht vorliegenden Sachverhalts oder Fehler, die auf mangelnder Sachaufklärung oder Nichtbeachtung feststehender Tatsachen bei der Findung einer Entscheidung beruhen, schließen die Anwendung der Vorschrift dagegen aus. Die zu § 92 Abs. 2 der Reichsabgabenordnung (AO) von der Rechtsprechung insoweit aufgestellten Grundsätze sind auch bei der Auslegung des § 129 AO 1977 zu berücksichtigen (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 18. April 1986 VI R 4/83, BFHE 146, 350, BStBl II 1986, 541, mit weiteren Nachweisen; vom 4. Juni 1986 IX R 52/82, BFHE 147, 393, BStBl II 1987, 3, mit weiteren Nachweisen).

2. Das FG ist von diesen Grundsätzen ausgegangen und hat zutreffend die Möglichkeit eines Fehlers, der die Annahme einer offenbaren Unrichtigkeit ausschließt, verneint. Es handelt sich um einen Übertragungsfehler innerhalb des vom Sachbearbeiter in einem Aktenvermerk dokumentierten Rechengangs und damit um eine einem Rechenfehler ähnliche, beim Erlaß des Verwaltungsakts unterlaufene offenbare Unrichtigkeit.

Entgegen der Auffassung des Klägers hat das FG in nicht zu beanstandender Weise die Feststellung getroffen, daß das Entstehen des Übertragungsfehlers aus dem Aktenvermerk klar erkennbar ist und damit ein in den Bereich der Willensbildung fallender Tatsachen- oder Rechtsirrtum ausgeschlossen werden kann. Der Sachbearbeiter hat in dem vom FG angeführten Vermerk u. a. notiert: "Der Verlustabzug nach § 10 d erhöht sich entsprechend, vgl. Bl. 110 (45.829 + 65.877)". Anstelle der Summe dieser Beträge von 111.706 DM hat er jedoch nur den Mehrgewinn aufgrund der Betriebsprüfung in Höhe von 65.877 DM für die Berechnung des noch verbleibenden Verlustabzugs abgesetzt, nicht mehr den schon bei der früheren Veranlagung berücksichtigten Gewinn von 45.829 DM. Ein denkgesetzlicher Verstoß der Vorinstanz kommt nicht in Betracht, da schon für einen anderweitigen Gedankengang des Sachbearbeiters - auch aus dem Vortrag des Klägers - kein Anhaltspunkt ersichtlich ist.

3. Entgegen den Ausführungen des Klägers ist es für die Anwendbarkeit des § 129 AO 1977 nicht erforderlich, daß die offenbare Unrichtigkeit aus dem Bescheid, der dem Steuerpflichtigen zugeht, erkennbar ist.

In der Rechtsprechung der FG wird zum Teil die Auffassung vertreten, die Fehlerhaftigkeit müsse für den Steuerpflichtigen aus dem Steuerbescheid im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Bescheids ersichtlich sein. Es genüge nicht, daß der Fehler bei Offenlegung des Sachverhalts für jeden unvoreingenommenen Dritten klar und deutlich als offenbare Unrichtigkeit erkennbar sei. Diese Auffassung wird im wesentlichen mit dem Wortlaut des § 124 Abs. 1 AO 1977 begründet. Danach wird ein Verwaltungsakt gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm bekanntgegeben wird, und mit dem Inhalt wirksam, mit dem er bekanntgegeben wird (vgl. FG München, Urteil vom 4. Mai 1983 III 19/79 U, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1984, 326; FG Köln, Urteil vom 13. November 1984 II 151/81 E, EFG 1985, 216). Das Schrifttum ist zum Teil der gleichen Auffassung (Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 129 AO 1977 Anm. 36 ff., 68; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 129 AO 1977 Tz. 6; Frotscher in Schwarz, Kommentar zur Abgabenordnung, § 129 Tz. 6; Friedrich, Umsatzsteuer-Rundschau - UR - 1984, 49, und Deutsche Steuer-Zeitung - DStZ - 1984, 112; Löhr, Betriebs-Berater - BB - 1984, 1092; Hering, DStZ 1984, 220; Nothnagel, Steuer und Wirtschaft - StuW - 1984, 60; wohl auch Woerner/Grube, Die Aufhebung und Änderung von Steuerverwaltungsakten, 7. Aufl., 21 ff.).

Der BFH hat demgegenüber entschieden, daß die offenbare Unrichtigkeit nicht aus dem Bescheid selbst erkennbar sein müsse (Beschluß vom 10. September 1982 VI S 8/82, nv; Urteil vom 11. Mai 1983 III R 36/81, nv; Wollny, Zur Rechtsprechung des IX. Senats des BFH, BB 1984, 1419, 1420, unter Hinweis auf eine Entscheidung des IX. Senats nach Art. 1 Nr. 7 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs - BFH-EntlG -; BFH-Urteil vom 24. Oktober 1984 II R 30/81, BFHE 142, 357, 361, BStBl II 1985, 218, 220 läßt die Frage offen, weil sie im Streitfall keiner Entscheidung bedurfte). Der BFH hat diese Aussage aber nicht nur, wie Tipke/Kruse ausführen (a. a. O., § 129 AO 1977 Tz. 6 S. 58/2 letzter Absatz), in unveröffentlichten Entscheidungen ausgesprochen. Vielmehr hat der Senat zu § 107 der Finanzgerichtsordnung (FGO) entschieden, daß eine offenbare Unrichtigkeit auch dann berichtigt werden darf, wenn sie aus dem Urteil unmittelbar nicht erkennbar ist (Beschluß vom 4. September 1984 VIII B 157/83, BFHE 142, 13, BStBl II 1984, 834). Der Begriff der offenbaren Unrichtigkeit in § 107 FGO stimmt mit dem Begriff in § 129 AO 1977 überein (BFH-Beschluß vom 29. November 1984 VIII B 24/84, BFH/NV 1985, 86; BFH-Urteil vom 28. November 1985 IV R 178/83, BFHE 145, 226, 230, BStBl II 1986, 293; Förster in Koch, Abgabenordnung, 3. Aufl., § 129 Rz. 4; Tipke/Kruse, a. a. O., § 129 AO 1977 Tz. 2 a).

4. Der Senat hält nach erneuter Prüfung an der bisher vom BFH vertretenen Meinung fest.

§ 129 AO 1977 spricht im Unterschied zu § 92 Abs. 2 AO nicht nur von "ähnlichen offenbaren Unrichtigkeiten", sondern von "ähnlichen offenbaren Unrichtigkeiten, die beim Erlaß eines Verwaltungsaktes unterlaufen sind". Der veränderte Wortlaut ist vom Gesetzgeber bewußt gewählt worden. Er soll gewährleisten, daß für den Bereich der Finanzverwaltung offenbare Unrichtigkeiten nicht nur dann angenommen werden können, wenn sie aus dem Bescheid ohne weiteres zu ersehen sind. Nach der Begründung des Finanzausschusses des Bundestages (BT-Drucks. 7/4292, 29) sah es der Gesetzgeber für das Besteuerungsverfahren als Massenverfahren für erforderlich an, "daß offenbare Unrichtigkeiten, die sich im Laufe der Entstehung des Verwaltungsaktes ergeben haben, berichtigt werden können, soweit der Fehler lediglich auf mechanische Versehen zurückzuführen und die Möglichkeit eines Rechtsirrtums ausgeschlossen ist". Verzichtet der Gesetzgeber im Rahmen der AO 1977 im Gegensatz zu § 42 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG), der von "offenbaren Unrichtigkeiten in einem Verwaltungsakt" spricht (vgl. dazu Urteil des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 11. Juni 1975 VIII C 12/74, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1976, 532), auf das Erfordernis der - augenfälligen - Erkennbarkeit des Fehlers, so kann das bei der Auslegung des § 129 AO 1977 nicht außer Betracht bleiben (gl. A. Kühn/Kutter/Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., § 129 AO 1977 Bem. 2 a; Klein/Orlopp, Abgabenordnung, 3. Aufl., § 129 Anm. 1 und 2; Förster in Koch, a. a. O., § 129 Rz. 4; FG Köln, Urteil vom 25. Juni 1986 X K 94/84, EFG 1986, 533, mit Nachweis der Rechtsprechung der FG, die gleichfalls diese Auffassung vertreten).

5. Die Gegenmeinung übersieht, daß § 124 AO 1977 und § 129 AO 1977 gleichrangig nebeneinanderstehen und daß dies bei der Auslegung entsprechend berücksichtigt werden muß. Einerseits darf der Begriff der offenbaren Unrichtigkeit nicht über den Bereich des mechanischen Versehens hinaus ausgedehnt werden. Andererseits darf er aber auch nicht in einer Weise eingeengt werden, daß Übertragungsfehler, Rechenfehler oder Fehler beim Ablesen einer Steuertabelle, die bisher als typische offenbare Unrichtigkeiten gewertet worden sind, nicht mehr berücksichtigt werden dürfen, weil sie aus dem Bescheid selbst häufig nicht erkennbar sein werden.

Die Gegenmeinung beachtet, wie schon im BFH-Urteil vom 11. Mai 1983 III R 36/81, nv, hervorgehoben, auch nicht in ausreichendem Maß, daß der Gesetzgeber die Grenzen des Vertrauensschutzes insoweit allein durch das Merkmal der ähnlichen offenbaren Unrichtigkeit gezogen hat, dessen Auslegung in den Fällen der vorliegenden Art keine weitergehende Berücksichtigung der Belange des Adressaten eines Verwaltungsakts zuläßt. Es darf hierbei nicht außer Betracht bleiben, daß dem Begriff der offenbaren Unrichtigkeit keine unterschiedlichen Inhalte danach beigemessen werden können, ob sich der Fehler zugunsten des Steuerpflichtigen oder zugunsten des Steuerfiskus auswirkt.