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BFH-Urteil vom 28.10.1987 (I R 12/84) BStBl. 1988 II S. 111

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Einspruchsfrist kann nicht gewährt werden, wenn sich die Rechtsbehelfsschrift ohne Verzögerung der Postbeförderung zwar am Morgen nach dem Fristablauf bei Abholung der Post durch das FA in dessen Postfach bei der Postanstalt befunden und damit den Eingangsstempel des Vortages erhalten hätte, jedoch ungeklärt bleibt, ob die Rechtsbehelfsschrift noch vor Fristablauf in das Postfach eingelegt worden ist.

AO 1977 § 110.

Vorinstanz: FG Baden-Württemberg

Sachverhalt

I.

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger), der ein Friseurgeschäft betreibt, wurde vom Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt - FA -) mehrfach zur Abgabe der Steuererklärungen für das Streitjahr (1979) aufgefordert. Nach ergebnislosem Fristablauf erließ das FA einen auf geschätzten Besteuerungsgrundlagen beruhenden Einkommensteuerbescheid, der am 29. Juli 1981 zur Post gegeben wurde.

Mit Schreiben vom 1. September 1981 legte der Bevollmächtigte des Klägers gegen den Bescheid vom 29. Juli 1981 Einspruch ein. Das Schreiben ging laut Eingangsstempel des FA am 2. September 1981 bei der Behörde ein. Es befand sich in einem Briefumschlag, der den Poststempel des Postamts M mit dem Datum des 2. September 1981 15 Uhr trug.

Am 15. September 1981 beantragte der Bevollmächtigte beim FA Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Einspruchsfrist. Zur Begründung trug er vor, das Einspruchsschreiben sei noch am 1. September 1981 vor 17 Uhr von seiner Ehefrau in den Briefkasten der Poststelle in M eingeworfen worden. Laut Auskunft der Post gelange es damit bei normalem Postlauf noch am selben Tage in das Postfach des Empfängers beim Postamt E. Auf Anfrage des FA über die Postlaufzeiten teilte das Postamt 1 E folgendes mit:

Eine über den Briefkasten vor der Poststelle M bis 17 Uhr eingelieferte Sendung nach E wird dort Mo - Fr um 17.17 Uhr abgeleitet und geht in E um 17.50 Uhr ein. Hier werden die für unseren Bereich bestimmten Sendungen auf Zustellbezirke und Postfächer verteilt. Dieser Vorgang erfolgt je nach Sendungsaufkommen in der Zeit zwischen 19 Uhr abends und 7.30 Uhr am darauffolgenden Werktag.

Eine an das Finanzamt gerichtete Sendung könnte somit frühestens am gleichen Tag um 19 Uhr bzw. spätestens am nächsten Werktag bis 7.30 Uhr in das Postfach eingelegt werden.

Der Kläger erhob gegen die den Einspruch als unzulässig verwerfende Einspruchsentscheidung Klage, der das Finanzgericht (FG) nach Vernehmung der Ehefrau des Bevollmächtigten als Zeugin stattgab.

Zur Begründung führte es aus, es sei glaubhaft gemacht worden, daß das Schreiben bereits am 1. September 1981 vor 17 Uhr in den Briefkasten der Poststelle M eingeworfen worden sei. Obwohl der Bevollmächtigte auch bei gewöhnlichem Postlauf damit habe rechnen müssen, daß dieses Schreiben das FA erst am nächsten Tage, also verspätet, erreichen werde, liege darin kein Verschulden; er habe darauf vertrauen dürfen, daß das FA die Sendungen, die es am nächsten Morgen dem Postfach entnehme, gemäß einer ständigen Verwaltungsübung mit dem Eingangsstempel des Vortages versehen werde.

Mit seiner vom FG zugelassenen Revision rügt das FA die unrichtige Anwendung des § 110 der Abgabenordnung (AO 1977).

Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger hat keinen Antrag gestellt.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Das FA hat es zu Recht abgelehnt, dem Kläger wegen der Versäumung der Einspruchsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 110 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 zu gewähren.

1. Das Einspruchsschreiben des Klägers ist verspätet beim FA eingegangen. Nach den Feststellungen des FG ist der Einkommensteuerbescheid am 29. Juli 1981 zur Post gegeben worden. Nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 gilt die Bekanntgabe somit am 1. August 1981 als bewirkt. Die Einspruchsfrist endete gemäß §§ 355 Abs. 1, 108 AO 1977, 188 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) am 1. September 1981. Das Einspruchsschreiben trägt den Eingangsstempel des FA vom 2. September 1981.

Auf die Frage der Beweiskraft des Datums des finanzamtlichen Eingangsstempels (vgl. hierzu Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 7. Juli 1976 I R 66/75, BFHE 119, 368, BStBl II 1976, 680 unter 1.; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 108 AO 1977 Tz. 11) kommt es im Streitfall nicht an. Denn bereits aus dem Poststempel auf dem Briefumschlag ergibt sich, daß die Rechtsbehelfsschrift nicht mehr am letzten Tag der Frist bei dem für das FA zuständigen Postamt eingegangen sein kann. Hierüber besteht zwischen den Beteiligten auch kein Streit.

2. Selbst wenn man zugunsten des Klägers unterstellt, daß das Einspruchsschreiben noch vor der letzten Leerung am 1. September 1981 um 17 Uhr in den Briefkasten der Poststelle in M eingeworfen worden ist, war er gleichwohl nicht ohne Verschulden i.S. des § 110 AO 1977 verhindert, die Einspruchsfrist zu wahren. Denn sein Bevollmächtigter hat durch die Aufgabe des Einspruchsschreibens zur Post wenige Stunden vor Fristablauf nicht die nach den Umständen des Falles angemessene und vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt zur Sicherstellung dessen rechtzeitigen Eingangs beim FA eingehalten. Dies gilt auch für den Fall, daß das Schreiben bei Einsortieren in das Postfach bis 24 Uhr dem FA noch rechtzeitig zugegangen wäre (so Urteile des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 31. Januar 1964 IV C 101.63, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1964, 788; des Bundessozialgerichts - BSG - vom 2. September 1977 - 12 RAr 46/76, Monatsschrift des Deutschen Rechts - MDR - 1978, 83; Beschluß des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 19. Juni 1986 - VII ZB 20/85, NJW 1986, 2646; a.A. BFH-Beschluß vom 3. August 1978 VI R 73/78, BFHE 125, 498, BStBl II 1978, 649: Zugang erst im Zeitpunkt der gewöhnlichen Leerungszeiten). Denn im Hinblick auf die Auskunft des Postamtes E kann nicht mit hinreichender Sicherheit davon ausgegangen werden, daß das bis 17 Uhr eingeworfene Schreiben unter Zugrundelegung der gewöhnlichen Postlaufzeiten, auf deren Einhaltung der Bevollmächtigte des Klägers hätte vertrauen können, den Empfänger noch am selben Tag erreicht hätte.

a) Die Feststellungslast für den fristgerechten Eingang eines Schriftstücks trägt der Kläger (vgl. BFH-Urteil vom 8. Dezember 1976 I R 240/74, BFHE 121, 142, BStBl II 1977, 321). Er muß daher auch im Falle der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nachweisen, daß die Frist bei Wegfall des unverschuldeten Hinderungsgrundes gewahrt worden wäre. Allerdings darf dem Kläger nicht die Feststellungslast für Vorgänge aufgebürdet werden, die sich im behördeninternen Bereich abgespielt haben und deren Unaufklärbarkeit allein in den Verantwortungsbereich der Behörde fällt (vgl. BGH-Urteil vom 5. Dezember 1980 I ZR 51/80, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1982, 242). Da das FA jedoch nicht verpflichtet war, Vorkehrungen für die Feststellung des Zeitpunkts der Einsortierung zu treffen (dazu nachfolgend unter b), geht dessen Unaufklärbarkeit zu seinen Lasten.

b) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) müssen Behörden und Gerichte geeignete Vorkehrungen treffen, um dem Bürger die volle Ausnutzung der ihm vom Gesetz eingeräumten Fristen zu ermöglichen (vgl. Beschlüsse vom 11. Februar 1976 - 2 BvR 652/75, BVerfGE 41, 323 und vom 3. Oktober 1979 - 1 BvR 726/78, BVerfGE 52, 203). Dieser Verpflichtung kommen sie in ausreichender Weise durch die Anbringung eines Hausbriefkastens nach, der auch nach Ende der Dienstzeit zugänglich ist. Die Kontrolle des rechtzeitigen Eingangs der Schriftstücke verursacht insoweit keine unzumutbaren Schwierigkeiten, da sie mit relativ einfachen Mitteln (z.B. Nachtbriefkasten) durchgeführt werden kann (vgl. BVerfG-Beschluß BVerfGE 41, 323). Fehlen entsprechende Kontrolleinrichtungen, so darf dem Bürger hieraus kein Nachteil erwachsen; das FA muß die dem Briefkasten am Morgen entnommenen Schriftstücke so behandeln, als seien sie vor Ablauf des Vortages eingeworfen worden (vgl. Tipke/Kruse, a.a.O., § 47 FGO Tz. 7; Meyer/Borgs, Verwaltungsverfahrensgesetz, § 31 Rdnr. 9).

Zur Kontrolle des Zeitpunkts der Einsortierung von Schriftstücken in das Postfach kann das FA jedoch schon deshalb nicht verpflichtet werden, weil die Verteilung von Postsendungen ein postinterner Vorgang ist, der sich außerhalb des Einflußbereichs des FA vollzieht. Ebensowenig ist dem FA die Leerung des Postfachs um 24 Uhr zuzumuten, falls der Zugang zum Postfach um diese Zeit überhaupt geöffnet ist. Das FA hat es deshalb nicht zu vertreten, wenn der Bevollmächtigte des Klägers den fristgerechten Zugang des Einspruchsschreibens nicht nachweisen kann.

c) Das Verhalten des FA hat keinen Vertrauenstatbestand begründet, auf den sich der Kläger berufen könnte. Der Grundsatz von Treu und Glauben setzt in der Regel ein konkretes Verhältnis zwischen dem Steuerpflichtigen und dem FA voraus, bei dem allein sich eine Vertrauenssituation bilden kann (vgl. BFH-Urteil vom 21. Dezember 1972 IV R 53/72, BFHE 107, 564, BStBl II 1973, 298). Die Behandlung der Eingangspost ist jedoch eine behördeninterne Maßnahme, die keine Außenwirkung entfaltet.

Der Bevollmächtigte des Klägers konnte somit nicht darauf vertrauen, daß die bis 17 Uhr in M aufgegebene Post vom FA als fristgerecht eingegangen angesehen würde. Er konnte allenfalls aufgrund früherer Erfahrungen erwarten, daß das Schriftstück vor der ersten Leerung am nächsten Morgen in das Postfach eingelegt werden würde. Diese Erwartung ist nicht schutzwürdiger als das Vertrauen eines Rechtsbehelfsführers im Falle des verspäteten Einwurfs in den Hausbriefkasten, daß die Fristversäumung deswegen nicht entdeckt werde, weil nach der ihm bekannten Handhabung des FA alle bei Dienstbeginn im Hausbriefkasten vorgefundenen Schriftstücke den Eingangsstempel des Vortages erhielten (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 2. Mai 1969 III R 49/66, BFHE 97, 496, BStBl II 1970, 230). Zwar kann nicht festgestellt werden, ob der Kläger bei normalem Postlauf tatsächlich die Frist versäumt hätte. Er trägt jedoch das sein Verschulden begründende Risiko, bei verspätetem Eingang den Nachweis nicht erbringen zu können, daß ohne die Verzögerung der fristgerechte Zugang gewährleistet gewesen wäre.

3. Die Vorentscheidung ist aufzuheben, da das FG von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen ist. Die Sache ist spruchreif. Zwar hat das FG nicht festgestellt, ob dem Bevollmächtigten des Klägers bekannt war, daß bei seiner Verfahrensweise der fristgerechte Eingang des Einspruchsschreibens beim FA nicht gewährleistet war. Dieser hätte jedoch die den Umständen des Falles angemessene und vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt auch schon dann verletzt, wenn er keine Erkundigungen über den Postlauf eingezogen haben sollte; hierzu bestand um so mehr Anlaß, als üblicherweise nicht damit gerechnet werden kann, daß ein um 17 Uhr in einen Postbriefkasten geworfenes Schriftstück noch am selben Tage den Empfänger erreicht. Da das FA zu Recht die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 110 AO 1977 verneint hat, war die Klage abzuweisen.