| Home | Index | EStG | Neuzugang | Impressum  
       

 

 

 

 

 

 

BFH-Urteil vom 12.7.1989 (X R 33/86) BStBl. 1989 II S. 1012

Lebt eine Witwen-/Witwerrente nach § 68 Abs. 2 AVG wieder auf, ist dies kein "Beginn einer (neuen) Rente" i. S. des § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Satz 3 EStG. Zwecks Ermittlung eines einheitlichen Ertragsanteils bleiben die rentenfreien Zeiten bei der maßgeblichen voraussichtlichen Dauer des Rentenbezugs außer Betracht.

EStG § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a.

Vorinstanz: Niedersächsisches FG (EFG 1986, 565)

Sachverhalt

Die am 2. März 1937 geborene Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) war seit Anfang des Jahres 1964 verwitwet. Bei ihr lebte im Streitjahr ihr am 21. Mai 1964 geborener Sohn J, der bis zum 31. Juli 1983 eine Waisenrente erhielt. Ihre seit dem 1. Februar 1964 auf der Rechtsgrundlage des § 45 Abs. 2 Nr. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) vom 28. Mai 1924 (RGBl I 1924, 563) bezogene sog. große Witwenrente fiel im Jahr 1968 aufgrund ihrer Wiederverheiratung weg (§ 68 Abs. 1 AVG), lebte aber nach der Scheidung ab 1. Juni 1972 wieder auf (§ 68 Abs. 2 AVG). Im Streitjahr 1982 bezog die Klägerin die große Witwenrente bis zum 1. März 1982 auf der Rechtsgrundlage des § 45 Abs. 2 Nr. 2 AVG, ab Vollendung des 45. Lebensjahres nach § 45 Abs. 2 Nr. 1 AVG.

Bei der Einkommensteuerveranlagung für das Streitjahr 1982 unterwarf der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) die Rentenbezüge in Höhe von insgesamt 7.832 DM mit einem Ertragsanteil von 60 v.H. (= 4.499 DM) der Steuer. Der hiergegen nach erfolglosem Einspruch erhobenen Klage hat das Finanzgericht (FG) stattgegeben. Das Urteil des FG ist veröffentlicht in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1986, 565.

Mit der Revision rügt das FA Verletzung materiellen Rechts.

Es beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet.

1. Bei der von der Klägerin bezogenen sog. großen Witwenrente handelt es sich um eine Leibrente i. S. des § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a des Einkommensteuergesetzes (EStG).

Das FG hat ausgeführt, die bis zur Vollendung des 45. Lebensjahres bezogene Rente - seiner Auffassung nach eine abgekürzte Leibrente (§ 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a letzter Satz EStG i.V. m. § 55 Abs. 2 Satz 1 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung - EStDV -) - und die danach bezogene Leibrente hätten jeweils unterschiedliche "Stammrechte". Beide Renten würden nach der Systematik des § 45 Abs. 2 AVG aufgrund jeweils unterschiedlicher Voraussetzungen gewährt und seien deshalb rechtlich voneinander unabhängig. Daß sie rechtlich und wirtschaftlich in demselben Versicherungsverhältnis gründeten und Ertrag der nämlichen Versicherungsbeiträge seien, sei unerheblich (Bezugnahme auf Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 7. Dezember 1966 VI 269/65, BFHE 94, 339, BStBl II 1969, 156). Beginn der bis einschließlich März 1982 bezogenen abgekürzten Leibrente sei der 1. Juni 1972, da die sog. Wiederauflebensrente eine selbständige Rente mit einem rechtlich selbständigen Stammrecht sei. Die danach - ab Vollendung des 45. Lebensjahres - bezogene Rente sei mit einem Ertragsanteil von 46 v.H. steuerbar.

2. Diese Darlegung des FG ist nicht rechtsfehlerfrei. Mit Urteil vom 8. März 1989 X R 16/85 (BFHE 156, 432, BStBl II 1989, 551) hat der erkennende Senat zur großen Witwen-/Witwerrente - im folgenden fallbezogen: Witwenrente - (§ 1.268 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO - = § 45 Abs. 2 AVG) ausgeführt: Die in zeitlicher Aufeinanderfolge auf der Rechtsgrundlage des § 1.268 Abs. 2 Nr. 2 RVO und sodann des § 1.268 Abs. 2 Nr. 1 RVO bezogene große Witwenrente sei eine Leibrente i. S. des § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a EStG. Auf die Begründung dieser Entscheidung wird Bezug genommen.

Das FG hebt auf die zeitliche Aufeinanderfolge zweier "Rentenstammrechte" ab. Indes haben jedenfalls sozialversicherungsrechtliche Hinterbliebenenrenten kein "Leibrentenstammrecht"; ein sozialversicherungsrechtlicher Begriff des "Rentenstammrechts" hat für die Auslegung des § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a EStG keine Bedeutung. Aus der Einbeziehung der Sozialversicherungsrenten in die Ertragsanteilsbesteuerung erschließt sich die Grundannahme des Gesetzgebers, daß ab Eintritt des Versicherungsfalles (= Beginn der Rente) eine Versicherungssumme auf die Lebenszeit des Bezugsberechtigten verzinslich ausgezahlt wird (unter 3). Diese Grundannahme wird nicht dadurch außer Kraft gesetzt, daß die nicht ausschließlich nach dem Versicherungsprinzip, sondern auch nach dem Prinzip der Fürsorge ausgestaltete Versicherungsleistung hinsichtlich ihrer Höhe von bedarfsorientierten Tatbestandsmerkmalen abhängig ist.

3. a) Entgegen der Auffassung des FG ist der Zeitpunkt des Wiederauflebens der Witwenrente am 1. Juni 1972 nicht als der Beginn einer (neuen) Rente anzusehen. "Beginn der Rente" (Kopfleiste der Ertragswerttabelle des § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Satz 3 EStG) ist der Eintritt des Versicherungsfalles (unten b). Andererseits kennzeichnet es die Wiederauflebensrente, daß sie nicht während des gesamten Zeitraums zwischen dem so umschriebenen Beginn und dem Ende der Rente bezogen wird. Die hierin liegende Anordnungslücke ist - in Annäherung an das Typisierungsmodell des Gesetzgebers (unter d) - in der Weise zu füllen, daß - um einen für die gesamte Zeit des Rentenbezugs geltenden, einheitlichen Ertragsanteil zu ermitteln - die einzelnen Zeitabschnitte des Rentenbezugs zu einer einheitlichen Rentendauer zusammengezogen werden (unten e).

b) Ist "Beginn der Rente" der Eintritt des für den Rentenbezug maßgeblichen Versicherungsfalles (hier: am 1. Februar 1964), so kann "für die gesamte Dauer des Rentenbezugs" ein einziger, auf den Beginn der Rente abstellender "Ertrag des Rentenrechts (Ertragsanteil)" ermittelt werden (§ 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Satz 2 EStG; vgl. BFH-Urteil vom 6. April 1976 VIII R 184/72, BFHE 118, 467, BStBl II 1976, 452; Urteil des Senats in BStBl II 1989, 551, unter 4.c). Der IX. Senat des BFH hat in seinem Urteil vom 8. Dezember 1988 IX R 157/83 (BFHE 155, 359, BStBl II 1989, 282) ausgeführt, daß individuelle Umstände, die zu einer niedrigeren als der in den Ertragswerttabellen vorausgesetzten Lebensdauer des Bezugsberechtigten führen, bei der Ermittlung des Ertragsanteils nicht berücksichtigt werden. Der erkennende Senat hält dies dem Grundsatz nach für zutreffend.

c) Eine Rente ist eine besonders gestaltete Kapitalforderung (vgl. BFH-Urteil vom 30. März 1989 I R 398/83, BFHE 156, 517, BStBl II 1989, 647). Bei der Ermittlung des "Ertrags des Rentenrechts (Ertragsanteil)" hat sich der Gesetzgeber von der zutreffenden Überlegung leiten lassen, jede einzelne Rentenzahlung bestehe aus einem sich alljährlich verändernden Zins- und Tilgungsanteil (BTDrucks II/481, S. 86). Jede Rentenzahlung ist - ebenso wie z.B. langfristig gestundete Kaufpreisraten (vgl. grundlegend Urteil des Reichsfinanzhofs - RFH - vom 20. Oktober 1937 VI 500/37, RStBl 1938, 92; BFH-Urteil vom 25. Juni 1974 VIII R 163/71, BFHE 114, 463, BStBl II 1975, 431, unter I.2.) - in der Weise zu zerlegen, daß der Barwert der Rente nach der Zinseszinsformel zu errechnen ist; die einzelnen gleichbleibenden Jahreszahlungen sind so aufzuteilen, daß in jedem Jahr der jeweilige Barwert zu einem bestimmten Zinssatz verzinst wird. Die in den jährlichen Raten enthaltenen Zinsen werden errechnet, indem von der jährlichen Rentenzahlung die jährliche Barwertminderung (= Tilgungsanteil) abgezogen wird. Dies führt dazu, daß in der Anfangsphase des Rentenverlaufs der Zinsanteil den Tilgungsanteil übersteigt. Im weiteren Rentenverlauf verringern sich der zu verzinsende Barwert und die hierauf berechneten Zinsen - in der Endphase des Rentenverlaufs "gegen Null" -; dadurch erhöht sich bei gleichbleibenden Rentenzahlungen der Tilgungsanteil (ausführlich Kosiol, Finanzmathematik, 9. Aufl. 1959, S. 103 ff.).

d) Der Gesetzgeber des Gesetzes zur Neuordnung von Steuern (StNOG 1954) war der Auffassung, bei Anwendung dieser Methode ließen sich "Ungerechtigkeiten in der Besteuerung" von Leibrenten vermeiden; diese Methode habe aber den Nachteil, daß Steuerpflichtige und Finanzverwaltung in der Regel alljährlich Ermittlungen über die Höhe des Ertragsanteils anstellen müßten. In dem Bestreben, zu Beginn des Rentenlaufs ermittelte und sodann unverändert bleibende Tilgungs- und Ertragsanteile gleichmäßig auf die Laufzeit der Rente zu verteilen, definierte Art. 1 Nr. 18 des Entwurfs eines StNOG 1954 den Ertragsanteil wie folgt (BTDrucks II/481, S. 6, 87): Zu den Einkünften aus wiederkehrenden Bezügen gehören auch "Leibrenten insoweit, als in den einzelnen Bezügen Einkünfte aus Erträgen des Stammrechts enthalten sind. Als Ertrag des Stammrechts ist der Unterschied zwischen dem Jahresbetrag und dem Kapitalrückzahlungsanteil der Rente anzusehen. Als Kapitalrückzahlungsanteil gilt der Betrag, der sich bei gleichmäßiger Verteilung des Kapitalwerts der Rente auf die Laufzeit der Rente für ein Jahr ergibt". Um die praktische Handhabung der Vorschrift zu erleichtern, ist auf Vorschlag des Ausschusses für Finanz- und Steuerfragen in § 22 Nr. 1 EStG die Ertragswerttabelle eingearbeitet worden (BTDrucks II/961, S. 4).

Die Festsetzung eines für die gesamte Rentendauer gleichbleibenden Ertragsanteils hebt - bei vereinfachenden mathematischen Annahmen (vgl. Heubeck, Betriebs-Berater - BB - 1954, 497) - modellhaft ab auf einen idealtypischen Rentenverlauf. Bei Anwendung eines gleichbleibenden Ertragsanteils ergibt sich zu Beginn des Rentenverlaufs eine steuerliche Begünstigung, die in der Schlußphase des Rentenverlaufs durch die Besteuerung eines gegenüber dem realen Zinsanteil zu hohen Ertragsanteils ausgeglichen wird. Die gesetzliche Regelung der Besteuerung eines auf die gesamte Dauer des Rentenbezugs gleichbleibenden Ertragsanteils stellt unter besonderer Berücksichtigung einer Praktikabilität der Regelung die steuerrechtliche Typengerechtigkeit her.

e) Dem Gesetz liegt die Annahme zugrunde, daß die gesamte Dauer des Rentenbezugs den aus der Allgemeinen Deutschen Sterbetafel in die Ertragswerttabelle übernommenen biometrischen Durchschnittswerten entspricht. Dieser gesetzlich vorausgesetzte rechnerische Zusammenhang zwischen dem - auf die voraussichtliche Laufzeit der Rente zu verteilenden - Kapitalwert der Rente und dem Ertragsanteil ist für den hier vorliegenden Fall, daß die Rentenzahlung unterbrochen wurde, aufgehoben. Der Fall der Wiederauflebensrente ist mithin in der vereinfachenden Modellrechnung, auf der § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Sätze 2 und 3 EStG beruhen, nicht berücksichtigt. Eine solche Abweichung vom idealtypischen Rentenverlauf, wie er der Regelung des § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a EStG zugrundeliegt, ist sowohl ihrer Art nach als auch im Hinblick auf die Möglichkeit der Besteuerung eines überhöhten Ertragsanteils so bedeutsam, daß ein Nichtbeachten mit der angestrebten steuerlichen Typengerechtigkeit nicht vereinbar und auch mit Praktikabilitätserwägungen nicht mehr zu rechtfertigen wäre. Die Abweichung von der Typengerechtigkeit wird um so größer, je mehr Jahre zwischen Wegfall und Wiederaufleben der Rente liegen. Der gesetzlich vorgeschriebenen Unterbrechung der Rentenzahlungen ist in der Weise Rechnung zu tragen, daß die Höhe des zu versteuernden Ertragsanteils entsprechend verringert wird. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß die später fortgefallene Rente zu einem gegenüber dem realen Zinsanteil relativ niedrigen Ertragsanteil besteuert worden war. Eine unter Beachtung der gesetzlichen Pauschalierung zutreffende Besteuerung ist in der Weise zu erreichen, daß für Zwecke der Ermittlung eines einheitlichen Ertragsanteils die rentenfreien Zeiten bei der maßgeblichen voraussichtlichen Dauer des Rentenbezugs außer Betracht bleiben. Aus Gründen der Praktikabilität sind jedoch nur volle Kalenderjahre zu berücksichtigen. Steuertechnisch wird die neue Rentendauer dadurch bestimmt, daß das laut Ertragswerttabelle maßgebliche "vollendete Lebensjahr bei Beginn der Rente" um die Anzahl der (vollen) zahlungsfreien Jahre - im Streitfall um 3 auf 29 (Ertragsanteil: 59 v.H.) - erhöht wird.

4. Da das FG von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen ist und sich seine Entscheidung auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt, war das angefochtene Urteil in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang aufzuheben.

Die Sache ist spruchreif. Die im Streitjahr 1982 bezogene Rente ist zu einem Ertragsanteil von 59 v.H. (7.832 DM x 59 v.H. ./. 200 DM = 4.420 DM) zu versteuern. Das zu versteuernde Einkommen mindert sich um 79 DM auf 5.147 DM. Unter Berücksichtigung von dem Progressionsvorbehalt gemäß § 32b EStG unterliegenden Beträgen ist nach der Grundtabelle das Einkommen in Höhe von (abgerundet) 5.130 DM mit einem Steuersatz von 12,6710 v.H. zu versteuern; die festzusetzende Einkommensteuer beträgt hiernach 650 DM.