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BFH-Urteil vom 20.10.1987 (VII R 19/87) BStBl. 1988 II S. 97

Verbüßt der Zustellungsempfänger eine nicht nur kurzfristige Strafhaft, so ist eine Ersatzzustellung nach § 181 ZPO in seiner bisherigen Wohnung unwirksam, auch wenn dort noch seine Angehörigen wohnen.

VwZG § 3; ZPO § 181.

Vorinstanz: Hessisches FG

Sachverhalt

Mit Haftungsbescheid vom 21. Juni 1985 nahm der Beklagte und Revisionskläger (Hauptzollamt - HZA -) den Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) für insgesamt 202.747,16 DM Eingangsabgaben mit der Begründung in Anspruch, als Steuerhinterzieher hafte er für verkürzte Abgaben. Den Einspruch des Klägers wies das HZA mit Entscheidung vom 11. März 1986 als unbegründet zurück. Diese Entscheidung wurde zugestellt mit Postzustellungsurkunde (PZU) am 18. März 1986 in der Familienwohnung an die Ehefrau des Klägers.

Mit Schreiben vom 30. April 1986, beim Finanzgericht (FG) eingegangen am 5. Mai 1986, erhob der Kläger Klage und beantragte gleichzeitig wegen der Versäumung der Klagefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zur Begründung führte er aus, er habe am 3. März 1986 seine Strafe in der Justizvollzugsanstalt angetreten. Seine Ehefrau habe ihm die Einspruchsentscheidung dorthin nachgesandt, so daß er diese erst verspätet erhalten habe.

Das FG entschied durch Zwischenurteil vorab, daß die Klage, mit der der Kläger die Aufhebung des Steuerhaftungsbescheides in der Fassung der Einspruchsentscheidung begehrt, zulässig sei. Zur Begründung führte es aus: Die Einspruchsentscheidung sei dem Kläger nicht wirksam bekanntgegeben worden; denn die Ersatzzustellung am 18. März 1986 sei rechtlich unwirksam, weil sich der Kläger ab dem 3. März 1986 in Strafhaft befunden habe. Die Klagefrist sei somit nicht in Lauf gesetzt worden, die Klage demnach nach § 46 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zulässig.

Entscheidungsgründe

Die Revision des HZA ist nicht begründet. Das FG hat die Klage zu Recht für zulässig gehalten.

Nach § 47 Abs. 1 FGO beginnt die einmonatige Klagefrist mit der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung. Einspruchsentscheidungen sind zuzustellen (§ 366 der Abgabenordnung - AO 1977 -). Die Zustellung hat nach den Vorschriften des VwZG zu geschehen (§ 122 Abs. 5 Satz 2 i.V.m. § 365 Abs. 1 AO 1977). Ist die Zustellung unwirksam, so wird die Klagefrist nicht in Lauf gesetzt. Im vorliegenden Fall war die Zustellung unwirksam.

Nach den Feststellungen des FG ist die Einspruchsentscheidung dem Kläger nach § 3 VwZG durch die Post mit Zustellungsurkunde zugestellt worden. Für das Zustellen durch den Postbediensteten gilt u.a. § 181 ZPO (§ 3 Abs. 3 VwZG). Danach kann, sofern der Zustellungsadressat in seiner Wohnung nicht angetroffen wird, in der Wohnung an einen zu der Familie gehörenden erwachsenen Hausgenossen zugestellt werden. Nach dem Wortlaut dieser Vorschrift ist die Ersatzzustellung also nur in der "Wohnung" des Zustellungsadressaten zulässig.

Für den Begriff der "Wohnung" i.S. des § 181 ZPO kommt es grundsätzlich auf das tatsächliche Wohnen an, d.h. darauf, ob der Zustellungsempfänger hauptsächlich in den Räumen lebt, und insbesondere, ob er dort schläft; nicht jede vorübergehende Abwesenheit, selbst wenn sie länger dauert, hebt die Eigenschaft als "Wohnung" i.S. der Zustellungsvorschriften auf (vgl. BFH-Urteile vom 18. Februar 1986 VIII R 257/83, BFH/NV 1986, 711; vom 11. April 1986 VI R 22/85, BFH/NV 1986, 545, und vom 4. Juni 1987 V R 131/86, BFHE 150, 305, jeweils mit Hinweisen auf die Rechtsprechung, insbesondere des Bundesgerichtshofs - BGH -). In Anwendung dieser Begriffsbestimmung hat der BFH im Urteil in BFH/NV 1986, 545, 546 entschieden, der bisherigen Wohnung gehe diese Eigenschaft verloren, wenn sich der Zustellungsadressat im Zeitpunkt der Ersatzzustellung in mehrmonatiger Untersuchungshaft befinde. Die Grundsätze dieser Entscheidung sind auch auf den vorliegenden Fall anzuwenden. Der Kläger befand sich im Zeitpunkt der Ersatzzustellung in Strafhaft, die - wie sich aus den Feststellungen der Vorinstanz mittelbar ergibt - nicht nur kurzfristig war. Ein solcher nicht nur kurzfristiger Zwangsaufenthalt außerhalb der (bisherigen) Wohnung ist ein wesentliches Indiz dafür, daß diese während der Abwesenheit nicht mehr der räumliche Mittelpunkt des Lebens des Klägers war (BFH/NV 1986, 545, 546 und die dort zitierte Rechtsprechung des BGH; vgl. auch Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 4. Juli 1983 9 B 10275.83, Deutsches Verwaltungsblatt - DVBl - 1984, 90).

Zu Unrecht beruft sich das HZA darauf, daß der Kläger zu der Wohnung, in der die Ersatzzustellung vorgenommen worden ist, noch persönliche Beziehungen aufrechterhält, die Ehefrau des Klägers dort noch wohnt und der Kläger auch die Absicht hat, nach Verbüßung der Strafhaft dorthin zurückzukehren. Diesem Umstand allein kann nicht entnommen werden, die Wohnung sei noch räumlicher Mittelpunkt des Lebens des Klägers. Der Kläger hat während der gesamten Dauer der Strafhaft keine Möglichkeit, seine bisherige Wohnung als tatsächliche Wohnstätte zu nutzen. Seine weiterhin bestehenden persönlichen Beziehungen zu seiner Familie können nicht als Umstand angesehen werden, aus dem sich ein weiteres tatsächliches Wohnen des Klägers an diesem Ort ableiten läßt. Dies wäre mit dem Sinn der Regelung des § 181 Abs. 1 ZPO nicht vereinbar, die eine möglichst sichere und zuverlässige Benachrichtigung des Empfängers bezweckt und auf der Erwägung beruht, daß die Wohnung der Ort ist, wo am ehesten damit gerechnet werden kann, daß das zuzustellende Schriftstück den Empfänger erreicht (Urteil in BFHE 150, 305). Denn im Falle der Strafhaft des Empfängers muß davon ausgegangen werden, daß dieser allein am Ort seiner Haft zu erreichen ist (vgl. Beschluß des Landgerichts Hagen vom 12. November 1979 46 Qs 251/79, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1980, 1703; Beschluß des Oberlandesgerichts - OLG - Düsseldorf vom 29. Dezember 1986 1 Ws 1097-1098/86, NJW-RR 1987, 894, 895; Urteil des OLG Düsseldorf vom 12. Februar 1980 6 UF 137/79, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht - FamRZ - 1980, 718, 719; Beschluß des OLG Koblenz vom 28. Mai 1986 1 Ws 297/86, dokumentiert unter Nr. 738629 im Juristischen Informationssystem - JURIS - ; Beschluß des Bayerischen OLG München vom 21. November 1983 3 Z 123/82, Der Deutsche Rechtspfleger - Rpfleger - 1984, 105, 106).

Aus dem BGH-Urteil vom 24. November 1977 III ZR 1/76 (NJW 1978, 1858) ist etwas anderes nicht zu entnehmen. In diesem Urteil hatte der BGH die Frage, ob ein Zustellungsempfänger auch während einer durch Strafverbüßung bedingten knapp zweimonatigen Abwesenheit in den bisher bewohnten Räumen eine "Wohnung" i.S. der Zustellungsvorschriften beibehält, u.a. mit dem Hinweis verneint, die Zuweisung eines Zwangsaufenthaltes sei ein Indiz dagegen, daß die bisherige Wohnung des Inhaftierten während dieser Zeit der räumliche Mittelpunkt seines Lebens bleibe. Der BGH hat in diesem Urteil allerdings hinzugefügt, daß, wenn der Inhaber auch noch, wie es bei dem dortigen Beklagten der Fall war, während seiner Inhaftierung zu seiner Wohnung keine fortdauernde persönliche Beziehung aufrechterhalte ("wie sie etwa hätte bestehen können, wenn Angehörige des Beklagten noch dort gewohnt hätten"), die bisher bewohnten Räume während dieses Zeitraums ihren Charakter als "Wohnung" verloren hätten. Mit diesem Hinweis hat der BGH aber offenbar nicht zum Ausdruck bringen wollen, daß bei einem Weiterbestehen persönlicher Beziehungen zur bisherigen Wohnung anders entschieden werden müsse. Der Hinweis des BGH ist vielmehr lediglich als verstärkendes Argument zu betrachten.