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BFH-Urteil vom 6.11.1987 (III R 241/83) BStBl. 1988 II S. 438

1. Besteht für ein Kind keine Lernmittelfreiheit, so ist für die Gewährung des Ausbildungsfreibetrages nach der Lebenserfahrung davon auszugehen, daß auch Aufwendungen für die Anschaffung entsprechender Lernmittel (insbesondere Bücher) erwachsen.

2. Für Veranlagungszeiträume vor 1982 ist der Ausbildungsfreibetrag für nicht unbeschränkt steuerpflichtige Kinder (bei einer Ausbildung im Ausland) nicht entsprechend § 33a Abs. 1 Satz 4 EStG zu kürzen.

EStG 1979 § 33a Abs. 2, Abs. 1 Satz 4; AO 1977 § 90 Abs. 2; FGO § 76 Abs. 1 Satz 4.

Vorinstanz: FG Berlin

Sachverhalt

I.

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) und seine Ehefrau, beide jugoslawische Staatsangehörige, wohnten im Streitjahr 1980 in Berlin (West). Der Kläger bezog Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Die gemeinsame Tochter G (geboren im August 1966) lebte in Jugoslawien und besuchte die siebente Klasse der Hauptschule in O. G war nicht von der Anschaffung von Lernmitteln befreit. Der Kläger bestritt den Unterhalt der Tochter.

Er und seine Ehefrau begehrten im Antrag auf Lohnsteuer-Jahresausgleich 1980 wegen von ihnen getragener Aufwendungen für G die Gewährung des Ausbildungsfreibetrages gemäß § 33a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) 1979 in Höhe von 1.800 DM. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) lehnte dies - auch im Einspruchsverfahren - ab.

Die Klage hatte in vollem Umfang Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte im wesentlichen aus: Unter den Beteiligten sei unstreitig, daß dem Kläger Aufwendungen für seine Tochter erwachsen seien. Entgegen der Auffassung des FA habe der Kläger auch hinreichend glaubhaft gemacht, daß ihm Aufwendungen für die Berufsausbildung (im engeren Sinn) entstanden seien. Anhaltspunkte für die gegenteilige Annahme ergäben sich weder aus dem Akteninhalt noch aus dem Vortrag des FA. Es spreche vielmehr die allgemeine Lebenserfahrung dafür, daß irgendwelche Ausbildungskosten angefallen seien, zumal nach den glaubhaften Darlegungen des Klägers in Jugoslawien keine Lernmittelfreiheit bestehe. Zu einer anderen Betrachtung zwinge auch nicht § 90 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977).

Das FG entsprach dem Klageantrag auch der Höhe nach; es lehnte eine Kürzung entsprechend der Regelung für Unterhaltsaufwendungen in § 33a Abs. 1 Satz 4 EStG 1979 (zur Anpassung an die Verhältnisse des Wohnsitzstaates) ab.

Mit der vom FG zugelassenen Revision rügt das FA die Verletzung von § 33a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 EStG 1979 und von § 90 Abs. 2 AO 1977. Es macht geltend, die Gewährung eines Ausbildungsfreibetrages setze voraus, daß dem Steuerpflichtigen nachweisbar spezifische Aufwendungen für die Berufsausbildung des Kindes erwachsen seien. Die bloße Vermutung hierfür reiche nicht aus. Der Kläger sei nach § 90 Abs. 2 AO 1977 zur Abwendung des Beweisnotstandes zu einer erhöhten Sachaufklärung verpflichtet.

Das FA beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist unbegründet.

Das FG ist zutreffend davon ausgegangen, daß dem Kläger im Streitjahr Aufwendungen für die Berufsausbildung seiner Tochter erwachsen sind. Es hat auch die übrigen Voraussetzungen des § 33a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 EStG 1979 zu Recht bejaht.

1. Nach dieser Vorschrift wird bei einem Steuerpflichtigen, dem Aufwendungen für die Berufsausbildung eines Kindes erwachsen, für das er Anspruch auf Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz (BKGG) hat, auf Antrag ein Betrag von 1.800 DM im Kalenderjahr vom Gesamtbetrag der Einkünfte abgezogen, wenn das Kind das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat und auswärtig untergebracht ist.

a) Die Tochter des Klägers besuchte die Hauptschule in O/Jugoslawien. Es bestand für sie keine Lernmittelfreiheit; d. h. der Schulträger stellte die erforderlichen "Unterrichtshilfen in der Hand des Schülers" nicht kostenlos zur Verfügung (s. Brockhaus, Enzyklopädie, "Lernmittel", und Meyers Großes Universallexikon, "Lernmittelfreiheit"). Das FG hat daraus unter Berufung auf die allgemeine Lebenserfahrung den Schluß gezogen, daß der Kläger im Streitjahr auch Ausbildungskosten seiner (auswärtig untergebrachten) Tochter zu tragen hatte.

Der erkennende Senat hält diese Würdigung im Streitfall für überzeugend. Das FA hat die zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen des FG nicht angegriffen, so daß sie den Senat bei seiner Entscheidung binden (§ 118 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Das gilt sowohl für die fehlende Lernmittelfreiheit als auch den Umstand, daß der Kläger (ganz allgemein) Aufwendungen für seine Tochter getragen hatte. Weiter durfte das FG im Streitfall auch auf die allgemeine Lebenserfahrung zurückgreifen.

Ob einem Steuerpflichtigen tatsächlich Aufwendungen für die Berufsausbildung eines Kindes erwachsen, ist zwar grundsätzlich für jeden Fall im einzelnen und konkret festzustellen (s. auch Sunder-Plassmann in Littmann/Bitz/Meincke, Das Einkommensteuerrecht, 14. Aufl., § 33a Anm. 62, sowie die Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 19. August 1983 VI R 62/80, und vom 25. März 1983 VI R 205/79, jeweils nicht veröffentlicht - NV -). Doch hält es der Senat für vertretbar, bei fehlender Lernmittelfreiheit nach der Lebenserfahrung davon auszugehen, daß den Eltern auch Aufwendungen für die Anschaffung entsprechender Unterrichtshilfen für ihre Kinder (wie insbesondere Bücher und Schreibmaterial) entstehen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn weder behauptet noch sonst ersichtlich ist, daß tatsächlich keinerlei Ausbildungskosten angefallen sind.

So verhält es sich auch im Streitfall. Das FA hat die Möglichkeit, daß dem Kläger aufgrund der Anschaffung von Lernmitteln durch seine Tochter Aufwendungen entstanden sind, nicht schlechthin in Abrede gestellt. Es hat lediglich auf einem strikten Nachweis dieser Aufwendungen bestanden. Diesem Begehren hätte das FG nach den Regeln des prima-facie-Beweises (s. hierzu näher List in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 96 FGO Anm. 6 ff., mit zahlreichen Hinweisen) aber nur dann entsprechen müssen, wenn das FA die ernsthafte Möglichkeit eines im Streitfall atypischen Geschehensablaufes dargelegt hätte (s. auch das BFH-Urteil vom 13. November 1979 VIII R 93/73, BFHE 129, 53, BStBl II 1980, 69; desgleichen Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a. a. O., § 88 AO 1977 Anm. 77). Das war jedoch nicht der Fall. Ein entsprechend atypischer Geschehensablauf ist auch für den Senat nicht ersichtlich.

Dieser Würdigung steht § 90 Abs. 2 AO 1977 nicht entgegen. Die Vorschrift gilt gemäß § 76 Abs. 1 Satz 4 FGO zwar auch im FG-Verfahren. Doch beseitigt sie nicht den Untersuchungsgrundsatz und den Grundsatz der freien Beweiswürdigung einschließlich der übrigen allgemeinen Beweisregeln (s. auch Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 90 AO 1977 Tz. 6 Abs. 8). Das FA übersieht insbesondere, daß § 90 Abs. 2 AO 1977 erst eingreifen kann, wenn ein tatsächlicher Vorgang überhaupt beweisbedürftig ist. Daran fehlt es im Streitfall jedoch wegen des oben dargestellten Rückgriffs auf die allgemeine Lebenserfahrung (s. hierzu näher Tipke/Kruse, a. a. O., § 81 FGO Tz. 2 und 3).

Der Senat weicht mit seiner Auffassung schließlich auch nicht von den BFH-Urteilen VI R 62/80 und VI R 205/79 (a. a. O.) ab. Denn dort hatte die Vorinstanz in keinem Fall Feststellungen zur Lernmittelfreiheit getroffen.

b) Daß im Streitfall nicht feststeht, wie hoch die vom Kläger für seine Tochter getragenen Aufwendungen waren, ist nicht entscheidend. § 33a Abs. 2 EStG ist eine typisierende Regelung. Der Ausbildungsfreibetrag wird, wenn Aufwendungen dieser Art überhaupt angefallen sind, unabhängig davon gewährt, wie hoch die tatsächlichen Aufwendungen des Steuerpflichtigen waren (s. zuletzt BFH-Urteil vom 7. März 1986 III R 177/80, BFHE 146, 386, BStBl II 1986, 554, Abschn. 3 b, bb der Entscheidungsgründe).

2. Zutreffend hat das FG dem Kläger den Freibetrag auch in voller Höhe von 1.800 DM gewährt.

Der Senat folgt nicht der verschiedentlich vertretenen Auffassung, die Freibeträge nach § 33a Abs. 2 Satz 1 EStG seien bei einer Ausbildung im Ausland auch schon für das Streitjahr 1980 entsprechend § 33a Abs. 1 Satz 4 EStG zu kürzen (so z. B. Schmidt/Drenseck, Einkommensteuergesetz, 4. Aufl., § 33a Anm. 4 c; Sunder-Plassmann, a. a. O., § 33a Anm. 72; auch Urteil des FG Nürnberg vom 10. Juli 1980 VI 339/78, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1980, 602).

Eine ausdrückliche gesetzliche Verpflichtung zur Kürzung besteht erstmals für den Veranlagungszeitraum 1982 (aufgrund der Einfügung eines neuen Satzes 3 in § 33a Abs. 2 EStG durch Art. 26 Nr. 13b und Art. 41 Abs. 1 des 2. Haushaltsstrukturgesetzes - 2. HStruktG - vom 22. Dezember 1981, BGBl I 1981, 1523, BStBl I 1982, 235). Sie geht zurück auf eine gemeinsame Beschlußempfehlung des Haushalts- und des Finanzausschusses, die wiederum einer Prüfungsbitte des Bundesrates entsprachen; erreicht werden sollte damit die "Anpassung der Freibeträge an die Verhältnisse des Wohnsitzstaates, wie dies bereits in § 33a Abs. 1 Satz 4 EStG für den Abzug von Unterhaltsleistungen geregelt ist" (so die Begründung zu Nr. 9 - § 33a - von Art. 25 des Gesetzentwurfs, BTDrucks 9/971 S. 88). Bereits diese Entstehungsgeschichte spricht dagegen, daß die Freibeträge auch schon für frühere Veranlagungszeiträume zu kürzen wären und § 33a Abs. 2 Satz 3 EStG 1981 nur klarstellende Wirkung zukommen könnte.

Eine analoge Anwendung des § 33a Abs. 1 Satz 4 EStG 1979 oder ein Rückgriff auf die dieser gesetzlichen Fixierung vorangegangene Rechtsprechung des BFH (insbesondere das Urteil vom 20. Januar 1978 VI R 170/76, BFHE 124, 505, BStBl II 1978, 342) verbietet sich aber insbesondere aus dem Umstand, daß keine Gesetzeslücke erkennbar ist. Es liegt vielmehr eine ausdrückliche und abschließende gesetzliche Regelung vor, daß die Kürzung der Ausbildungsfreibeträge für nicht unbeschränkt einkommensteuerpflichtige Kinder gemäß § 33a Abs. 2 Satz 3 EStG erst ab dem Veranlagungszeitraum 1982 gilt. In Art. 1 Nr. 19 Abs. 25 Satz 1, 2. Halbsatz des Gesetzes zur Wiederbelebung der Wirtschaft und Beschäftigung und zur Entlastung des Bundeshaushalts vom 20. Dezember 1982 (BGBl I 1982, 1857, BStBl I 1982, 972 = § 52 Abs. 25 Satz 1 EStG 1983) ist nämlich bestimmt, daß § 33a Abs. 2 Sätze 2 bis 7 EStG erstmals für den Veranlagungszeitraum 1982 anzuwenden ist. Damit ist gesetzlich ausdrücklich geregelt, daß die durch das 2. HStruktG eingeführte Kürzung der Ausbildungsfreibeträge für Auslandsaufwendungen erstmals für den Veranlagungszeitraum 1982 anzuwenden ist. Diese Regelung des zeitlichen Anwendungsbereichs (u. a. auch) der Kürzungsvorschrift des § 33a Abs. 2 Satz 3 EStG für Auslandsaufwendungen erging in Kenntnis der 1979 eingeführten Vorschrift des § 33a Abs. 1 Satz 4 EStG, in Kenntnis der Rechtsprechung des BFH in BFHE 124, 505, BStBl II 1978, 342 und insbesondere auch in Kenntnis der speziell die Kürzung von Auslandsaufwendungen i. S. von § 33a Abs. 2 EStG betreffenden Entscheidung des FG Nürnberg in EFG 1980, 602.

Scheidet im Hinblick auf die ausdrücklich abweichende gesetzliche Regelung des § 33a Abs. 2 EStG 1979 eine analoge Anwendung des § 33a Abs. 1 Satz 4 EStG auf § 33a Abs. 2 EStG für Veranlagungszeiträume vor 1982 wegen Fehlens einer Gesetzeslücke aus (s. hierzu z. B. den Beschluß des BFH vom 21. November 1983 GrS 2/82, BFHE 140, 50, BStBl II 1984, 160, Abschnitt C I 2 b, ee der Entscheidungsgründe), käme nur eine Auslegung des § 33a Abs. 2 EStG 1979 entgegen dem Wortlaut dieser Vorschrift in Betracht. Die engen Voraussetzungen, unter denen die Rechtsprechung des BFH die Auslegung einer Vorschrift gegen den Wortlaut zuläßt, liegen im Streitfall jedoch offensichtlich nicht vor (s. dazu z. B. das Urteil des BFH vom 1. August 1974 IV R 120/70, BFHE 113, 357, BStBl I 1975, 12, mit weiteren Hinweisen; ebenso Tipke/Kruse, a. a. O., § 4 AO Tz. 132). Gegen eine solche Auslegung spräche im übrigen auch, daß die Finanzverwaltung das Urteil des FG Nürnberg in EFG 1980, 602 ausdrücklich für über den Einzelfall hinaus nicht anwendbar erklärt hat (vgl. den Erlaß Hamburg 54 - S 2288 - 1/79 vom 26. Februar 1981, StEK EStG § 33a Abs. 2 Nr. 26).

Das vom Senat gefundene Ergebnis steht im Einklang mit der Auffassung der Finanzverwaltung (s. insbesondere Abschn. 191 Abs. 1 Satz 10 der Einkommensteuer-Richtlinien 1981) sowie einer vielfach vertretenen Meinung im Schrifttum (s. außer Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuergesetz und Körperschaftsteuergesetz mit Nebengesetzen, 19. Aufl., § 33a EStG Anm. 225; z. B. Fitsch in Lademann/Söffing/Brockhoff, Kommentar zum Einkommensteuergesetz, § 33a Anm. 79; Öpen in Blümich/Falk, Einkommensteuergesetz, 12. Aufl., § 33a Anm. I 2 m, sowie Wolf, Deutsches Steuerrecht 1977, 179, 181).