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BFH-Urteil vom 14.4.1988 (IV R 219/85) BStBl. 1988 II S. 711

Werden die in einem Grundlagenbescheid festgestellten Besteuerungsgrundlagen in einem Folgebescheid nicht zutreffend berücksichtigt, so ist der Folgebescheid nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 zu ändern.

AO 1977 § 175 Abs. 1 Nr. 1.

Vorinstanz: FG Nürnberg (EFG 1985, 427)

 

Sachverhalt

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist Kommanditistin einer KG, deren Einkünfte beim Betriebs-FA gemäß § 180 Abs. 1 Nr. 2a der Abgabenordnung (AO 1977) einheitlich und gesondert festgestellt werden.

Im Rahmen der Feststellung der Einkünfte, die die KG im Streitjahr 1976 erzielt hatte, wies das Betriebs-FA der Klägerin einen Anteil am laufenden Gewinn in Höhe von 13.044 DM und einen Veräußerungsgewinn in Höhe von 32.676 DM zu (Bescheid vom 14. September 1977).

Bei der Veranlagung der Klägerin zur Einkommensteuer 1976 setzte das Wohnsitz-FA zwar den ihm mitgeteilten Anteil am laufenden Gewinn, nicht aber den Veräußerungsgewinn als Besteuerungsgrundlage an. Der Bescheid (vom 18. April 1978) wurde bestandskräftig.

Am 6. Dezember 1978 erließ das Betriebs-FA für das Streitjahr 1976 einen geänderten Feststellungsbescheid, mit dem es den Anteil der Klägerin am laufenden Gewinn weiterhin unverändert mit 13.044 DM, den auf die Klägerin entfallenden Veräußerungsgewinn aber nunmehr mit 28.311 DM feststellte.

Aufgrund dieser Mitteilung änderte das Wohnsitz-FA den Einkommensteuerbescheid 1976 "gemäß § 175 Nr. 1 AO"; es setzte nunmehr als Einkünfte aus Gewerbebetrieb den gesamten Betrag von (13.044 DM + 28.311 DM =) 41.355 DM an; auf den im Gesamtbetrag enthaltenen Veräußerungsgewinn wendete es gemäß § 34 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) einem ermäßigten Steuersatz an (Bescheid vom 9. Januar 1979).

Hiergegen richtete sich der Einspruch. Die Klägerin vertrat die Auffassung, daß der Veräußerungsgewinn im Änderungsbescheid vom 9. Januar 1979 nicht hätte angesetzt werden dürfen, da er auch im ursprünglichen Bescheid vom 18. April 1978 nicht erfaßt worden sei.

Den Einspruch wies das Wohnsitz-FA zurück.

Mit der Klage begehrte die Klägerin weiterhin, daß der Veräußerungsgewinn bei der Einkommensteuerveranlagung unberücksichtigt bleibe.

Während des Klageverfahrens änderte das Betriebs-FA seine Feststellungen über die Einkünfte der KG für das Streitjahr nochmals durch Bescheide vom 7. Juni 1979 und vom 30. Oktober 1980. Das Wohnsitz-FA erließ hierauf Änderungsbescheide für die Einkommensteuer (vom 4. Juli 1979 und vom 5. März 1981); ein weiterer Änderungsbescheid erging am 3. April 1981 gemäß § 172 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977. Sämtliche Bescheide wurden jeweils gemäß § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zum Gegenstand des Verfahrens gemacht.

Die Klage hatte Erfolg. Zur Begründung führte das Finanzgericht (FG) in seinem - in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1985, 427 veröffentlichten - Urteil aus, nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 sei ein Steuerbescheid zu ändern, soweit ein Grundlagenbescheid erlassen, aufgehoben oder geändert werde. Eine Folgeänderung sei nur in dem Rahmen möglich, der durch die Änderung des Grundlagenbescheids gezogen werde. Auch bei mehrmaligen Änderungen eines Grundlagenbescheids dürfe der Folgebescheid nicht mehr geändert werden, wenn das FA beim erstmaligen Erlaß eines endgültigen und vorbehaltlosen, bestandskräftig gewordenen Folgebescheids eine im Grundlagenbescheid enthaltene Besteuerungsgrundlage nicht berücksichtigt habe. Im Streitfall habe das Wohnsitz-FA den im Grundlagenbescheid ausgewiesenen Veräußerungsgewinn im Einkommensteuerbescheid vom 18. April 1978 nicht angesetzt. Es habe ihn vielmehr als steuerfrei behandelt, obwohl in der Mitteilung des Betriebs-FA keine Angaben zu dem steuerfreien Teil des Veräußerungsgewinns sowie über den Anteil am Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG enthalten gewesen seien.

Mit der - vom FG wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen - Revision rügt das Wohnsitz-FA u.a. die Verletzung des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977. Zweck dieser Vorschrift sei die Anpassung des Folgebescheids an den Grundlagenbescheid. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) könne die Anpassung an einen Grundlagenbescheid auch dann noch vorgenommen werden, wenn die Möglichkeit hierzu bereits vor Erlaß des Folgebescheids bestanden habe (Urteile vom 5. Mai 1981 VIII R 103/78, BFHE 134, 210, BStBl II 1982, 99, und vom 9. August 1983 VIII R 55/82, BFHE 139, 341, BStBl II 1984, 86). Wenn hiernach sogar das völlige Außerachtlassen eines Grundlagenbescheids nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 nachträglich berücksichtigt werden könne, dann sei nicht einzusehen, weshalb bei der Anpassung einzelner Besteuerungsgrundlagen ein engerer Maßstab angelegt werden solle. Deshalb müsse eine Anpassung auch im Falle einer unrichtigen Auswertung von Grundlagenbescheiden erfolgen können.

Das FA beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und die Einkommensteuer mit 10.526 DM festzusetzen, hilfsweise, das FG-Urteil dahin abzuändern, daß der Veräußerungsgewinn mit 3.965 DM berücksichtigt werde.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung. Entgegen der Auffassung des FG kann die Änderung des erstmalig ergangenen Einkommensteuerbescheids vom 18. April 1978 aufgrund des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 nicht beanstandet werden.

1. Nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 ist ein Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Grundlagenbescheid (§ 171 Abs. 10 AO 1977), dem Bindungswirkung für diesen Steuerbescheid zukommt, erlassen, aufgehoben oder geändert wird.

Wortlaut und Zweck dieser Regelung gebieten, daß auch Fehler, die bei der Auswertung eines Grundlagenbescheids im Folgebescheid unterlaufen sind, nachträglich richtigzustellen sind.

a) Die Bindungswirkung eines Grundlagenbescheids beinhaltet, daß das für den Erlaß eines Folgebescheids zuständige FA verpflichtet ist, die Folgerungen aus dem Grundlagenbescheid zu ziehen (vgl. BFH-Urteile in BFHE 134, 210, BStBl II 1982, 99, und in BFHE 139, 341, BStBl II 1984, 86, sowie vom 6. November 1985 II R 255/83, BFHE 145, 117, BStBl II 1986, 168). Die Vorschrift des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 stellt die Anpassung des Folgebescheids mithin nicht in das Ermessen der Finanzbehörden. Sie bezweckt die Ermittlung der zutreffenden Steuer, wobei sie der materiellen Richtigkeit des Folgebescheids mithin nicht in das Ermessen der Finanzbehörden. Sie bezweckt die Ermittlung der zutreffenden Steuer, wobei sie der materiellen Richtigkeit des Folgebescheids den Vorrang vor der Bestandskraft eines bereits ergangenen Folgebescheids einräumt (Urteil in BFHE 139, 341, BStBl II 1984, 86).

Insofern unterscheidet sich die Vorschrift des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 von anderen Änderungsvorschriften (wie z.B. § 173 AO 1977), aufgrund deren die Bestandskraft von Bescheiden nur in genau bezeichneten Ausnahmefällen durchbrochen werden kann. Im Rahmen jener Vorschriften wird die Bestandskraft eines Bescheids im Hinblick auf den Vertrauensschutz höher bewertet als die Richtigkeit des Bescheids.

Daß der Vorschrift des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 eine geringere Wertung des Vertrauensschutzes zugrunde liegt, ergibt sich aus dem Verhältnis zwischen Grundlagen- und Folgebescheid. Eines Vertrauensschutzes bedarf es nicht, wenn bereits ein Grundlagenbescheid ergangen ist und der Steuerpflichtige mit einer Auswertung dieses Grundlagenbescheids in einem Folgebescheid rechnen muß. Nach der Aufgabe, die das Gesetz dem Grundlagenbescheid zugedacht hat, soll dieser dem Folgebescheid in verbindlicher Weise bestimmte Besteuerungsgrundlagen zuführen. Solange diese Besteuerungsgrundlagen im Folgebescheid nicht (oder nicht vollständig) berücksichtigt sind, ist die dem Grundlagenbescheid zugedachte Aufgabe nicht erfüllt (vgl. BFH-Urteil vom 13. Dezember 1985 III R 204/81, BFHE 145, 545, BStBl II 1986, 245).

Aus diesen Erwägungen wird nach der Rechtsprechung des BFH die Verpflichtung zur Anpassung des Folgebescheids nicht beseitigt, wenn das für den Erlaß des Folgebescheids zuständige FA den ihm bereits bekanntgegebenen Grundlagenbescheid übersehen hat (Urteil in BFHE 139, 341, BStBl II 1984, 86).

b) Die Verpflichtung zur (zutreffenden) Anpassung bleibt aus den genannten Erwägungen auch dann bestehen, wenn das FA bei Erlaß des Folgebescheids die rechtliche Bedeutung des Grundlagenbescheids zunächst verkannt hat und deshalb den Inhalt des Grundlagenbescheids nicht oder nicht in der richtigen Weise in den Folgebescheid übernommen hat. Da für eine selbständige steuerrechtliche Würdigung der im Grundlagenbescheid mit Bindungswirkung festgestellten Besteuerungsgrundlagen kein Raum ist (BFH-Urteil vom 9. Oktober 1985 I R 193/84, BFHE 144, 565, BStBl II 1986, 93; rechtskräftiges Urteil des FG Münster vom 20. Mai 1980 VII 5.009/79 E, EFG 1981, 65), hat das für den Erlaß des Folgebescheids zuständige FA die bei einer vorausgegangenen Auswertung des Grundlagenbescheids gemachten "Anpassungsfehler" durch entsprechende Änderungen zu berichtigen (ebenso Anmerkung zum Urteil in BFHE 139, 341, BStBl II 1984, 86, in Höchstrichterlicher Finanzrechtsprechung - HFR - 1984, 94). Aus dem Wortlaut des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 kann nicht entnommen werden, daß die Verpflichtung zur Anpassung in derartigen Fällen eingeschränkt wäre. Auch der oben dargelegte Sinn und Zweck des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 sprechen dafür, daß eine Änderung des inzwischen bestandskräftigen Folgebescheids selbst dann geboten ist, wenn sie der Richtigstellung von Fehlern dient, die bei einer vorausgegangenen Auswertung eines Grundlagenbescheids im Folgebescheid unterlaufen sind.

c) Eine zeitliche Beschränkung für die Anwendung des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 ergibt sich lediglich aus den Vorschriften über die Festsetzungsverjährung (§ 169 Abs. 1 Satz 1 AO 1977; Urteil in BFHE 145, 545, BStBl II 1986, 245) und über die Feststellungsverjährung (§ 181 AO 1977; BFH-Urteil vom 12. August 1987 II R 202/84, BFHE 150, 319). Im übrigen ist eine Änderung des Folgebescheids nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 nur ausgeschlossen, wenn die Voraussetzungen für eine Verwirkung vorliegen (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 14. September 1978 IV R 89/74, BFHE 126, 130, BStBl II 1979, 121).

2. Bei Anwendung dieser Rechtsgrundsätze auf den Streitfall ergibt sich, daß das Wohnsitz-FA nicht nur nicht gehindert, sondern sogar verpflichtet war, den im gesonderten Gewinnfeststellungsbescheid vom 14. September 1977 (und in den nachfolgenden Bescheiden) vom Betriebs-FA festgestellten Veräußerungsgewinn als Besteuerungsgrundlage bei der Einkommensteuerveranlagung der Klägerin anzusetzen.

a) Das Betriebs-FA hat in dem Bescheid vom 14. September 1977 über die Feststellung der Einkünfte der KG für das Jahr 1976 einen der Klägerin zuzurechnenden Veräußerungsgewinn i. S. der §§ 16, 34 EStG in Höhe von 32 676 DM festgestellt.

Der Senat geht davon aus, daß der Bescheid alle nach dem Gesetz erforderlichen Angaben zum Veräußerungsgewinn aufwies. Zum notwendigen Inhalt eines Gewinnfeststellungsbescheids, der einen Veräußerungsgewinn zuweist, gehört eine Entscheidung über die Frage des Freibetrags nach § 16 Abs. 4 EStG (BFH-Beschluß vom 28. März 1974 IV B 58/73, BFHE 112, 171, BStBl II 1974, 459; BFH-Urteil vom 10. Juli 1986 IV R 12/81, BFHE 147, 63, BStBl II 1986, 811). Der Bescheid muß also entweder Angaben hinsichtlich des Anteils des Steuerpflichtigen an dem Freibetrag enthalten, wobei auf das Verhältnis seines Veräußerungsgewinns zum insgesamt zu erzielenden (bzw. erzielten) Veräußerungsgewinn abzustellen ist (vgl. BFH-Urteil vom 17. April 1980 IV R 174/76, BFHE 130, 497, BStBl II 1980, 566) oder es muß in dem Bescheid festgestellt werden, daß kein Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG zu gewähren ist. Diese zum notwendigen Inhalt eines Gewinnfeststellungsbescheids gehörenden Angaben waren in dem Bescheid vom 14. September 1977 enthalten. Das Betriebs-FA hat in der vordruckmäßig ausgefüllten Mitteilung an das Wohnsitz-FA vom 14. September 1977 weder angekreuzt, daß die "steuerfrei behandelten Teile des Veräußerungsgewinns ... bei der Einkommensteuerveranlagung des Beteiligten nach Maßgabe seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen ... sind", noch hat es die Spalte über den Anteil aus Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG ausgefüllt. Damit hat es mit hinreichender Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht, daß kein Freibetrag zu gewähren ist.

b) Es besteht die Möglichkeit, daß das Wohnsitz-FA aus der Mitteilung des Betriebs-FA vom 14. September 1977 den - irrtümlichen -Schluß gezogen hat, der festgestellte Veräußerungsgewinn sei steuerfrei und demgemäß im Folgebescheid nicht zu berücksichtigen; es ist aber auch denkbar, daß das Wohnsitz-FA den Veräußerungsgewinn zwar in vollem Umfang für steuerpflichtig hielt, infolge eines Versehens aber den Eingabewertbogen unrichtig, d.h. unter Nichtansatz des Veräußerungsgewinns, ausfüllte. In jedem Fall hätte die zu niedrige Festsetzung der Einkommensteuer gemäß den obigen Ausführungen auch noch nach Eintritt der Bestandskraft des Einkommensteuerbescheids berichtigt werden müssen.

Die Festsetzungsverjährung (§ 169 Abs. 1 Satz 1 AO 1977) war im Streitfall noch nicht eingetreten. Umstände, die auf eine Verwirkung der Änderungsmöglichkeit schließen lassen, sind nicht erkennbar.

Bei dieser Sachlage war auch bei den späteren Änderungen des Grundlagenbescheids (vom 6. Dezember 1978, 7. Juni 1979 und 30. Oktober 1980) davon auszugehen, daß der - jeweils als Veräußerungsgewinn festgestellte - Betrag nicht steuerfrei war. Das gilt insbesondere auch hinsichtlich des nunmehr gemäß § 68 FGO zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Einkommensteuerbescheids vom 3. April 1981.

Da das FG von anderen rechtlichen Voraussetzungen ausgegangen ist, kann seine Entscheidung keinen Bestand haben. Die Vorentscheidung ist aufzuheben.