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BFH-Urteil vom 6.11.1987 (III R 178/85) BStBl. 1988 II S. 442

Es gibt keine allgemeine Lebenserfahrung, nach der für die Gewährung des Ausbildungsfreibetrages stets davon ausgegangen werden könnte, daß den Eltern für ein in Berufsausbildung befindliches Kind ausnahmslos auch entsprechende Ausbildungsaufwendungen erwachsen. Auf die Prüfung, ob Schulgeldfreiheit oder Lernmittelfreiheit ( = kostenlose Zurverfügungstellung von Unterrichtshilfen in der Hand des Lernenden) besteht, kann deshalb regelmäßig nicht verzichtet werden (Abgrenzung zum BFH-Urteil vom 6. November 1987 III R 241/83, BFHE 151, 416).

EStG § 33a Abs. 2; FGO § 96 Abs. 1 Satz 3.

Vorinstanz: FG Berlin

Sachverhalt

I.

Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger), Eheleute türkischer Staatsangehörigkeit, waren im Streitjahr 1981 als Arbeitnehmer in Berlin (West) beschäftigt. Ihr gemeinsamer Sohn Y lebte in der Zeit vom 15. September 1981 bis zum 1. Dezember 1982 in der Türkei und ging dort zur Schule.

Die Kläger begehrten in ihrem Antrag auf Durchführung des Lohnsteuer-Jahresausgleichs 1981 wegen angeblich von ihnen für ihren Sohn getragener Aufwendungen die Gewährung eines Ausbildungsfreibetrages gemäß § 33a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) 1979 in Höhe von 600 DM. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) lehnte dies - auch im Einspruchsverfahren - ab.

Die Klage hatte in vollem Umfang Erfolg. Den Anspruch der Kläger auf einen Freibetrag von nur 600 DM begründete das Finanzgericht (FG) mit der nach § 33a Abs. 4 EStG 1979 erforderlichen zeitanteiligen Kürzung.

Das FA rügt mit der vom FG zugelassenen Revision die Verletzung von § 33a Abs. 2 EStG, § 90 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) und § 96 Abs. 1 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO).

Das FA beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kläger beantragen, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.

Dieses hat keine ausreichenden Tatsachenfeststellungen getroffen.

1. § 33a Abs. 2 EStG 1979 setzt für die Gewährung eines Ausbildungsfreibetrages u.a. voraus, daß dem Antragsteller Aufwendungen für die Berufsausbildung des betreffenden Kindes "erwachsen" sind. Daraus folgt, daß einem Steuerpflichtigen, der keine derartigen Aufwendungen hat, kein Ausbildungsfreibetrag gewährt werden kann. Das ist z.B. dann der Fall, wenn ein Dritter, wie etwa der Dienstherr, sämtliche Kosten übernimmt (s. hierzu auch Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz mit Nebengesetzen, Kommentar, 19. Aufl., § 33a EStG Anm. 196, mit Rechtsprechungsnachweisen).

Wie die maßgebenden Verhältnisse im Streitfall lagen, hat das FG nicht festgestellt. Es hat insoweit lediglich ausgeführt, daß nach der "Lebenserfahrung der Mitglieder des erkennenden Senats" selbst bei staatlich gewährleisteter Lernmittelfreiheit immer noch unterrichtsbezogene Aufwendungen anfielen. Damit ist aber weder hinreichend festgestellt, ob derartige Aufwendungen tatsächlich angefallen sind, noch, wer sie, sollten sie angefallen sein, getragen hat.

a) Anders als im Fall des Senatsurteils III R 241/83 (BFHE 151, 416) hat sich das FG hier nicht auf einen allgemeinen Erfahrungssatz berufen, sondern auf die "Lebenserfahrung der erkennenden Instanzrichter". Derartige spezielle Erfahrungen sind aber als sog. Erfahrungstatsachen vom Gericht in gleicher Weise festzustellen wie entscheidungserhebliche Tatsachen (s. z.B. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 3. Mai 1974 IV C 31/72, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Finanzgerichtsordnung, § 96, Rechtsspruch 54, Monatsschrift für Deutsches Recht - MDR - 1974, 957; auch Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 96 FGO Tz. 2 Abs. 7). Das Gericht muß angeben, woher es die Kenntnis von seinem Erfahrungssatz hat (Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 9. Dezember 1969 10 RV 789/66, StRK, Finanzgerichtsordnung, § 96, Rechtsspruch 30, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1971, 167). Aus der Entscheidung muß ersichtlich sein, aufgrund welcher Unterlagen oder Erwägungen das Gericht zu den für die Entscheidung erforderlichen, von ihm selbst zu treffenden tatsächlichen Feststellungen und seinen rechtlichen Folgerungen gelangt ist (§ 96 Abs. 1 Satz 3 FGO; s. auch List in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 96 FGO Anm. 52, mit Hinweisen auch auf einschlägige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs - BFH -).

Diese Angaben (wie z.B. Kenntnisse aus früheren Verfahren, aus wissenschaftlichen Untersuchungen usw.) fehlen im Streitfall. Sie wären um so mehr erforderlich gewesen, als es in der Bundesrepublik Deutschland keine allgemeine Lebenserfahrung gibt, ob in der Türkei beim Schulbesuch von Kindern als solchem Kosten entstehen oder nicht (so z.B. auch Sunder-Plassmann in Littmann/Bitz/Meincke, Das Einkommensteuerrecht, 14. Aufl., § 33a Anm. 62, unter Hinweis auf das BFH-Urteil vom 19. August 1983 VI R 62/80, nicht veröffentlicht - NV -).

b) Weiter hat das FG nicht festgestellt, wer die seiner Auffassung nach angefallenen Ausbildungsaufwendungen getragen hat. Aus den Urteilsgründen ergibt sich nicht einmal, ob die Kläger überhaupt Leistungen für ihren in der Türkei lebenden Sohn erbracht haben.

2. Das FG wird die fehlenden Feststellungen nachholen. Sollte es zu dem Ergebnis kommen, daß den Klägern (auch) Unterbringungskosten für ihren Sohn entstanden sind, so würde bereits dies die Gewährung des beantragten Freibetrages rechtfertigen (s. hierzu Urteil des Senats in der Streitsache III R 112/85 vom 6. November 1987, BFHE 151, 422). Gleiches gilt für den Fall, daß das FG feststellt, für den Sohn der Kläger habe keine Lernmittelfreiheit bestanden (s. hierzu das bereits genannte Urteil des Senats III R 241/83).