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BFH-Urteil vom 21.4.1988 (IV R 215/85) BStBl. 1988 II S. 863

1. Die Möglichkeit der Änderung von Steuerbescheiden wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel i.S. von § 173 Abs. 1 AO 1977 und die Möglichkeit der Änderung von Steuerbescheiden wegen Eintritts eines rückwirkenden Ereignisses gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 schließen einander grundsätzlich aus.

2. Der steuerlich beratene Steuerpflichtige handelt i.d.R. selbst grob schuldhaft i.S. von § 173 Abs. 1 (Satz 1) Nr. 2 AO 1977, wenn er nicht rechtzeitig die den Antrag auf Verlustberücksichtigung nach § 2 Abs. 1 Satz 1 AIG vom 18. August 1969 (BGBl I, 1211, 1214, BStBl I, 477, 480) rechtfertigenden Tatsachen angibt.

AO 1977 § 173 Abs. 1 (Satz 1) Nr. 2, § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2.

Sachverhalt

Streitig ist, ob der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) verpflichtet ist, Einkommensteuerfestsetzungen wegen Eintritts eines rückwirkenden Ereignisses gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) bzw. nachträglichen Bekanntwerdens neuer Tatsachen oder Beweismittel zugunsten des Steuerpflichtigen zu ändern.

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) betrieb in den Streitjahren ein Büro für die Vermittlung von Kapitalanlagen. Durch Vertrag vom 31. Januar 1969 hatte er mit anderen Gesellschaftern die Firma A-GmbH & Co. KG in X/Österreich (A-KG) gegründet. An dem Gesellschaftskapital in Höhe von 100.000 öS war er mit 24.000 öS beteiligt.

Weiter hatte der Kläger durch Vertrag vom 17. Juli 1971 die Firma B-GmbH & Co. KG in X/Österreich gegründet, die später in die C-GmbH & Co. KG (C-KG) geändert wurde.

Die Gesellschaften sind seit dem 1. April 1973 fusioniert.

Aufgrund der Feststellungen der österreichischen Finanzverwaltung ergaben sich für den Kläger nach dem maßgeblichen Währungsschlüssel folgende Einkünfte aus den österreichischen Beteiligungen:

 

A-KG

C-KG

Summe in DM

       

1972

340.152 öS

./. 526.150 öS

./. 25.667

1973

./. 19.041 öS

./. 2.597.596 öS

./. 355.339

In den Steuererklärungen 1972 und 1973 vom 18. Juli 1974 und vom 14. April 1975, bei deren Anfertigung der Steuerbevollmächtigte Z mitgewirkt hatte, hatte der Kläger zu den beiden österreichischen Beteiligungen - wie in den Jahren 1969 bis 1971 - keine Angaben gemacht. Die Einkommensteuerbescheide 1972 und 1973 sind bestandskräftig geworden.

Nachdem sich das FA - ausgelöst durch eine Anfrage des für die Beteiligungen zuständigen FA X in Österreich - durch Schreiben vom 23. März 1976 nach den Geschäftsbeziehungen des Klägers zu der C-KG erkundigt hatte, beantragte der Steuerbevollmächtigte Z mit Schreiben vom 6. Juli 1976 die Berücksichtigung der vom Kläger erlittenen Verluste aus seinen Beteiligungen in Österreich, weil der Kläger erstmalig aufgrund des Schriftverkehrs des FA von diesen Verlusten in Österreich erfahren habe. Zum Nachweis der erlittenen Verluste legte der Bevollmächtigte auf den Kläger als Teilhaber lautende Ablichtungen von Einkommensteuerbescheiden 1972 und 1973 des FA X vom 5. Juli 1976 vor.

Das FA erfaßte jedoch lediglich die ebenfalls mitgeteilten Verluste des Jahres 1974 aufgrund des sogenannten negativen Progressionsvorbehalts (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 25. Februar 1976 I R 150/73, BFHE 118, 334, BStBl II 1976, 454), lehnte indessen die Berücksichtigung der Verluste betreffend die Streitjahre 1972 und 1973 - ohne Rechtsbehelfsbelehrung - ab, weil keine Berichtigungsvorschrift in Frage komme.

Daraufhin beantragte der frühere Bevollmächtigte des Klägers mit Schreiben vom 8. Februar 1977, diesmal gestützt auf § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977, erneut die Berücksichtigung der erlittenen Verluste. Begründet wurde der Antrag u.a. damit, daß der Verlust der C-KG für das Jahr 1973 dem Kläger erst durch die nach der Betriebsprüfung im Jahre 1976 ergangenen Einkommensteuerbescheide des FA X bekanntgeworden seien. Das FA hat den Einspruch gegen den ablehnenden Bescheid vom 28. Februar 1977 als unbegründet zurückgewiesen.

Der Kläger hat mit seiner mit ihm zusammenveranlagten Ehefrau hierauf Klage erhoben. Die Ehefrau des Klägers ist während des Klageverfahrens verstorben. Sie ist vom Kläger allein beerbt worden.

Die Klage ist erfolglos geblieben. Das Finanzgericht (FG) hat sowohl die Voraussetzungen für eine Änderung nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 wie auch für eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 verneint.

Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung der §§ 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 sowie der Denkgesetze und Erfahrungssätze durch die Vorentscheidung.

Der Kläger beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung sowie unter Aufhebung der Verfügung des FA vom 28. Februar 1977 und der Einspruchsentscheidung vom 29. März 1979 das FA zu verpflichten, die Einkommensteuerbescheide 1972 und 1973 unter Berücksichtigung weiterer Verluste bei den Einkünften aus Gewerbebetrieb zu ändern, nämlich für 1972 in Höhe von 6.275 DM und für 1973 in Höhe von 306.125 DM. Hilfsweise beantragt der Kläger, unter Aufhebung der Vorentscheidung die Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

1. Der Kläger hat keinen Anspruch gegen das FA auf Änderung der Einkommensteuerfestsetzungen 1972 und 1973 gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 (zur Geltung dieser Vorschrift bezüglich der Streitjahre vgl. § 9 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung vom 14. Dezember 1976 - EGAO 1977 -, BGBl I 1976, 3341; 1977, 667, BStBl I, 694). Hiernach ist ein Steuerbescheid zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat (rückwirkendes Ereignis). Ein solches Ereignis liegt im Streitfall nicht vor.

Ein Ereignis i.S. von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 muß sich steuerlich auswirken, z.B. bezüglich des Steuergegenstandes, des Steuersatzes oder auch bestimmter Steuervergünstigungen. Das Ereignis muß nachträglich eintreten, d.h. nachdem der Steueranspruch entstanden ist und, im Falle der Änderung eines Steuerbescheides, nachdem dieser Steuerbescheid ergangen ist, weil sonst die Änderung eines Steuerbescheides nicht erforderlich ist (vgl. Senatsurteil vom 26. Juli 1984 IV R 10/83, BFHE 141, 488, BStBl II 1984, 786). Das Ereignis muß sich steuerlich für die Vergangenheit auswirken, was z.B. vor allem dann der Fall ist, wenn die Besteuerung nicht an Lebensvorgänge, sondern unmittelbar oder mittelbar an Rechtsgeschäfte, Rechtsverhältnisse oder Verwaltungsakte anknüpft und diese Umstände nachträglich mit Wirkung für die Vergangenheit gestaltet werden (vgl. die Beispiele bei Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 12. Aufl., § 175 AO 1977 Tz. 11; s. etwa auch BFHE 141, 488, BStBl II 1984, 786, m.w.N., sowie BFH-Urteil vom 13. Oktober 1983 I R 11/79, BFHE 140, 2, BStBl II 1984, 181). Dies unterscheidet die Änderungsmöglichkeit nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 von der Änderungsmöglichkeit nach § 173 Abs. 1 AO 1977 wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel. Bei der Änderungsmöglichkeit nach § 173 Abs. 1 AO 1977 erfährt der steuerlich relevante Sachverhalt nicht wie bei § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 nachträglich und rückwirkend eine andere Gestaltung (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 26. August 1986 IX R 6/81, BFHE 148, 240, BStBl II 1987, 164), sondern es wird nur die Kenntnis des FA bezüglich des vorhandenen Sachverhalts nachträglich erweitert (vgl. auch Woerner/Grube, Die Aufhebung und Änderung von Steuerverwaltungsakten, 7. Aufl. 1983, S. 120 und 127; Tipke/Kruse, a.a.O., Tz. 20).

Hieraus folgt, daß sich der Kläger nicht auf § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 berufen kann. Denn im Streitfall sind die maßgeblichen Ereignisse schon vor Ergehen der Steuerfestsetzungen, deren Änderung begehrt wird, und demnach nicht, wie die Vorschrift des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 es für die Änderung von Steuerbescheiden verlangt, nachträglich eingetreten. Auch der Kläger geht davon aus, daß die Verluste aus seinen Beteiligungen spätestens mit Ablauf der Wirtschaftsjahre 1972 und 1973 festgestanden haben. Insofern stellen die Feststellungsbescheide des FA X nicht rückwirkende Ereignisse i.S. von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 dar, sondern bestätigen lediglich einen Sachverhalt, der schon vor Ergehen dieser Bescheide vorlag. Aber auch die Verluste selbst sowie ihre (anteilige) Zurechnung auf den Kläger beruhen nicht auf Ereignissen, die nachträglich durch andere Ereignisse rückwirkend beeinflußt wurden. Denn die Geschäftsvorfälle, die den Verlusten zugrunde lagen, sowie der für den Kläger maßgebliche Gewinn- und Verlustverteilungsschlüssel sind nicht durch nachträgliche Ereignisse (anders) gestaltet worden.

Wie dargelegt, kommt es für die Änderungsmöglichkeit nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 nicht darauf an, ob der Kläger die eingetretenen Verluste gekannt hat. Folglich ist es auch unmaßgeblich, ob er den nach § 2 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über steuerliche Maßnahmen bei Auslandsinvestitionen der deutschen Wirtschaft vom 18. August 1969 - AIG - (BGBl I, 1211, 1214, BStBl I, 477, 480) erforderlichen Antrag als Voraussetzung für den Verlustausgleich stellen konnte oder nicht. Im übrigen ist der Antrag i.S. von § 2 Abs. 1 Satz 1 AIG nur die formelle Voraussetzung für die Berücksichtigung eines nach dieser Vorschrift steuerlich relevanten Sachverhalts, weswegen eine Einordnung dieses Antrags als Ereignis i.S. von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 ausscheidet.

2. Das FA ist auch nicht wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel - ihr Vorliegen unterstellt (vgl. bezüglich des Antrags z.B. BFH-Urteil vom 30. September 1981 II R 105/81, BFHE 134, 192, BStBl II 1982, 80) - gemäß § 173 Abs. 1 (Satz 1) Nr. 2 AO 1977 zu einer Änderung der Einkommensteuerfestsetzungen verpflichtet, weil den Kläger ein grobes Verschulden daran trifft, daß die Tatsachen oder Beweismittel dem FA erst nach Ergehen der Einkommensteuerbescheide 1972 und 1973 bekanntgeworden sind und kein unmittelbarer oder mittelbarer Zusammenhang mit Tatsachen oder Beweismitteln i.S. von § 173 Abs. 1 (Satz 1) Nr. 1 AO 1977 besteht.

Der Begriff des groben Verschuldens i.S. von § 173 Abs. 1 (Satz 1) Nr. 2 AO 1977 umfaßt neben dem Vorsatz auch die grobe Fahrlässigkeit. Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Steuerpflichtige die ihm persönlich zuzumutende Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt (vgl. z.B. Senatsurteil vom 3. Februar 1983 IV R 153/80, BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324, 328). So handelt der Steuerpflichtige etwa grob fahrlässig, wenn er eine in einem Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte, auf einen bestimmten Vorgang bezogene Frage nicht beantwortet (BFH-Urteil vom 29. Juni 1984 VI R 181/80, BFHE 141, 232, BStBl II 1984, 693). Ob grobes Verschulden in dem dargestellten Sinne vorliegt, ist im wesentlichen Tatfrage. Die hierzu getroffenen Feststellungen des FG können in der Revisionsinstanz grundsätzlich nur darauf überprüft werden, ob vom FG der Rechtsbegriff des groben Verschuldens richtig erkannt worden ist und ob die Würdigung der Verhältnisse hinsichtlich dieses individuellen Verschuldens den Denkgesetzen und Erfahrungssätzen entspricht (vgl. BFH-Urteil vom 26. August 1987 I R 144/86, BFHE 151, 299, BStBl II 1988, 109, m.w.N.). Dies hindert allerdings das Revisionsgericht nicht, das grobe Verschulden aus anderen Umständen abzuleiten, als es das FG getan hat, wenn hierfür ausreichende tatsächliche Feststellungen durch das FG getroffen wurden.

Hiernach kann es im Ergebnis nicht beanstandet werden, wenn das FG grobes Verschulden seitens des Klägers hinsichtlich des nachträglichen Bekanntwerdens seiner Verluste aus den Beteiligungen in Österreich und der daraus abzuleitenden Folgerungen für die Einkommensteuerfestsetzungen 1972 und 1973 angenommen hat.

Wie das FG für den Senat mangels entsprechender Rüge bindend festgestellt hat (§ 118 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -), hatte der Kläger spätestens bei Abgabe der Einkommensteuererklärungen 1972 und 1973 Kenntnis davon, daß bei seinen österreichischen Beteiligungen Verluste eingetreten waren. Diese Verluste hat er in seinen Einkommensteuererklärungen 1972 und 1973 nicht angeführt, obwohl er durch seine Unterschrift ausweislich Zeile 11 der Einkommensteuererklärungsformulare 1972 und 1973 (vgl. zur Verwertbarkeit dieses Umstandes durch das Revisionsgericht BFH-Urteil vom 10. Mai 1968 VI R 7/66, BFHE 92, 333, BStBl II 1968, 589) bestätigte, daß "im folgenden ... (fettgedruckt:) alle inländischen und ausländischen Einkünfte - bei Ehegatten im Fall der Zusammenveranlagung die Einkünfte (fettgedruckt:) beider Ehegatten - aufgeführt" sind. Hinzu kommt, daß in Zeile 91 dieser Formulare ausdrücklich nach dem/der "Ausgleich/Hinzurechnung nach § 2 Abs. 1 Sätze 1 und 3 Auslandsinvestitionsgesetz" gefragt war, wobei Ausgleichsbeträge in rot einzutragen waren. Der Kläger, dem auch von seinem Berufsbild her Fragen solcher Art nicht fernliegen können, hat diese klar gestellten Anforderungen bzw. Fragen unbeachtet gelassen und damit nach der bestehenden Begriffsbestimmung i.S. von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 grob schuldhaft gehandelt.

Hiernach kommt es nicht mehr darauf an, ob dem Kläger weitere einschlägige Fragen in der Anlage A zu den Einkommensteuererklärungen 1972 und 1973 gestellt waren. Dementsprechend ist auch unerheblich, ob dem Kläger die Anlage A bzw. die Erläuterungen zu der jeweiligen Einkommensteuererklärung überhaupt vorlag. Nicht entscheidungserheblich ist schließlich, ob der steuerliche Berater des Klägers dem Kläger zurechenbar grob schuldhaft i.S. von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 gehandelt hat (vgl. dazu zuletzt Urteil in BFHE 151, 299, BStBl II 1988, 109).