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BFH-Urteil vom 10.8.1988 (IX R 219/84) BStBl. 1989 II S. 131

Unterläßt es der Steuerpflichtige in der Einkommensteuererklärung rechtsirrig, vorab entstandene Werbungskosten bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung geltend zu machen, so liegt allein in diesem Rechtsirrtum regelmäßig kein grobes Verschulden, das die Änderung des dementsprechend ergangenen bestandskräftigen Einkommensteuerbescheids wegen nachträglich bekannt gewordener Tatsachen ausschließt.

 AO 1977 § 150 Abs. 2 Satz 1, § 173 Abs. 1 Nr. 2; EStG § 9 Abs. 1 Satz 1 und Satz 3 Nr. 1.

Vorinstanz: Niedersächsisches FG

Sachverhalt

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) wohnte ursprünglich mit seiner Familie in A in einer eigenen Eigentumswohnung. Als er nach B versetzt wurde, erwarb er dort eine neue Eigentumswohnung und vermietete die Eigentumswohnung in A. Im Streitjahr 1976 begann er in C mit dem Bau eines Zweifamilienhauses, in das er im Oktober 1977 mit seiner Familie einzog. Seit 1977 ist auch die Eigentumswohnung in B vermietet.

Für den Bau des Zweifamilienhauses nahm der Kläger Kredite in Anspruch, für die er im Streitjahr Zinsen und Finanzierungskosten in Höhe von 7.149 DM aufwandte. Außerdem zahlte er Prämien für eine Risikolebensversicherung in Höhe von 325,86 DM, welche die Bausparkasse als Sicherheit für das Darlehen gefordert hatte. Hiervon berücksichtigte er in der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr lediglich die Versicherungsbeiträge als Sonderausgaben. Die Zinsen und Kapitalkosten machte er unter "Gebühren und Zinsen für Bauspardarlehen vor Bezugsfertigkeit" bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung in der Einkommensteuererklärung für das Folgejahr 1977 geltend. Als der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) Belege über die Höhe der 1977 für das Zweifamilienhaus aufgewandten Schuldzinsen anforderte, beantragte er (hilfsweise), den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr zu ändern, und die Werbungskostenüberschüsse bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung um den Betrag von 7.149 DM zu erhöhen. Er habe die Zinsen und Kapitalkosten in der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr nicht angegeben, weil er in diesem Jahr aus seinem Haus noch keine Einnahmen erzielt und angenommen habe, ohne Mieteinnahmen sei ein Werbungskostenabzug nicht möglich. Weder aus den Steuererklärungsvordrucken noch aus sonstigen Hinweisen, etwa aus Broschüren der Bausparkassen, sei Gegenteiliges zu entnehmen gewesen. Das FA lehnte den Änderungsantrag ab.

Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage wurde vom Finanzgericht (FG) als unbegründet abgewiesen. Denn der Kläger habe keinen Anspruch auf Erteilung eines geänderten Bescheides. Die Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) seien nicht erfüllt. Zwar habe das FA nachträglich von den steuermindernden Werbungskosten bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung erfahren. Diesen Umstand habe der Kläger jedoch unter Verletzung seiner Mitwirkungspflichten im Besteuerungsverfahren grob schuldhaft verursacht.

Zu der Verpflichtung, vollständige Angaben in der Steuererklärung zu machen, gehöre auch die zeitliche Zuordnung des Erklärten. Der Steuerpflichtige müsse also prüfen, ob die Einnahmen und Ausgaben, die er in die Steuererklärung eingetragen habe, in den Veranlagungszeitraum gehörten, für den er seine Erklärung abgebe. Die sorgfältige Erledigung dieser Verpflichtung sei dem Kläger zuzumuten gewesen. Als Jurist, der nach eigenen Angaben seine Steuererklärungen seit 20 Jahren selbst erstelle, seien ihm das Zu- und Abflußprinzip und das Prinzip der Abschnittsbesteuerung bekannt gewesen. Soweit aus den Akten feststellbar, habe er nämlich stets seine Einkünfte in die richtigen Veranlagungszeiträume (Kalenderjahre) einordnen können. So habe er auch die Lebensversicherungsprämien, die er im Streitjahr, also im Jahr vor dem Einzug in das Zweifamilienhaus, im Zusammenhang mit der Finanzierung dieses Hauses gezahlt habe, folgerichtig 1976 als Sonderausgaben abgezogen. Wie sich aus der Anlage "Gebühren und Zinsen für Bauspardarlehen" zu seiner Einkommensteuererklärung für das Jahr 1977 ergebe, habe er auch gewußt, daß Zinsen und sonstige Geldbeschaffungskosten bereits als Werbungskosten abziehbar seien, bevor ein Haus bezugsfertig geworden sei. Daß damit nicht der Abzug sämtlicher vorweggenommener Werbungskosten - unter Umständen aus mehreren Jahren- im Jahr des Einzugs gemeint sein könne, habe sich ihm - in Verbindung mit dem Prinzip der Abschnittsbesteuerung - aufdrängen müssen. Unter diesen Umständen habe der Kläger unentschuldbar leichtfertig gehandelt, wenn er die Zweifelsfrage, ob er Zinsen für einen Hausbau, sobald sie entstanden seien oder erst, wenn Mieteinnahmen anfallen, steuerlich geltend machen könne, einfach im zweiten Sinn entschieden habe und danach verfahren sei. Ein sorgfältiger Steuerpflichtiger hätte zumindest dem FA die Tatsachen zur Entscheidung vorgelegt.

Ob der Kläger die zeitgerechte Zuordnung seiner Werbungskosten aus den Anleitungen zur Steuererklärung hätte entnehmen können und müssen, könne unter diesen Umständen dahinstehen.

Mit der hiergegen vom erkennenden Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das FG habe ihm das gebotene rechtliche Gehör (§ 119 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung - FGO -) dadurch nicht gewährt, daß es, ohne ihn zu informieren, die Steuerakten für das Streitjahr und das Folgejahr 1977 beigezogen und hieraus Schlußfolgerungen zu seinen Lasten gezogen habe, zu denen er sich nicht habe äußern können.

Ferner habe das FG den Begriff der groben Fahrlässigkeit unzutreffend ausgelegt.

Das FG habe des weiteren zu Unrecht offengelassen, ob er die zeitgerechte Zuordnung seiner Werbungskosten aus den Anleitungen zur Steuererklärung hätte entnehmen können und müssen. Denn er habe mit der Klage geltend gemacht, sein Irrtum sei durch den Inhalt der Einkommensteuererklärungsformulare verursacht worden, wie näher ausgeführt wird.

Entgegen der Annahme des FG habe er das Zu- und Abflußprinzip nicht gekannt. Außerdem habe dieses Prinzip so viele Ausnahmen, daß ihm kein Vorwurf zu machen sei, wenn er im konkreten Einzelfall einen Ausnahmetatbestand angenommen habe. Im Rahmen der bisherigen Veranlagungen zur Einkommensteuer sei bei ihm noch nie die Fallgestaltung aufgetaucht, daß er bei einer bestimmten Einkunftsart Werbungskosten, aber erst im folgenden Kalenderjahr "Einkünfte" gehabt habe.

Der Kläger beantragt, zum Teil sinngemäß, unter Aufhebung des FG-Urteils und der Einspruchsentscheidung das FA zu verpflichten, den Einkommensteuerbescheid für 1976 vom 5. September 1978 dahingehend zu ändern, daß die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung auf ./. 10.235 DM festgesetzt werden.

Das FA hat zur Revision nicht Stellung genommen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 sind Steuerbescheide zugunsten des Steuerpflichtigen aufzuheben oder zu ändern, soweit nachträglich Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen, und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, daß die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. Das FG ist zwar zutreffend davon ausgegangen, daß dem FA nachträglich, nämlich nach der Durchführung der Einkommensteuerveranlagung 1976 Tatsachen, hier das Vorhandensein von Schuldzinsen als vorab entstandene Werbungskosten bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung, bekannt geworden sind, die zu einer niedrigeren Einkommensteuer geführt hätten. Die Ausführungen des FG zum Begriff des groben Verschuldens im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 sind aber teilweise nicht frei von Rechtsirrtum. Außerdem reichen seine tatsächlichen Feststellungen nicht aus, um die Frage abschließend beurteilen zu können, ob den Kläger bei dem von ihm geltend gemachten Rechtsirrtum ein grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden der Schuldzinsen trifft.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) seit dem Urteil vom 3. Februar 1983 IV R 153/80 (BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324) hängt das Verschulden des Beteiligten von seinen persönlichen Umständen und Fähigkeiten ab. Grobes Verschulden setzt die Annahme von Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit voraus, die gegeben ist, wenn der Beteiligte die ihm persönlich zuzumutende Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt (vgl. noch Urteile vom 28. Juni 1983 VIII R 37/81, BFHE 139, 8, BStBl II 1984, 2, und vom 29. Juni 1984 VI R 181/80, BFHE 141, 232, BStBl II 1984, 693). Ein grobes Verschulden kann auch vorliegen, wenn der Steuerpflichtige seiner Erklärungspflicht unzureichend nachkommt, indem er unzutreffende oder unvollständige Angaben macht (BFH-Urteil vom 28. März 1985 IV R 159/82, BFHE 144, 521, BStBl II 1986, 120, Ziff. 2 der Gründe). Denn der Steuerpflichtige hat gemäß § 150 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 die Angaben in der Steuererklärung nach bestem Wissen und Gewissen zu machen. Um die Steuererklärung vollständig und wahrheitsgemäß abgeben zu können, muß er das Erklärungsformular gewissenhaft durchlesen. Er handelt nach dem Urteil in BFHE 141, 232, BStBl II 1984, 693 jedenfalls dann regelmäßig grob schuldhaft, wenn er eine im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte, auf einen ganz bestimmten Vorgang bezogene Frage nicht beachtet.

Hinsichtlich der Sachverhaltswürdigung ist es zwar im wesentlichen Tatfrage, ob sich ein Beteiligter unter den gegebenen Verhältnissen grob fahrlässig verhalten hat. Die hierzu getroffenen Feststellungen des FG können jedoch nach ständiger Rechtsprechung - abgesehen von zulässigen und begründeten Verfahrensrügen- in der Revisionsinstanz daraufhin überprüft werden, ob der Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit und die aus ihm abzuleitenden Sorgfaltspflichten richtig erkannt worden sind und ob die Würdigung der Umstände hinsichtlich des individuellen Verschuldens den Denkgesetzen und Erfahrungssätzen entspricht (vgl. BFH-Urteil vom 26. August 1987 I R 144/86, BFHE 151, 299, BStBl II 1988, 109, Ziff. II c aa der Gründe).

Hiernach kann das FG-Urteil keinen Bestand haben. Das FG hat zu hohe Anforderungen an die aus dem Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit abzuleitenden Sorgfaltspflichten gestellt. Der erkennende Senat geht mit der herrschenden Meinung im Schrifttum und ständigen Verwaltungspraxis davon aus, daß allein mangelnde steuerrechtliche Kenntnisse eines Steuerpflichtigen ohne einschlägige Ausbildung den Vorwurf grober Fahrlässigkeit nicht begründen (vgl. z.B. von Wallis in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 173 AO 1977 Anm. 43; Klein/Orlopp, Abgabenordnung, 3. Aufl., § 173 Anm. 14 S. 431; Förster in Koch, Abgabenordnung, 3. Aufl., § 173 Rz. 21; Kühn/Kutter/Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., § 173 AO 1977 Anm. 6 a S. 477; Schwarz/Frotscher, Abgabenordnung, § 173 Anm. 13 a S. 44; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 173 AO 1977 Tz. 31, sowie Einführungserlaß des Bundesministers der Finanzen zur AO 1977 vom 1. Oktober 1976, IV A 7 - S 0015 - 30/76, BStBl I 1976, 576, und dessen Anwendungserlaß zur AO 1977 (AEAO) vom 24. September 1987 IV A 5 - S 0062 - 38/87, BStBl I 1987, 664, zu § 173 Nr. 4 Satz 4). Wenn das FG demgegenüber aus der Position des Klägers als "Berufsjurist" folgert, daß ihm die einkommensteuerrechtliche Abziehbarkeit vorab entstandener Schuldzinsen im Jahr der Zahlung hätte bekannt sein müssen, verkennt es, daß solche Kenntnisse nur von Rechtskundigen erwartet werden können, die auf dem Gebiete des Steuerrechts tätig oder hierfür vorgebildet sind. Das FG hat jedoch nicht festgestellt, daß dies beim Kläger zuträfe.

Soweit sich das FG darauf stützt, daß der Kläger seine Steuererklärungen seit langem selbst fertige, ergibt sich hieraus ebenfalls nicht seine Kenntnis oder sein Wissenmüssen hinsichtlich dieser Art von Werbungskosten. In diesem Zusammenhang ist es rechtsunerheblich, daß der Kläger die geleisteten Sonderausgaben zutreffend für das Jahr der Zahlung geltend gemacht hat. Sonderausgaben sind schon dann abziehbar, soweit überhaupt Einkommen erzielt wurde, ohne daß es darauf ankommt, aus welchen Einkunftsarten es stammt.

Es bedarf keiner Entscheidung, ob das FG das Verhalten des Klägers im Rahmen der Einkommensteuererklärung für das Folgejahr 1977 berücksichtigen durfte, ohne ihn zuvor auf diesen rechtlichen Gesichtspunkt hingewiesen zu haben. Denn es kommt hierauf nicht an. Daß der Kläger in der Einkommensteuererklärung für 1977 auch Schuldzinsen für den Zeitraum vor Bezugsfertigkeit des Hauses geltend gemacht hat, läßt nicht die Schlußfolgerung zu, ihm sei die Abziehbarkeit auch in einem dem Jahr des Einzugs vorangegangenen Veranlagungszeitraum bekannt gewesen.

Die Annahme grober Fahrlässigkeit durch das FG ist auch nicht deshalb begründet, weil der Kläger an seiner irrigen einkommensteuerrechtlichen Wertung des Sachverhalts hätte zweifeln und ihn deshalb dem FA unterbreiten müssen. Der Senat läßt dahingestellt, ob und ggf. inwieweit eine solche Pflicht überhaupt besteht; im Schrifttum herrscht die Auffassung, daß der Steuerpflichtige grundsätzlich nicht gehalten sei, von rechtskundigen Dritten Rat und Hilfe einzuholen (Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., Anm. 44 a, und Tipke/Kruse, a.a.O., und § 150 AO 1977 Tz. 3 S. 17). Denn jedenfalls setzt der Vorwurf grober Fahrlässigkeit insoweit voraus, daß sich dem Kläger Zweifel aufgedrängt haben oder hätten aufdrängen müssen. Hierfür fehlen jedoch ebenfalls tatsächliche Feststellungen. Das FG hat die Frage, ob der vom Kläger geltend gemachte Irrtum durch die Fassung der Steuererklärungsformulare veranlaßt worden sein könnte, ausdrücklich offengelassen.

Die Sache ist nicht spruchreif, da das FG noch nicht geklärt hat, ob und ggf. weshalb der Kläger dem geltend gemachten Irrtum unterlegen ist. Soweit der Kläger bestreitet, die amtlichen Erläuterungen zur Einkommensteuererklärung 1976 erhalten zu haben, könnte von Bedeutung sein, ob er diese bereits vor der Abgabe der Steuererklärung hätte nachfordern können und sollen und ob ihm nicht möglicherweise gleichlautende Erläuterungen für die Vorjahre oder das Folgejahr vorgelegen haben. Außerdem erscheint entscheidungserheblich, ob der Kläger bereits vor dem Streitjahr mit dieser oder einer ähnlichen Fallgestaltung befaßt gewesen ist oder ob er durch vergleichbare Fehler in den Steuererklärungen für vorangegangene Jahre zu besonderer Vorsicht hätte veranlaßt sein müssen.

Die Sache geht daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurück.