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BFH-Urteil vom 30.3.1989 (VII R 89/88) BStBl. 1989 II S. 537

Auch im Vollstreckungsverfahren dürfen die Finanzbehörden Auskünfte nach § 93 Abs. 1 AO 1977 einholen.

AO 1977 § 93 Abs. 1.

Vorinstanz: FG Nürnberg

Sachverhalt

I.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) betreibt die Vollstreckung gegen M. Das FA pfändete durch Verfügung vom 20. Juli 1984 alle M gegen die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), ein Kreditinstitut, zustehenden gegenwärtigen und künftigen Ansprüche, Rechte und Forderungen. Die Klägerin gab darauf eine Drittschuldnererklärung des Inhalts ab, daß eine Forderung des M gegen sie nicht bestehe und sie statt dessen eine Forderung gegen M aus einer Kontoüberziehung habe. Mit Schreiben vom 21. Februar 1985 forderte das FA M auf, die Kontoauszüge der Klägerin vorzulegen, weil die Einhaltung der Pfändung nachgeprüft werden müsse. Das Schreiben blieb unbeantwortet. Mit Schreiben vom 20. August 1985 ersuchte das FA unter Berufung auf § 93 der Abgabenordnung (AO 1977) die Klägerin um die Beantwortung von Fragen nach der Höhe des Debetsaldos zum Zeitpunkt der Zustellung der Pfändungs- und Einziehungsverfügung, nach inzwischen erfolgten Einzahlungen, Auszahlungen und Überweisungen, nach bestehenden Spareinlagen und nach der Höhe der gegenwärtigen Forderungen gegen den Kontoinhaber. Die Beschwerde der Klägerin blieb ohne Erfolg.

Das Finanzgericht (FG) hob das Auskunftsersuchen und die Beschwerdeentscheidung auf.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.

1. Das FA hat sein Auskunftsersuchen zu Recht auf § 93 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 gestützt. Danach haben die Beteiligten und andere Personen der Finanzbehörde die zur Feststellung eines für die Besteuerung erheblichen Sachverhaltes erforderlichen Auskünfte zu erteilen. Die der Klägerin gestellten Fragen dienen offenbar der Feststellung eines Sachverhaltes, der für die Durchführung der Vollstreckung gegen den Vollstreckungsschuldner erheblich ist. Der Senat folgt nicht der Auffassung des FG, es handle sich dabei nicht um ein Auskunftsersuchen "für die Besteuerung" i.S. des § 93 Abs. 1 Satz 1 AO 1977. Zur Besteuerung in diesem Sinne zählt auch die Vollstreckung von Steuerverwaltungsakten nach den §§ 249 ff. AO 1977 (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13. Aufl., § 85 AO 1977 Anm. 2, § 88 AO 1977 Anm. 2, § 249 AO 1977 Anm. 10; Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 85 AO 1977 Anm. 6, § 88 AO 1977 Anm. 8 und § 93 AO 1977 Anm. 2; Schwarz in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 249 AO 1977 Anm. 64).

a) Zum Begriff der Besteuerung gehört schon seinem Wortlaut nach auch der Abfluß der Steuer beim Steuerpflichtigen und der Zufluß beim Steuergläubiger. Gelingt die entsprechende Mitteltransaktion nicht im Rahmen des Erhebungsverfahrens (Fünfter Teil der AO 1977), so müssen die Finanzbehörden sie durch Vollstreckung, d.h. durch Anwendung staatlicher Zwangsgewalt, verwirklichen (Sechster Teil der AO 1977). Erst mit dieser "Verwirklichung der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis" (vgl. § 218 Abs. 1 AO 1977) ist die Besteuerung durchgeführt.

b) Die Richtigkeit dieser Wortauslegung belegt die systematische Stellung des § 93 AO 1977. Die Vorschrift findet sich im Dritten Teil der AO 1977, der mit "Allgemeine Verfahrensvorschriften" überschrieben ist. Damit hat der Gesetzgeber klargestellt, daß es sich bei den in diesem Teil aufgeführten Vorschriften um solche handelt, die allgemein gelten, d.h. im Rahmen sämtlicher durch die AO geregelten Materien, soweit sie dort nicht durch Sondervorschriften ausgeschlossen sind. Sie gelten also auch für die Vollstreckung.

Dem steht nicht die Überschrift des Vierten Teils der AO 1977 "Durchführung der Besteuerung" entgegen. Denn insoweit ist, wie die in diesem Teil enthaltenen Vorschriften belegen, lediglich an die Festsetzung der Steuer gedacht. Dem Gesetzgeber lag die Annahme fern, mit der Festsetzung der Steuer sei die Besteuerung beendet, die ja nicht nur zu Ansprüchen des Steuergläubigers führen soll, sondern zu einer effektiven Einnahmeerzielung des Fiskus. Deswegen heißt es in § 85 AO 1977 unter der Überschrift "Besteuerungsgrundsätze" auch, daß die Finanzbehörden die Steuer "festzusetzen und zu erheben" haben.

c) Für die Auffassung des Senats spricht schließlich auch die Auslegung nach Sinn und Zweck der Vorschrift. Denn es ist kein Grund ersichtlich, warum der Gesetzgeber den Finanzbehörden die im Dritten Teil der AO 1977 vorgesehenen Ermittlungsbefugnisse gerade in jenen Fällen hätte beschneiden sollen, in denen Steuerpflichtige ihrer Pflicht, eine festgesetzte Steuer zu entrichten, nicht erfüllen, die Finanzbehörden also zur Anwendung staatlicher Zwangsmittel gezwungen sind.

d) Aus § 249 Abs. 2 AO 1977 ergibt sich nichts Gegenteiliges. Danach können die Finanzbehörden "zur Vorbereitung der Vollstreckung" die Vermögens- und Einkommensverhältnisse des Vollstreckungsschuldners ermitteln. Der Hinweis auf die "Vorbereitung der Vollstreckung" läßt einen Umkehrschluß dahin nicht zu, zu anderen Zwecken im Rahmen der Vollstreckung seien die Finanzbehörden zu Ermittlungen nicht befugt. Das belegt die Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift. Sie folgte dem § 325 Sätze 2 und 3 AO nach, der eine Beschränkung der Finanzbehörden auf Ermittlungen zur Vorbereitung der Beitreibung nicht kannte (vgl. Mattern, Ermittlung nach § 325 AO und Offenbarungseid, Deutsche Steuer-Zeitung/Ausgabe A - DStZ/A - 1959, 49). Die Materialien zur AO 1977 ergeben keinen Hinweis darauf, daß die AO 1977 daran etwas ändern wollte. Es fehlen auch plausible Gründe für die Annahme, der Gesetzgeber habe die Ermittlungsbefugnis der Finanzbehörden entsprechend beschneiden wollen. Eine solche Einschränkung ergäbe keinen Sinn.

Deswegen kann § 249 Abs. 2 AO 1977 nur dahin verstanden werden, daß das Gesetz eine sich bereits aus den §§ 85 ff. AO 1977 ergebende Regelung wiederholt hat mit der besonderen Klarstellung, daß die genannten Ermittlungsbefugnisse nicht erst mit Beginn der Vollstreckung den Finanzbehörden zur Verfügung stehen. Der vom FG gezogene Umkehrschluß kann daraus also nicht abgeleitet werden. Das gilt auch deswegen, weil die Regelung jedenfalls in jenen Fällen ihren Sinn behält, in denen es um die Vollstreckung nichtsteuerlicher Ansprüche geht (vgl. § 250 AO 1977).

e) Auch § 315 Abs. 2 AO 1977 steht der Auslegung des Senats nicht entgegen. Danach ist der Vollstreckungsschuldner verpflichtet, die zur Geltendmachung der Forderung nötige Auskunft zu erteilen. Dieser Vorschrift hätte es für die Vollstreckung steuerlicher Ansprüche in Anbetracht der allgemein für die Besteuerung geltenden Regeln der §§ 85 ff. AO 1977 nicht bedurft. Ihr Vorhandensein ermöglicht aber nicht den Schluß, der Gesetzgeber habe damit klarstellen wollen, die §§ 85 ff. AO 1977 gälten im übrigen nicht; denn die Regelung behält bei der Vollstreckung nichtsteuerlicher Ansprüche ihren Sinn. Überdies ergibt sich der Grund für diese (wiederholende) Regelung in § 315 Abs. 2 AO 1977 zwanglos daraus, daß der Gesetzgeber insoweit § 836 der Zivilprozeßordnung (ZPO) fast wörtlich in die AO 1977 übernommen und dabei möglicherweise nicht bedacht hat, daß die in § 836 Abs. 3 ZPO geregelte Auskunftspflicht des Vollstreckungsschuldners in der ZPO zwar notwendig, in der AO 1977 aber wegen der Vorschriften der §§ 85 ff. AO 1977 entbehrlich ist.

f) Schließlich folgt der Senat auch nicht der Auffassung des FG, das besondere Verhältnis, das zwischen Finanzbehörde und Drittschuldner besteht, schließe es aus, den Finanzbehörden in diesem Bereich öffentlich-rechtliche Befugnisse - sogar bewehrt mit Zwangsmitteln - zuzubilligen. § 93 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 legt auch "anderen" Personen eine besondere Auskunftspflicht im Interesse der Besteuerung auf. Jedermann kann also grundsätzlich Adressat eines entsprechenden Auskunftsersuchens der Finanzbehörden sein. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, daß diese Auskunftspflicht einen Dritten nicht trifft, der noch aus anderen Gründen, z.B. als Drittschuldner, in einer besonderen Beziehung zu der Finanzbehörde steht und besondere Erklärungspflichten hat (vgl. § 316 AO 1977). Es gibt keinen plausiblen Grund dafür, den Finanzbehörden zu untersagen, unter den Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 AO 1977 den Drittschuldner im Interesse der Vollstreckung um Auskünfte zu ersuchen, die nicht Gegenstand seiner Erklärungspflicht nach § 316 AO 1977 sind.

2. Nach § 93 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 sollen andere Personen als die Beteiligten erst dann zur Auskunft angehalten werden, wenn die Sachverhaltsaufklärung durch die Beteiligten nicht zum Ziele führt oder keinen Erfolg verspricht. Nach Auffassung des FG liegen diese Voraussetzungen hier nicht vor; es meint, das FA hätte zumindest versuchen müssen, nach § 315 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 die entsprechenden Urkunden durch den Vollziehungsbeamten wegnehmen zu lassen oder ihre Herausgabe durch Zwangsmittel zu erzwingen.

Als Sollvorschrift bringt § 93 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 zwar zum Ausdruck, daß die Behörde im Regelfall nach ihr verfahren muß. Das heißt aber nicht, daß sie unter allen Umständen auf die Inanspruchnahme eines Dritten verzichten muß, solange sie nicht alle rechtlich zulässigen und möglichen Versuche unternommen hat, vom Beteiligten selbst die Auskunft zu erhalten. Vielmehr hat die Finanzbehörde nach Lage des Falles unter Berücksichtigung der Interessen des Dritten zu überprüfen, ob ein solches anderes Vorgehen auf jeden Fall den Vorrang vor der Inanspruchnahme des Dritten verdient (vgl. Senatsurteil vom 27. Oktober 1981 VII R 2/80, BFHE 134, 231, 236, BStBl II 1982, 141). Außerdem darf das FA unmittelbar den Dritten um Auskunft ersuchen, wenn die Sachverhaltsaufklärung durch den Beteiligten "keinen Erfolg verspricht". Das hat das FA im Rahmen einer Prognoseentscheidung im Wege vorweggenommener Beweiswürdigung zu prüfen (vgl. auch Senatsurteil vom 29. Oktober 1986 VII R 82/85, BFHE 148, 108, 114, BStBl II 1988, 359). Ist seine Entscheidung aufgrund dieser Prüfung vertretbar, so ist § 93 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 durch ein an einen Dritten gerichtetes Auskunftsersuchen nicht verletzt.

Das hat das FG verkannt. Infolge seines anderen rechtlichen Ausgangspunktes hat es sich nicht mit der Frage befaßt, ob die vom FA behaupteten besonderen Umstände des Falles (steuerliche Unzuverlässigkeit des Vollstreckungsschuldners, sein Aufenthalt in einer Justizvollzugsanstalt) vorlagen und die genannte Prognoseentscheidung des FA, die Inanspruchnahme des Vollstreckungsschuldners selbst verspreche keinen Erfolg, vertretbar war. Auch hat sich das FG nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob in Anbetracht der genannten Umstände die Anwendung der von ihm vermißten unmittelbaren Wegnahme der Urkunden durch einen Vollziehungsbeamten bzw. die Erzwingung ihrer Herausgabe durch Zwangsmittel dem FA in Anbetracht der Tatsache zumutbar war, daß für die Klägerin die Auskunftserteilung keine besondere Belastung bedeutete. Die Sache ist daher nicht spruchreif und somit an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

3. Wegen seines anderen rechtlichen Ausgangspunktes hat sich das FG in seiner Vorentscheidung auch nicht mit der Frage befaßt, ob die sonstigen Voraussetzungen für das Auskunftsersuchen erfüllt sind, ob also insbesondere die gestellten Fragen zur Sachverhaltsaufklärung geeignet und notwendig, die Beantwortung für die Klägerin möglich und deren Inanspruchnahme erforderlich, verhältnismäßig und zumutbar ist (vgl. BFHE 148, 108, 114, BStBl II 1988, 359). In seiner neuerlichen Entscheidung wird das FG dies zu berücksichtigen haben, falls es zur Auffassung gelangt, daß § 93 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 dem Auskunftsersuchen nicht entgegensteht.