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BFH-Urteil vom 12.1.1989 (IV R 8/88) BStBl. 1989 II S. 438

1. Steuerbescheid im Sinne von § 173 Abs. 1 AO 1977 ist auch ein Bescheid, der einen Steuerbescheid abändert.

2. Tatsachen, die zu einer höheren Besteuerung führen, kann das FA deshalb gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 nur berücksichtigen, wenn sie ihm nach Erlaß des Änderungsbescheids bekannt werden. Dies gilt nicht, wenn das FA lediglich eine Änderung gemäß § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 vornimmt.

AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 1, § 175 Abs. 1 Nr. 1.

Vorinstanz: FG Baden-Württemberg (EFG 1988, 152)

Sachverhalt

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist als Zahnarzt selbständig tätig. Er wurde zusammen mit seiner Ehefrau zur Einkommensteuer 1980 veranlagt; hierbei wurden auch negative Einkünfte aus einer Bauherrengemeinschaft und der Errichtung eines Zweifamilienhauses berücksichtigt. Der Steuerbescheid erging am 15. Dezember 1981; er stand nicht unter Nachprüfungsvorbehalt und ist in der Folge mehrfach geändert worden.

In einem ersten Änderungsbescheid vom 17. Mai 1982 berücksichtigte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) einen inzwischen ergangenen Feststellungsbescheid für die Bauherrengemeinschaft.

Im zweiten Änderungsbescheid vom 25. November 1982 berücksichtigte das FA schon im April 1982 zugegangene Gewinnmitteilungen für Beteiligungen des Klägers an zwei Personengesellschaften, die im Zusammenhang mit seiner freiberuflichen Praxis standen (A-GbR und B- GmbH & Co.). Zusätzlich machte der Kläger Nachschüsse bei der B-GmbH & Co. von 21.200 DM als Betriebsausgaben geltend; dies war den Gesellschaftern in einem Betriebsprüfungsbericht für die genannten Gesellschaften vorbehalten worden. Außerdem gab der Kläger zusätzliche Werbungskosten aus der Errichtung des Zweifamilienhauses mit 1.310 DM und aus Vorsteuern für die Herstellung in der Bauherrengemeinschaft mit 1.382 DM an; letzteres war ihm im Feststellungsbescheid für die Bauherrengemeinschaft vorbehalten worden.

Ein dritter Änderungsbescheid erging am 17. Januar 1984. In ihm wurde ein Betrag von 18.474 DM als zusätzliche Einnahme aus der Zahnarztpraxis berücksichtigt, der dem Kläger von der A-GbR zurückgewährt worden war. Der Betrag ergab sich aus einem Auszug aus dem Betriebsprüfungsbericht der Gesellschaft, der dem FA mit den erwähnten Gewinnmitteilungen im April 1982 zugegangen war; er war handschriftlich in den Berichtsauszug eingesetzt und deutlich hervorgehoben.

Gegen diesen Änderungsbescheid erhob der Kläger nach erfolglosem Einspruch Klage, weil der Einnahmenzugang bereits im vorausgegangenen zweiten Änderungsbescheid hätte berücksichtigt werden müssen. Die Klage war erfolgreich; das Urteil des Finanzgerichts (FG) ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1988, 152 veröffentlicht.

Hiergegen richtet sich die vom FG zugelassene Revision des FA, mit der fehlerhafte Anwendung der Abgabenordnung (AO 1977) gerügt wird.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

1. Das FA kann seinen erneuten Änderungsbescheid nicht auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 stützen.

Danach sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit nachträglich Tatsachen bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen. Steuerbescheid im Sinne dieser Vorschrift ist auch ein Bescheid, der einen schon ergangenen Steuerbescheid inhaltlich abgeändert hat. Da auch durch diesen Verwaltungsakt eine Steuer festgesetzt wird, handelt es sich um einen Steuerbescheid i. S. von § 155 Abs. 1 AO 1977, der nach Form und Inhalt den Anforderungen an Steuerbescheide (§ 157 AO 1977) genügen muß. Der Änderungsbescheid nimmt den Erstbescheid in seinen Regelungsinhalt auf (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 24. Juli 1984 VII R 122/80, BFHE 141, 470, BStBl II 1984, 791, 793) und hat auch deswegen die Qualität eines Steuerbescheids. Wie das FA nicht verkennt, kann auch der Änderungsbescheid nur unter den für Steuerbescheide geltenden Voraussetzungen - im Streitfall nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 - geändert werden.

Daraus folgt, daß sich die erneute Änderung auf Abänderung des vorausgegangenen Änderungsbescheides richtet und daß deshalb ein Änderungsbescheid seinerseits nur dann erneut geändert werden kann, wenn die steuererhöhenden Tatsachen nachträglich, d. h. nach seinem Erlaß bekanntgeworden sind. Der Wortlaut der Bestimmung gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß als maßgebender Zeitpunkt der Erlaß des ursprünglichen Steuerbescheids anzusehen ist; dieser ist vielmehr durch den Änderungsbescheid abgelöst worden. Ist ein Änderungsbescheid uneingeschränkt als Steuerbescheid i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 anzusehen, bezieht sich auch das Merkmal "nachträglich" auf den Zeitpunkt seines Erlasses.

2. Dieses aus dem Wortlaut der Vorschrift gewonnene Ergebnis entspricht auch ihrem Zweck.

§ 173 AO 1977 entscheidet sich im Konflikt zwischen der Bestandskraft und der materiellen Richtigkeit eines Steuerbescheids grundsätzlich für seine Bestandskraft und läßt ihre Durchbrechung nur unter bestimmten Voraussetzungen zu (BFH-Beschluß vom 23. November 1987 GrS 1/86, BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180). Bestandskraft erlangt aber auch der Änderungsbescheid. Dürfte das FA Tatsachen, die ihm im Zeitraum zwischen dem Erlaß des Erstbescheides und des Änderungsbescheides bekanntgeworden sind, unbeschränkt auch später verwerten, könnte es den Abschluß des Steuerverfahrens dadurch aufhalten, daß es den erneuten Änderungsbescheid zunächst nur auf einige der ihm bekannten Tatsachen stützt, um bei einem Mißerfolg im steuergerichtlichen Verfahren die Änderung unter Heranziehung anderer Tatsachen zu wiederholen. Hierdurch würde auch die materielle Rechtskraft der steuergerichtlichen Entscheidung beeinträchtigt, die durch eine Ausübung der Änderungsbefugnis hinfällig würde (§ 110 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

3. Die vom FA vertretene abweichende Auffassung läßt sich auch mit anderen Vorschriften der AO 1977 nicht vereinbaren.

Nach § 88 AO 1977 ist das FA auch bei Erlaß eines Änderungsbescheids zur Ermittlung des Sachverhaltes verpflichtet. Verletzt es diese Verpflichtung und bleiben ihm deshalb Tatsachen zunächst unbekannt, kann es diese sonst nicht für eine spätere Änderung eines Steuerbescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 benutzen (BFH-Urteil vom 13. November 1985 II R 208/82, BFHE 145, 487, BStBl II 1986, 241, ständige Rechtsprechung). Hiervon ist auch auszugehen, wenn das FA seine Ermittlungspflicht bei Erlaß eines Änderungsbescheides vernachlässigt. Damit ließe sich nicht vereinbaren, daß es ihm bekannte Tatsachen bei Erlaß des Änderungsbescheides nicht zu berücksichtigen braucht, sondern sie für eine erneute Änderung des Änderungsbescheids benutzen kann.

Dies wird auch deutlich, wenn ein Steuerpflichtiger gegen einen Steuerbescheid Einspruch eingelegt hat und das FA einer Einspruchsentscheidung dadurch ausweicht, daß es dem Antrag des Steuerpflichtigen gemäß § 172 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AO 1977 entspricht. Könnte das FA ihm zu diesem Zeitpunkt bekannte Tatsachen für eine spätere Abänderung dieses Änderungsbescheids benutzen, wäre der Steuerpflichtige schlechter gestellt als bei einer Änderung des Steuerbescheids durch eine Einspruchsentscheidung; denn bei dieser Entscheidung müßte das FA alle ihm bekannten Tatsachen berücksichtigen (BFH-Urteil vom 23. März 1983 I R 182/82, BFHE 138, 313, BStBl II 1983, 548). Da der Steuerpflichtige die Ersetzung der Einspruchsentscheidung durch einen Änderungsbescheid ohne eigenes Zutun hinnehmen muß, kann dieses Ergebnis nicht im Sinne des Gesetzes liegen.

4. Dem FA ist einzuräumen, daß diese Beurteilung nicht gelten kann, wenn die Finanzbehörde einen Steuerbescheid allein gemäß § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 im Hinblick auf einen nachträglich ergangenen Grundlagenbescheid geändert und hierbei Tatsachen unberücksichtigt gelassen hat, die darüber hinaus eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 rechtfertigten. Dies beruht darauf, daß das FA den Grundlagenbescheid ohne eigene Sachprüfung übernehmen muß und ihm nicht zugemutet werden kann, bei jeder Folgeänderung zu überprüfen, ob neue Tatsachen oder Beweismittel vorliegen, die eine weitergehende Änderung rechtfertigt. Dies hat der BFH für das Verhältnis von § 222 Abs. 1 Nr. 1 und § 218 Abs. 4 der Reichsabgabenordnung (AO) ausgesprochen (BFH-Urteil vom 17. Juli 1975 IV R 233/71, BFHE 116, 521, BStBl II 1975, 892). Für das Verhältnis von § 173 Abs. 1 Nr. 1 und § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 kann nichts anderes gelten.

Das angeführte Urteil läßt erkennen, daß anders zu entscheiden ist, wenn das FA eine Änderung aufgrund neuer Tatsachen vorgenommen, dabei aber andere ihm bekannte Tatsachen außer Betracht gelassen hat. Dies entspricht inhaltlich auch der Auffassung des BFH-Urteils vom 19. August 1983 VI R 177/82 (BFHE 139, 343, BStBl II 1984, 48); danach kann ein nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 ergangener Änderungsbescheid aufgrund von § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977 nur dann zugunsten des Steuerpflichtigen geändert werden, wenn die dem Steuerpflichtigen günstigen Tatsachen dem FA erst nach Erlaß des Änderungsbescheides bekanntgeworden sind.

5. Im Streitfall hat das FA in seinem zweiten Änderungsbescheid vom 25. November 1982 zwar ergangenen Grundlagenbescheiden nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 Rechnung getragen; darüber hinaus hat es aber in eigener Entscheidungskompetenz die bisherige Steuerfestsetzung gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 zugunsten des Steuerpflichtigen geändert. Es war gehalten, hierbei sämtliche ihm bekannten Tatsachen zu berücksichtigen, darunter auch den vorliegenden und unschwer erkennbaren Hinweis auf die zusätzlichen Einnahmen des Klägers aus seiner Zahnarztpraxis in Höhe von 18.474 DM. Das FA kann seine Versäumnis nicht dadurch wettmachen, daß es die Steuerfestsetzung nunmehr gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 ändert.