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BFH-Urteil vom 4.10.1988 (VII R 59/86) BStBl. 1989 II S. 55

1. Das bloße Betreten und Besichtigen von Geschäfts- oder Betriebsräumen des Steuerpflichtigen durch Vollziehungsbeamte des FA ist auch ohne richterlichen Durchsuchungsbeschluß zulässig. Das gilt auch für das Verweilen in diesen Räumen mit der Absicht, nach erfolgloser Zahlungsaufforderung zu einer Sachpfändung zu schreiten.

2. Die Pfändung von offen ausgelegten Waren oder Gegenständen, die für die Vollziehungsbeamten ohne weiteres Nachforschen zugänglich sind, stellt noch keine Durchsuchungshandlung i.S. von Art. 13 Abs. 2 GG dar. Durchsuchungshandlungen, für die es einer richterlichen Anordnung bedarf, liegen erst dann vor, wenn die zu pfändenden Gegenstände aus Schränken, Schubladen oder ähnlichen, den Vollziehungsbeamten nicht ohne weiteres zugänglichen Behältnissen oder Orten entnommen werden.

GG Art. 13; AO 1977 § 287 Abs. 1.

Vorinstanz: FG Berlin

Sachverhalt

I.

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), die einen Handel mit Gebrauchtwaren betreibt, beantragte vor dem Finanzgericht (FG) erfolgreich die Aufhebung von Vollstreckungsmaßnahmen durch den Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt - FA -).

Am 25. Juli 1985 hatten zwei Vollziehungsbeamte des FA das Ladengeschäft der Klägerin aufgesucht und in ihrer Abwesenheit, aber in Anwesenheit eines Angestellten, Sachpfändungen vorgenommen. Nach Darstellung der Klägerin hatten die Vollziehungsbeamten dem Angestellten erklärt, ein richterlicher Durchsuchungsbefehl sei nicht erforderlich, vielmehr reiche der vorgezeigte Vollstreckungsauftrag aus.

Das FG führte in seiner der Klage stattgebenden Entscheidung aus:

Die Klägerin sei durch die Zwangsvollstreckungsmaßnahmen ohne richterlichen Durchsuchungsbefehl in ihrem Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung nach Art. 13 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) verletzt, da weder eine wirksame Einwilligung noch Gefahr im Verzug vorgelegen hätten. Dieses Grundrecht sei nach allgemeiner Meinung auch auf Geschäftsräume auszudehnen. Nach Art. 13 Abs. 2 GG dürften Durchsuchungen - außer bei Gefahr im Verzug - nur aufgrund richterlicher Anordnung vorgenommen werden. Dies gelte sowohl bei Pfändungsmaßnahmen im Rahmen der Zivilprozeßordnung (ZPO) als auch der Abgabenordnung (AO 1977).

Die Klägerin habe durch die Öffnung der Geschäftsräume zum freien Zugang für Kunden auch nicht teilweise auf ihr Grundrecht aus Art. 13 GG verzichtet, insbesondere nicht soweit es die gesamte Tätigkeit der Vollziehungsbeamten betreffe. Das Öffnen der Geschäftsräume habe lediglich die Wirkung, daß das Betreten der Räume durch die Vollziehungsbeamten und die Aufforderung zur Zahlung rechtlich unbedenklich seien. Dazu bedürfe es eines richterlichen Beschlusses nicht. Das anschließende Verweilen mit der Absicht, unter den Waren der Klägerin verwertbare Gegenstände zu erkennen und gegebenenfalls auszusondern, erfülle demgegenüber den Tatbestand der Durchsuchung. Die Vollziehungsbeamten hätten nicht erst dann eine Durchsuchung vorgenommen, wenn sie begonnen hätten, Schränke zu öffnen bzw. wenn sie im Weigerungsfalle mit der gewaltsamen Öffnung gedroht hätten. Die Durchsuchung liege bereits im Verweilen nach erfolgloser Zahlungsaufforderung mit der Absicht, zur Pfändung zu schreiten. Das gelte selbst dann, wenn die zu pfändenden Gegenstände als Verkaufswaren sichtbar auslägen. Eine Durchsuchung liege schon darin, daß die Vollziehungsbeamten eine Auswahl unter den Waren getroffen hätten, ohne daß ihnen diese angeboten worden seien.

Mit seiner Revision rügt das FA unrichtige Auslegung des Durchsuchungsbegriffs nach Art. 13 Abs. 2 GG.

Der Vollstreckungsauftrag gemäß § 285 Abs. 1 AO 1977 beinhalte die Anweisung an den Vollziehungsbeamten, im Gewahrsam des Vollstreckungsschuldners befindliche, pfändbare, bewegliche Sachen gemäß § 286 Abs. 1 AO 1977 durch körperliche Inbesitznahme zu pfänden. Für die Abgrenzung zwischen einem rechtmäßigen und rechtswidrigen Aufenthalt in den Räumen des Vollstreckungsschuldners sei das Verweilen "mit der Absicht", verwertbare Gegenstände zu erkennen, kein geeignetes Abgrenzungskriterium. Die Auffassung des FG, die Durchsuchung beginne mit dem Verweilen in der Absicht, zur Pfändung zu schreiten, nachdem der Vollziehungsbeamte eine Auswahl unter den sichtbar ausgestellten Waren getroffen habe, bedeute im Ergebnis, daß für die Zulässigkeit des Pfändungsakts selbst, d.h. die Inbesitznahme von hierfür nicht angebotenen Gegenständen, eine richterliche Anordnung erforderlich wäre. Diese Auslegung widerspreche der vom Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) im Urteil vom 6. September 1974 I C 17.73 (BVerwGE 47, 31) gegebenen Definition der Durchsuchung. Aus dieser Entscheidung sei zu folgern, daß "klar zu Tage Liegendes", also Gegenstände, nach denen gar nicht erst gesucht werden müsse, nicht Gegenstand und Ziel einer Durchsuchung sein könnten.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist begründet. Sie führt gemäß § 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.

1. Das FG ist zunächst zu Recht davon ausgegangen, daß die Geschäftsräume (Ladenlokal) der Klägerin vom Schutzbereich des Art. 13 Abs. 1 GG umfaßt werden. Art. 13 Abs. 1 GG umschreibt den von ihm geschützten Grundrechtsbereich mit einer seit langem feststehenden Formel. Der Begriff "Wohnung" in dieser Vorschrift ist danach weit auszulegen; er umfaßt auch Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsräume. Dies entspricht der fast einhelligen Meinung der Rechtslehre und Rechtsprechung (vgl. Beschluß des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 13. Oktober 1971 1 BvR 280/66, BVerfGE 32, 54, 70 ff.; Maunz in Maunz/Dürig/Herzog/Scholtz, Grundgesetz, Stand September 1981, Art. 13 Rdnr. 3c; Dagtoglou in Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Zweitbearbeitung Oktober 1966, Art. 13 Rdnr. 21; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, Stand Juni 1986, § 287 AO 1977 Rdnr. 4; Gentz, Die Unverletzlichkeit der Wohnung, 1968, 24 ff.).

2. Zum Betreten der Geschäftsräume der Klägerin waren die Vollziehungsbeamten ohne richterliche Anordnung befugt; § 287 Abs. 1 AO 1977 setzt ein Betretungsrecht voraus. Ein solches gesetzlich normiertes Betretungsrecht für Bedienstete der Behörden ist, wie das BVerfG in BVerfGE 32, 54, 75 ff. entschieden hat, unter bestimmten Voraussetzungen nicht als Beeinträchtigung des Rechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung i.S. des Art. 13 Abs. 1 GG und nicht als Eingriff oder Beschränkung dieses Rechts i.S. des Art. 13 Abs. 3 GG anzusehen (vgl. auch Tipke/Kruse, a.a.O., 12. Aufl., § 287 AO 1977 Anm. 1 und 7; Schwarz in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 287 AO 1977 Anm. 23). Dabei ist das BVerfG von der Erwägung ausgegangen, daß Geschäfts- und Betriebsräumen nach ihrer Zweckbestimmung eine größere Offenheit nach außen haben; der Inhaber entläßt sie in gewissem Umfang aus der privaten Intimsphäre, zu der die Wohnung im engeren Sinne gehört (BVerfGE 32, 54, 75). Die vom BVerfG geforderten Voraussetzungen (BVerfGE 32, 54, 77) sind hier zweifelsfrei gegeben. Eine besondere Vorschrift (§ 287 Abs. 1 AO 1977) ermächtigt zum Betreten der Geschäftsräume zu einem grundsätzlich erlaubten und aus dem Gesetz erkennbaren Zweck, nämlich zur Vollziehung. Das Betreten der Geschäftsräume der Klägerin durch die Vollziehungsbeamten des FA verbunden mit der Zahlungsaufforderung und dem Vorzeigen des Vollstreckungsauftrags war daher auch ohne richterlichen Durchsuchungsbeschluß rechtmäßig.

3. Nach § 287 Abs. 1 AO 1977 sind die Vollziehungsbeamten befugt, die Wohn- und Geschäftsräume des Vollstreckungsschuldners zu durchsuchen, soweit dies der Zweck der Vollstreckung erfordert. Art. 13 Abs. 2 GG (vgl. auch § 287 Abs. 4 AO 1977) schreibt vor, daß Durchsuchungen nur durch den Richter - mit Ausnahme bei Gefahr im Verzug - angeordnet werden dürfen. Eine gesetzliche Begriffsbestimmung der "Durchsuchung" fehlt jedoch.

a) Nach der Entscheidung des BVerwG in BVerwGE 47, 31, 36 ist Begriffsmerkmal der Durchsuchung "die Suche nach Personen oder Sachen oder die Ermittlung eines Sachverhalts in einer Wohnung. (...) Kennzeichnend für die Durchsuchung ist das ziel- und zweckgerichtete Suchen staatlicher Organe in einer Wohnung, um dort planmäßig etwas aufzuspüren, was der Inhaber der Wohnung von sich aus nicht offenlegt oder herausgeben will, etwas nicht klar zutage Liegendes, vielleicht Verborgenes aufzudecken oder ein Geheimnis zu lüften; mithin das Ausforschen eines für die freie Entfaltung der Persönlichkeit wesentlichen Lebensbereiches, das unter Umständen bis in die Intimsphäre des Betroffenen dringen kann". Diese Definition hat das BVerfG in seinem Beschluß vom 3. April 1979 1 BvR 994/76 (BVerfGE 51, 97, 106) ausdrücklich herangezogen. Auch der Senat schließt sich ihr an (ebenso Tipke/Kruse, a.a.O., § 287 AO 1977 Tz. 6). Aus ihr läßt sich ableiten, daß die bloße Besichtigung einer Wohnung z.B. zur Feststellung, ob der Inhaber seinen Beruf ordnungsgemäß ausübt, die unvermeidliche Kenntnisnahme von Personen, Sachen und Zuständen beim Betreten der Wohnung (BVerwGE 47, 31, 37) oder die Nachschau eines Beamten des Wohnungsamtes, ob eine Wohnung über- oder unterbelegt ist, keine Durchsuchung i.S. von Art. 13 Abs. 2 GG ist (so der Abgeordnete Dr. Schmid bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates zu Art. 13 Abs. 2 GG, zitiert nach BVerwG-Urteil vom 12. Dezember 1967 I C 112.64, BVerwGE 28, 285, 287). Notwendig ist vielmehr, daß die Verwaltungsbeamten in den Räumen des Betroffenen darüber hinausgehende Handlungen vornehmen, um einen bestimmten Sachverhalt festzustellen.

Diese Beispiele zeigen, daß es für die Abgrenzung des bloßen Betretens und Besichtigens der Geschäftsräume, zu dem es keiner richterlichen Anordnung bedarf, und der eine solche Anordnung voraussetzenden Durchsuchung nicht auf den Willen oder die Absicht der jeweiligen Verwaltungsbeamten, sondern auf ein aktives Tun (ziel- und zweckgerichtetes Suchen) ihrerseits ankommt. Das dem inneren subjektiven Bereich der Beamten zuzuordnende, vom FG hervorgehobene voluntative Element "Verweilen nach erfolgloser Zahlungsaufforderung mit der Absicht, zur Pfändung zu schreiten", ist für die Abgrenzung untauglich. Nur nach außen erkennbares, positives Tun der Beamten vermag die Grenze vom berechtigten Betreten und Verweilen zum unberechtigten Durchsuchen zu markieren.

b) Von diesen Grundsätzen ausgehend, ergibt sich nach den tatsächlichen Feststellungen des FG nicht, daß die Vollziehungsbeamten des FA im Geschäftslokal der Klägerin Maßnahmen ergriffen haben, die als Durchsuchung einzuordnen gewesen wären. Das FG hat vielmehr ausgeführt, daß es der Frage, ob weitere Durchsuchungshandlungen vorgenommen worden seien, nicht nachgegangen sei. Aus der Vorentscheidung ist lediglich zu entnehmen, daß die Vollziehungsbeamten Gegenstände gepfändet, ausgesondert und abtransportiert haben. Es fehlen - aus der Rechtssicht des FG zu Recht - Feststellungen dazu, welche Gegenstände gepfändet und wo diese vorgefunden wurden. Waren die Gegenstände offen ausgelegt und für die Vollziehungsbeamten ohne weiteres Nachforschen für die Pfändung zugänglich, so kann nicht von einer Durchsuchung ausgegangen werden. Es fehlt dann dazu am planmäßigen Aufspüren von verborgenen, nicht klar zutage liegenden Gegenständen. Haben die Vollziehungsbeamten dagegen die gepfändeten Gegenstände aus Schränken, Schubladen oder ähnlichen, ihnen nicht ohne weiteres zugänglichen Behältnissen oder Orten entnommen, so ist von einer Durchsuchung auszugehen. Die dazu erforderlichen tatsächlichen Feststellungen wird das FG nachzuholen haben.

Unerheblich ist dabei, ob diese Behältnisse oder Orte von den Vollziehungsbeamten selbst oder dem Angestellten der Klägerin zugänglich gemacht wurden. Hatte der Angestellte den Weg in die Behältnisse oder Orte mit oder ohne Androhung einer gewaltsamen Öffnung selbst frei gemacht, so ist darin - wie das FG zu Recht angenommen hat - keine Einwilligung der Klägerin, vertreten durch den Angestellten, in die Durchsuchung zu sehen. Nach den Feststellungen des FG ist davon auszugehen, daß der Angestellte lediglich Verkaufsgehilfe i.S. von § 59 des Handelsgesetzbuches (HGB) war, dessen Vertretungsmacht sich nur auf den Verkauf und die Inempfangnahme von im Geschäft der Klägerin üblichen Waren und Gegenständen erstreckte. Hat der Angestellte die Schränke, andere Behältnisse oder Orte auf Aufforderung der Vollziehungsbeamten selbst zugänglich gemacht, so ist er als Werkzeug der Vollziehungsbeamten anzusehen.