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BFH-Urteil vom 29.7.1987 (I R 367, 379/83) BStBl. 1988 II S. 242

1. Eine Finanzbehörde muß Steuerbescheide und Einspruchsentscheidungen beim Fehlen einer schriftlichen Vollmacht für einen Bevollmächtigten dem Steuerpflichtigen persönlich bekanntgeben (zustellen), wenn nicht die besonderen Umstände des Einzelfalles das Interesse des Steuerpflichtigen an einer Bekanntgabe (Zustellung) gegenüber seinem Bevollmächtigten eindeutig erkennen lassen.

2. Die Verweisung des § 122 Abs. 5 Satz 2 AO 1977 auf das VwZG ist eine abschließende Regelung, die den § 80 Abs. 3 Satz 3 AO 1977 nicht einbezieht.

AO 1977 § 80 Abs. 3 Satz 3, § 122 Abs. 5 Satz 2; VwZG § 8 Abs. 1.

Vorinstanz: FG Düsseldorf

Sachverhalt

I.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) erließ am 3. Dezember 1980 gegenüber dem Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) je einen Einkommen- und Umsatzsteuerbescheid 1976, deren Besteuerungsgrundlagen geschätzt waren. Gegen die Bescheide legte der Kläger persönlich am 17. Dezember 1980 Einsprüche ein, ohne jedoch dieselben zu begründen.

Mit einem ersten Schriftsatz vom 23. Februar 1981 legte der Steuerbevollmächtigte W unter dem Betreff "Einkommensteuerbescheid 1976/1977" Einspruch auch gegen den inzwischen ergangenen Einkommensteuerbescheid 1977 ein. Er kündigte an, auch den Einspruch gegen den Steuerbescheid 1976 durch Nachreichen der Gewinnermittlung 1976 begründen zu wollen. Mit einem zweiten Schriftsatz vom 23. Februar 1981 bat W um die Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Einkommen- und Umsatzsteuerbescheide 1976. Während der Einspruch vom 17. Dezember 1980 bereits der Rechtsbehelfsstelle des FA vorlag, wurden die Schreiben vom 23. Februar 1981 noch von der Amtsprüfungsstelle des FA bearbeitet. Diese lehnte telefonisch den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ab, solange nicht die Steuererklärungen eingereicht seien. Die Schreiben vom 23. Februar 1981 wurden erst am 11. Juni 1981 an die Rechtsbehelfsstelle weitergeleitet. Diese hatte jedoch schon am 7. April 1981 über die Einsprüche des Klägers vom 17. Dezember 1980 entschieden. Die Einspruchsentscheidungen wurden an den Kläger adressiert und diesem am 8. April 1981 durch Niederlegung zur Post zugestellt.

Am 12. Mai 1981 rügte der Steuerbevollmächtigte W beim FA fernmündlich, daß die Einspruchsentscheidungen bereits ergangen waren. Er habe am 23. Februar 1981 zwei Schreiben an das FA abgesandt, mit denen er Stundung bzw. Aussetzung der Vollziehung beantragt habe. Zur Begründung seiner Anträge habe er auf die noch anzufertigenden Steuererklärungen verwiesen. Die beantragte Fristverlängerung sei auch gewährt worden.

Am 22. Mai 1981 erhob der Steuerbevollmächtigte W im Namen des Klägers Klage "in Sachen Umsatzsteuer 1976" und beantragte die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Erst mit Schriftsatz vom 15. September 1981 beantragte er, als "Erweiterung seiner Klage" bezüglich der Einkommensteuer 1976 gleichermaßen zu verfahren.

Das Finanzgericht (FG) gab beiden Klagen statt und ließ die Revisionen zu.

Mit seinen Revisionen rügt das FA die Verletzung von § 80 Abs. 3 der Abgabenordnung (AO 1977).

Das FA beantragt, die Urteile des FG Düsseldorf vom 31. August 1983 III 133/81 U und III 391/82 E aufzuheben und die Klagen abzuweisen.

Der Kläger läßt sich im Revisionsverfahren nicht vertreten.

Entscheidungsgründe

II.

A.

Der Senat hat es für angebracht gehalten, die Revisionsverfahren I R 367/83 und I R 379/83 mit Rücksicht auf den einheitlichen Sachverhalt zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung zu verbinden (§ 121, § 73 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

B.

Die Revisionen sind begründet. Sie führen zur Aufhebung der Vorentscheidungen und zur Abweisung der Klagen (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO).

1. Nach § 40 Abs. 1 FGO kann durch die Erhebung einer Anfechtungsklage die Aufhebung oder - in den Fällen des § 100 Abs. 2 FGO - die Änderung eines Steuerbescheides begehrt werden. Die Frist für die Erhebung der Anfechtungsklage beträgt einen Monat; sie beginnt, soweit die Voraussetzungen der §§ 45 und 46 FGO - wie im Streitfall - nicht erfüllt sind, mit der Bekanntgabe der Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf (§ 47 Abs. 1 Satz 1 FGO).

2. Die Entscheidungen des FA über die am 17. Dezember 1980 vom Kläger persönlich eingelegten Einsprüche wurden diesem am 8. April 1981 durch Niederlegung bei der Post zugestellt. Die Zustellung entsprach der in § 366, § 122 Abs. 5 Satz 2 AO 1977, § 3 Abs. 3 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG), § 182 der Zivilprozeßordnung (ZPO) vorgeschriebenen Form. Sie war rechtswirksam und löste deshalb den Lauf der Klagefrist aus.

3. § 366 AO 1977 schreibt als Form für die Bekanntgabe von Einspruchsentscheidungen die Zustellung vor. Die Vorschrift nimmt damit auf § 122 Abs. 5 Sätze 1 und 2 AO 1977 Bezug, wonach sich die gesetzlich vorgeschriebene Zustellung nach den Vorschriften des VwZG richtet. In § 8 VwZG ist im einzelnen geregelt, wann eine Zustellung an den Bevollmächtigten des Steuerpflichtigen gerichtet werden kann oder muß. Die Behörde muß eine Zustellung an den Bevollmächtigten richten, wenn der Steuerpflichtige ihr für diesen eine schriftliche Vollmacht vorlegt, die die Zustellung (Bekanntgabe) von Steuerbescheiden (Einspruchsentscheidungen) mitumfaßt. Liegt keine schriftliche Vollmacht vor, so hat die Finanzbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, ob die Zustellung (Bekanntgabe) der Steuerbescheide (Einspruchsentscheidungen) unmittelbar gegenüber dem Bevollmächtigten im mutmaßlichen Interesse des Steuerpflichtigen liegt. Dabei hat sie einerseits zu berücksichtigen, daß der Steuerpflichtige einen steuerlichen Berater in der Regel einschaltet, um sich dessen Fachverstand und Büroorganisation auch in Verfahrensfragen zunutze zu machen. Andererseits kann aber der Steuerpflichtige schon aus gebührenrechtlichen Gründen daran interessiert sein, Steuerbescheide (Einspruchsentscheidungen) persönlich in Empfang zu nehmen, ihre Übereinstimmung mit den Steuererklärungen bzw. mit dem Einspruchsbegehren zunächst persönlich zu prüfen und einen Fristablauf auch persönlich zu überwachen. Die Finanzbehörde muß deshalb Steuerbescheide (Einspruchsentscheidungen) beim Fehlen einer schriftlichen Vollmacht dem Steuerpflichtigen persönlich bekanntgeben (zustellen), wenn nicht die besonderen Umstände des Einzelfalles das Interesse des Steuerpflichtigen an einer Bekanntgabe (Zustellung) gegenüber seinem Bevollmächtigten eindeutig erkennen lassen. Dies entspricht dem Grundsatz, daß der Steuerpflichtige sich zweifelsfrei erklären muß, wenn er keine Bekanntgabe (Zustellung) an sich selbst, sondern eine solche an seinen Bevollmächtigten wünscht. Eventuell bestehende Zweifel gehen deshalb zu Lasten des Steuerpflichtigen.

4. Zwar hat im Streitfall die Rechtsbehelfsstelle des FA die ihr obliegende Entscheidung, ob nicht die Zustellung der Einspruchsentscheidung an den Steuerbevollmächtigten W im mutmaßlichen Interesse des Klägers lag, schon deshalb nicht treffen können, weil die Schreiben vom 23. Februar 1981 bei der Amtsprüfungsstelle des FA verblieben sind und die Rechtsbehelfsstelle deshalb von der Beauftragung des Steuerbevollmächtigten W keine Kenntnis erhielt. Dieser Umstand führt jedoch nicht zur Unwirksamkeit der Zustellung, weil das FA - auch wenn es rechtzeitig von dem Inhalt der Schreiben vom 23. Februar 1981 erfahren hätte - die Einspruchsentscheidungen dem Kläger persönlich hätte zustellen müssen. Aus den Schreiben ergibt sich nämlich lediglich, daß der Steuerbevollmächtigte den Auftrag hatte, die Gewinnermittlung 1976 zu erstellen und die Aussetzung der Vollziehung des Einkommen- und Umsatzsteuerbescheides 1976 zu beantragen. Dies ist nicht gleichbedeutend mit einer Vertretung des Klägers in den von diesem persönlich eingeleiteten Einspruchsverfahren. Der Steuerbevollmächtigte W hätte sich deshalb als Vertreter des Klägers für beide Einspruchsverfahren insgesamt bestellen müssen, um die Annahme zu rechtfertigen, daß die Zustellung der Einspruchsentscheidungen an ihn im mutmaßlichen Interesse des Klägers lag (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 27. Februar 1986 IV R 72/85, BFHE 146, 206, BStBl II 1986, 547). Daran fehlt es jedoch im Streitfall. Dann aber hätte sich das FA an den Grundsatz halten müssen, daß beim Fehlen zweifelsfreier Erklärungen des Steuerpflichtigen Zustellungen an diesen zu richten sind.

5. Entgegen der Auffassung des FG steht der rechtswirksamen Zustellung der Einspruchsentscheidungen an den Kläger § 80 Abs. 3 Satz 3 AO 1977 nicht entgegen. Nach § 122 Abs. 5 Satz 2 AO 1977 richtet sich die Zustellung nach den Vorschriften des VwZG. Der erkennende Senat sieht in der Verweisung des § 122 Abs. 5 Satz 2 AO 1977 auf das VwZG eine abschließende Regelung, die den § 80 Abs. 3 Satz 3 AO 1977 nicht einbezieht. Dies gilt nicht zuletzt deshalb, weil § 8 Abs. 1 VwZG seinem Inhalt nach eine lex-specialis-Regelung gegenüber § 80 Abs. 3 Satz 3 AO 1977 enthält, die nur für Zustellungen gilt. Die lex-specialis-Regelung hat ihren vernünftigen Sinn, weil zwischen allgemeinen Ermittlungshandlungen des FA und der Zustellung von Verwaltungsakten (Einspruchsentscheidungen) wesentliche Unterschiede bestehen. Die Zustellung eines Verwaltungsakts (Einspruchsentscheidung) ist zugleich Abschluß eines Verfahrensabschnitts. Sie löst die in erster Linie vom Steuerpflichtigen selbst zu treffende Entscheidung aus, ob ein Rechtsbehelf gegen den Verwaltungsakt erhoben werden soll. Allgemeine Ermittlungshandlungen fallen dagegen im Rahmen eines noch nicht abgeschlossenen Verfahrens an. In diesem Verfahrensstadium ist das Rechtsschutzbedürfnis des Steuerpflichtigen ein anderes. Die unterschiedliche Interessenlage rechtfertigt die in § 80 Abs. 3 Satz 3 AO 1977 einerseits und die in § 8 Abs. 1 VwZG andererseits getroffenen unterschiedlichen Regelungen. Bei dieser Rechtslage bedarf es keines Eingehens auf die Frage, ob die tatsächlichen Feststellungen des FG dessen Auffassung tragen, daß der Steuerbevollmächtigte W vom Kläger i.S. des § 80 Abs. 3 AO 1977 als Bevollmächtigter für ein Verfahren bestellt worden sei.

6. War die Zustellung der Einspruchsentscheidungen gegenüber dem Kläger persönlich am 8. April 1981 rechtswirksam, so lief die Frist für die Erhebung der beiden Klagen am 8. Mai 1981 um 24.00 Uhr ab. Innerhalb dieser Frist wurden vom Kläger keine Klagen erhoben. Die am 22. Mai 1981 und am 16. September 1981 eingereichten Klagen waren verspätet.

7. Zwar ist einem Kläger, der ohne eigenes Verschulden gehindert war, die gesetzliche Klagefrist einzuhalten, auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Dies setzt jedoch voraus, daß der Kläger darlegt, ohne eigenes Verschulden an der Einhaltung der Klagefrist gehindert gewesen zu sein, und daß er die von ihm darzulegenden Tatsachen glaubhaft macht. Nach den tatsächlichen Feststellungen des FG fehlt es an beiden Voraussetzungen. Den Darlegungen des Klägers ist nicht zu entnehmen, weshalb er nicht innerhalb der Klagefrist Klage erheben konnte. Auch fehlt es an jeder Glaubhaftmachung. Ist aber eine Wiedereinsetzung des Klägers wegen Versäumnis der Klagefrist rechtlich nicht möglich, so erwuchsen die angefochtenen Einkommen- und Umsatzsteuerbescheide 1976 mit Ablauf des 8. Mai 1981 in Bestandskraft. Die Bestandskraft steht der Prüfung der materiellen Rechtmäßigkeit der Bescheide durch die Gerichte der Finanzgerichtsbarkeit entgegen.

8. Das FG ist in entscheidungserheblicher Weise von einer anderen Rechtsauffassung ausgegangen. Die Vorentscheidungen können deshalb keinen Bestand haben. Sie waren aufzuheben. Die Klagen sind entscheidungsreif. Sie waren abzuweisen, weil die angefochtenen Steuerbescheide mit Ablauf des 8. Mai 1981 in Bestandskraft erwachsen sind.