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BFH-Urteil vom 17.11.1987 (VIII R 348/82) BStBl. 1988 II S. 430

Ein Kaufmann, der mit dem anderen Vertragsteil über die Änderung oder Aufhebung eines geschlossenen Vertrags verhandelt, darf nach dem Grundsatz vorsichtiger Bilanzierung von dem Ansatz einer Rückstellung oder einer Verbindlichkeit, die sich aus dem bestehenden Vertrag ergibt, erst dann absehen, wenn der Vertrag geändert oder aufgehoben ist.

EStG § 5 Abs. 1; AktG 1965 § 152 Abs. 7 Satz 1; HGB n.F. § 249 Abs. 1 Satz 1.

Sachverhalt

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist eine GmbH & Co. KG, die zur sog. Z-Gruppe gehört. Nach ihrem Vorbringen erteilte sie am 24. Oktober 1973 einer Werft den verbindlichen Auftrag zum Neubau eines Turbinentankers von 133.550 tdw. Die Werft nahm den Auftrag an. Der Preis des Schiffes sollte 93.500.000 DM betragen. Da infolge der Ölkrise der Schiffsbauauftrag für die Klägerin nicht mehr durchführbar war, fanden ab November 1973 Verhandlungen zwischen ihr und der Werft statt. Die Werft bot der Klägerin an, statt des bestellten Turbinentankers ein anderes Schiff in der Größenordnung von 130.000 tdw zu bauen. Die Klägerin zögerte die Entscheidung über die angebotene Umwandlungsmöglichkeit hinaus. In Aussicht genommen wurde zunächst der Bau eines Produktentankers. Ein Vertrag darüber ist nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) "allenfalls in den letzten Maitagen oder ersten Junitagen des Jahres 1974" zustandegekommen.

Am 14. Januar 1975 wurde der Schiffsbauauftrag gekündigt. Im Mai 1975 bestellten andere zur Z-Gruppe gehörende Gesellschaften bei der Werft drei Containerschiffe. Im Zuge dieser Auftragserteilung hoben die Klägerin und die Werft einvernehmlich den Auftrag zum Bau eines Turbinentankers vom 24. Oktober 1973 auf. Die Werft verzichtete auf die Berechnung von "Stornierungskosten" (§ 649 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -), die ca. 6 Mio. DM betragen hätten.

Die Klägerin stellte am 28. Mai 1974 ihre Bilanz zum 31. Dezember 1973 auf. In ihr wurde ein Verlust für 1973 in Höhe von 103.790 DM ausgewiesen. Durch Bescheid vom 3. Juli 1975 wurden die Einkünfte der Klägerin für 1973 erklärungsgemäß einheitlich und gesondert durch den Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) vorläufig festgestellt.

Im Rahmen einer 1975 bei der Klägerin durchgeführten Betriebsprüfung beantragte die Klägerin die Berichtigung ihrer Bilanz zum 31. Dezember 1973. Sie begehrte die Einstellung einer Rückstellung für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften in Höhe von 6 Mio. DM. Das FA erkannte eine solche Rückstellung nicht an. Es hob mit Bescheid vom 20. Juli 1977 den Vorbehalt der Nachprüfung, zu dem die ursprüngliche Vorläufigkeit geworden war (Art. 97 § 9 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung - EGAO 1977 -), auf.

Nach erfolglosem Einspruch erhob die Klägerin Klage, mit der sie ihr Begehren auf Bildung einer Rückstellung in Höhe von 6 Mio. DM in der Bilanz per 31. Dezember 1973 im Wege der Bilanzberichtigung weiterverfolgt. Über die Klage ist noch nicht entschieden.

Nach Einlegung des Einspruchs beantragte die Klägerin Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Gewinnfeststellungsbescheids. Das FA lehnte diesen Antrag ab. Die dagegen eingelegte Beschwerde blieb erfolglos. Daraufhin erhob die Klägerin Klage mit dem Ziel, die Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Bescheids zu erreichen. Die Klage hatte keinen Erfolg.

Mit ihrer Revision macht die Klägerin geltend: Die Ölkrise habe im November 1973 begonnen. Die Folge dieser Krise sei ein Verfall der Frachtraten für Rohöl gewesen. Für die Klägerin habe infolge der Ölkrise am 31. Dezember 1973 festgestanden, daß sie den im Oktober 1973 abgeschlossenen Schiffsbauvertrag habe nicht mehr erfüllen können. Am 31. Dezember 1973 seien die Rechte und Pflichten aus dem Schiffsbauvertrag deshalb nicht mehr ausgeglichen gewesen. Es habe die Gefahr bestanden, daß die Klägerin die bestellten Tanker nicht mehr bezahlen konnte.

Das FG habe seine Entscheidung lediglich damit begründet, daß bis zum Tage der Aufstellung der Bilanz per 31. Dezember 1973 der Schiffsbauvertrag noch nicht gekündigt worden sei. Es habe es unterlassen, die Zulässigkeit einer Rückstellungsbildung unter dem Gesichtspunkt des schwebenden Geschäfts zu prüfen.

Entscheidungsgründe

I. Die Revision ist zulässig.

Entgegen der Auffassung des FA erfüllt der Schriftsatz der Klägerin vom 14. Februar 1983 die Voraussetzungen, die an eine Revisionsbegründung zu stellen sind. Denn aus ihm kann entnommen werden, daß die Klägerin abweichend vom FG der Meinung ist, sie habe in der Bilanz zum 31. Dezember 1973 eine Rückstellung bilden müssen, weil ihr durch die Ende 1973 eingetretene Ölkrise die Erfüllung des Schiffsbauvertrags nicht mehr möglich gewesen sei, und ihr als Folge einer wahrscheinlichen Kündigung des Vertrags die Entstehung von "Stornierungskosten" gedroht hätte.

II. Die Revision ist auch begründet.

Entgegen der Auffassung des FG liegen im Streitfall die Voraussetzungen des § 361 Abs. 2 der Abgabenordnung - AO 1977 - (Aussetzung der Vollziehung durch das FA) vor. Es bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Gewinnfeststellungsbescheids.

1. Nach § 4 Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) darf ein Steuerpflichtiger seine Bilanz auch nach Einreichung beim FA ändern, soweit sie den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung unter Befolgung der Vorschriften des EStG nicht entspricht (Bilanzberichtigung). Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall vor, wenn die Klägerin nach den Verhältnissen am Bilanzstichtag (31. Dezember 1973) unter Berücksichtigung der bis zum Tage der Bilanzaufstellung (28. Mai 1974) erlangten Erkenntnisse über diese Verhältnisse verpflichtet gewesen wäre, die jetzt von ihr begehrte Rückstellung in Höhe von 6 Mio. DM zu bilden. Bei der im Verfahren über die Aussetzung der Vollziehung eines Verwaltungsakts gebotenen summarischen Prüfung ergibt sich, daß diese Rückstellung geboten war.

2. In der Handelsbilanz sind Rückstellungen zu bilden - wenn man von den in § 152 Abs. 7 Satz 2 des Aktiengesetzes (AktG) 1965 (heute § 249 Abs. 1 Satz 2 des Handelsgesetzbuches - HGB -) bezeichneten, hier nicht interessierenden Fällen absieht - für ungewisse Verbindlichkeiten und für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften (§ 152 Abs. 7 Satz 1 AktG 1965, heute § 249 Abs. 1 Satz 1 HGB).

a) Die Revision rügt mit Recht, daß das FG bei seiner Prüfung, ob diese Voraussetzungen vorlagen, allein darauf abgestellt habe, daß der Schiffsbauvertrag am 31. Dezember 1973 noch nicht gekündigt worden sei und demzufolge Ansprüche der Werft gegen die Klägerin aus § 649 BGB noch nicht bestanden hätten. Denn die Voraussetzungen einer Rückstellung für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften lagen gleichwohl vor.

Ein drohender Verlust aus einem schwebenden Geschäft ist gegeben, wenn ein gegenseitiger auf Leistungsaustausch gerichteter Vertrag abgeschlossen, noch von keiner der Vertragsparteien erfüllt ist und die Verpflichtungen aus dem Vertrag nicht mehr ausgewogen sind, weil der Wert der eigenen Verpflichtung den Wert des Anspruches auf die Gegenleistung übersteigt.

Der Wert des Anspruchs auf Lieferung eines Wirtschaftsguts liegt nicht höher, als der Wert des Wirtschaftsguts selbst, wenn es bereits zu bilanzieren wäre (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 25. Februar 1986 VIII R 377/83, BFHE 146, 146, 148, BStBl II 1986, 465). Daher ist im Streitfall zu prüfen, wie hoch der Teilwert des bestellten Turbinentankers am Bilanzstichtag vom 31. Dezember 1973 für die Klägerin war. Bei summarischer Prüfung kann davon ausgegangen werden, daß sich die Bestellung des Turbinentankers infolge der Ölkrise, die kurz nach der Bestellung eintrat, als Fehlmaßnahme herausstellte. In diesem Fall entspricht der Teilwert nicht mehr den Anschaffungskosten (Moxter, Bilanzrechtsprechung, 2. Aufl., S. 185 ff.). Er liegt im Streitfall wegen der Auswirkungen der Ölkrise weit unter dem vereinbarten Anschaffungspreis von 93.500.000 DM. Gleichwohl hatte die Klägerin eine Rückstellung nur in Höhe der bei einer Kündigung des Vertrags geschuldeten Vergütung (§ 649 BGB) zu bilden, weil zu erwarten war, daß die Klägerin sich wie ein verständiger Kaufmann verhalten und bei einem Scheitern der Verhandlungen über die Herstellung eines anderen Schiffs den Vertrag nach § 649 BGB kündigen würde. Die dann nach dieser Vorschrift geschuldete Vergütung kann bei summarischer Prüfung der Angaben der Klägerin mit 6 Mio. DM angenommen werden.

b) Am Bilanzstichtag vom 31. Dezember 1973 fanden allerdings zwischen der Klägerin und der Werft Verhandlungen über die Umwandlung des Vertrages vom 24. Oktober 1973, der den Bau eines Turbinentankers zum Gegenstand hatte, in einen Vertrag über den Bau eines anderen Schiffes statt. Diese Verhandlungen gelangten aber nach den Feststellungen des FG allenfalls im Mai/Juni 1974 zu einem vorläufigen Abschluß durch einen Vertrag, der den Bau eines Produktentankers zum Gegenstand hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt bestanden die Rechte und Pflichten aus dem Vertrag vom 24. Oktober 1973. Nach den Feststellungen des FG wurden die Verhandlungen der Klägerin und der Werft über den Austausch des Vertragsgegenstands "von beiden Seiten unter dem Eindruck der grundsätzlichen Bindungswirkung des von der Werft angenommenen Neubau-Auftrags vom 24. Oktober 1973" geführt. Damit bestand am Bilanzstichtag vom 31. Dezember 1973 auch die Verpflichtung der Klägerin zur Zahlung von 93.500.000 DM an die Werft gegen Lieferung eines Schiffes, das für sie erheblich an Wert verloren hatte, eine Verpflichtung, die allerdings durch Kündigung nach § 649 BGB vermindert werden konnte.

Unter diesen Umständen war in der Handelsbilanz und damit auch in der Steuerbilanz der Klägerin zum 31. Dezember 1973 der Ansatz einer Rückstellung für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften in Höhe von 6 Mio. DM geboten. Ein Kaufmann, der mit dem anderen Vertragsteil über die Änderung oder Aufhebung eines geschlossenen Vertrags verhandelt, darf nach dem Grundsatz vorsichtiger Bilanzierung von dem Ansatz einer Rückstellung oder einer Verbindlichkeit, die sich aus dem bestehenden Vertrag ergibt, erst dann absehen, wenn der Vertrag geändert oder aufgehoben ist. Das war im Streitfall frühestens im Mai/Juni 1974 der Fall. Die Änderung oder Aufhebung des Vertrags nach dem Bilanzstichtag - im Streitfall möglicherweise durch den Vertrag über den Bau eines Produktentankers vom Mai/Juni 1974 - ist auch, weil rechtsgestaltend, keine aufhellende Tatsache, die bei Aufstellung der Bilanz zu berücksichtigen wäre (vgl. BFH-Urteil vom 4. April 1973 I R 130/71, BFHE 109, 55, BStBl II 1973, 485). Im Falle einer Rückstellung, die, wie im Streitfall, auf einer dem Grunde nach gewissen Verbindlichkeit beruht, ist davon auszugehen, daß der Gläubiger von seinen Rechten Gebrauch machen wird, die Gefahr der Inanspruchnahme ist damit gegeben (BFH-Urteil vom 27. November 1968 I 162/64, BFHE 94, 383, BStBl II 1969, 247).

3. Dem Ansatz der Rückstellung in der Steuerbilanz der Klägerin steht nicht entgegen, daß die Klägerin zunächst keine Rückstellung dieser Art gebildet hatte.

Denn für die Frage, ob die Bilanz falsch und deshalb zu berichtigen ist, kommt es allein darauf an, ob der Kaufmann unter Berücksichtigung der bei Bilanzaufstellung bestehenden Erkenntnismöglichkeiten nach den handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsmäßiger Bilanzierung zum Ansatz einer Rückstellung verpflichtet war; es ist dagegen unerheblich, aus welchen Gründen er es unterlassen hat, bei Aufstellung der Bilanz aus den ihm bekannten Tatsachen (hier Ölkrise und der dadurch bedingten Nichtmehrverwendbarkeit des bestellten Schiffs) die richtigen Folgerungen zu ziehen (BFH-Urteil vom 21. Oktober 1981 I R 170/78, BFHE 134, 311, BStBl II 1982, 121).